Entscheidungsstichwort (Thema)
Vollzeittätigkeiten. Verweisung auf tariflich nicht erfaßte Tätigkeiten
Orientierungssatz
1. Spricht nicht eine tarifvertragliche Regelung für ein ausreichendes Angebot an Arbeitsplätzen, so besteht umso eher Anlaß, die Frage zu prüfen, ob die dem Gesundheitszustand des Versicherten entsprechenden Arbeitsplätze nicht nur in so geringer Zahl vorhanden sind, daß sie praktisch nicht ins Gewicht fallen und ob ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist.
2. Sobald das Ausmaß und die Vielfalt der körperlichen und geistigen Funktionsausfälle es fraglich erscheinen lassen, ob Vollzeittätigkeiten unter den in Betrieben in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen verrichtet werden können, sind Feststellungen hinsichtlich der in Betracht kommenden Arbeitsplätze nach Art und hinreichender Zahl zu treffen. Nur so läßt sich in solchen Fällen, die bei der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit erhebliche Frage beantworten, ob die dem Versicherten gesundheitlich noch möglichen Tätigkeiten ihm gestatten, Erwerbseinkommen zu erzielen (vgl BSG vom 1976-12-10 GS 2/75 = BSGE 43, 75).
3. Auszuscheiden haben für eine Verweisung solche Arbeitsplätze, die speziell zu dem Zwecke geschaffen worden sind, Angehörige des eigenen Unternehmens unterzubringen, die für ihren eigentlichen Beruf untauglich geworden sind (vgl BSG vom 1968-03-14 5 RKn 123/65 = SozR Nr 22 zu § 46 RKG).
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 04.07.1978; Aktenzeichen L 6 Ar 555/77) |
SG Augsburg (Entscheidung vom 11.08.1977; Aktenzeichen S 8 Ar - Jt 43/76) |
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit zu gewähren ist.
Der im Jahre 1921 geborene Kläger war in der Bundesrepublik Deutschland vom 3. Juni 1960 bis zum 3. November 1972 als ungelernter Arbeiter versicherungspflichtig beschäftigt. Seinen Rentenantrag vom 23. Juni 1975 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 5. Dezember 1975 ab.
Das Sozialgericht (SG) hat dem Kläger wegen der versäumten Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt und die Beklagte verpflichtet, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit ab Beginn der 27. Woche nach Eintritt des Versicherungsfalles bis zum 31. Dezember 1978 zu gewähren (Urteil vom 11. August 1977). Auf die dagegen eingelegte Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 4. Juli 1978). Dem Kläger sei vom SG wegen der Fristversäumnis rechtswirksam Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt worden. Er sei jedoch weder berufs- noch erwerbsunfähig iS der §§ 1246, 1247 Reichsversicherungsordnung (RVO). Er sei noch in der Lage, täglich acht Stunden lang leichte Arbeiten zu verrichten, insbesondere solche, die an einer Stelle ausgeführt werden könnten, nur grobes räumliches Sehen erforderten und bei denen kein großes Arbeitsfeld überblickt werden müsse. Zusätzlich solle die Beleuchtung des Arbeitsplatzes ausreichend und blendungsfrei sein. Als ungelernter Arbeiter müsse der Kläger sich auf Tätigkeiten als Werkzeugausgeber, Waschraumwärter, Packer von Kleinteilen oder als Magazinarbeiter verweisen lassen. Denkbar seien auch Arbeitsmöglichkeiten in der elektrotechnischen Fertigung, in der Spielwarenfertigung, beim Apparatebau, bei Sortierarbeiten sowie beim Bedienen halbautomatischer Stanzen.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom Senat zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung der §§ 1246, 1247 RVO sowie des § 128 Abs 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Aufgrund der Beweisaufnahme habe das Berufungsgericht davon ausgehen müssen, daß er Vollzeittätigkeiten nur noch unter nicht betriebsüblichen Arbeitsbedingungen verrichten könne. Rein vorsorglich rüge er, daß die entgegenstehenden Feststellungen des LSG unter Verletzung des § 128 Abs 1 SGG zustandegekommen seien, da sie eindeutig den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen widersprächen. Vorsorglich werde ferner gerügt, daß er hierauf vor Erlaß des Urteils nicht hingewiesen worden sei (§ 128 Abs 2 SGG). Da er nur noch unter betriebsunüblichen Bedingungen an einem Arbeitsplatz eingesetzt werden könne, stehe ihm nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (Urteil vom 27. Mai 1977 - 5 RJ 28/76 -) ein Rentenanspruch zu. Im übrigen solle gerade sein Fall dem Bundessozialgericht (BSG) Veranlassung bieten, seine Rechtsprechung zu den §§ 1246, 1247 RVO zu überdenken, denn das Abgrenzungskriterium "vollschichtig - unter vollschichtig" sei für die Praxis denkbar ungeeignet. Auch die geforderte Überprüfung der Verweisungsberufe an Hand von Tarifverträgen stelle sich als Sackgasse dar. Die Nahtlosigkeit zwischen Arbeitsverwaltung und Rentenversicherung müsse stärker betont werden.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen LSG vom 4.Juli 1978
aufzuheben und die Berufung der Beklagten
zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen wird (§ 170 Abs 2 SGG). Die Tatsachenfeststellungen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.
Materiell-rechtlich hat das Berufungsgericht § 1246 Abs 2 RVO unrichtig angewendet. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl BSGE 44, 39 = SozR 2200 § 1246 Nr 19), der sich der 4. Senat des BSG angeschlossen hat (vgl BSG in SozR aaO Nrn 22 und 30 mwN) kann zwar auf Vollzeittätigkeiten die Rechtsprechung des Großen Senats des BSG zur Frage, ob der Arbeitsmarkt für Teilzeitkräfte offen oder verschlossen ist (vgl BSGE 43, 75 = SozR aaO Nr 13 mwN), grundsätzlich nicht angewendet werden. Dabei ist davon auszugehen, daß es grundsätzlich für jede Tätigkeit in hinreichender Zahl Arbeitsplätze - seien sie offen oder besetzt - jedenfalls dann gibt, wenn sie von Tarifverträgen erfaßt sind.
Das LSG hat jedoch ausgeführt, die von ihm beigezogenen Tarifunterlagen enthielten keine Hinweise auf Magazinarbeiten, Sortierarbeiten, Verpackarbeiten oder Arbeiten in der Werkzeugausgabe, obwohl es diese Arbeiten, auf die der Kläger verwiesen worden ist, nicht nur gelegentlich gebe. Die darin enthaltenen Tatsachenfeststellungen sind von der Revision nicht angegriffen worden und daher für den Senat bindend (§ 163 SGG).Demnach hat das LSG nicht auf Tätigkeiten verwiesen, die von Tarifverträgen erfaßt sind. Das Berufungsgericht ist anhand seiner Ermittlungen zu der Überzeugung gelangt, Tarifverträge gäben nur in ganz beschränktem Umfang Aufschluß darüber, ob zumutbare Arbeiten vorhanden seien. Wenn es gleichwohl Feststellungen zur Zahl der tariflich erfaßten Tätigkeiten nicht für notwendig hielt, so befand es sich nicht damit in Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des BSG.
Ausnahmen von dem Grundsatz, wonach sich bei Vollzeittätigkeiten normalerweise Feststellungen zur Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze erübrigen, hat der Senat bereits aufgezeigt für Fälle, in denen der Versicherte die Vollzeittätigkeit nicht mehr unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes verrichten, den Weg zur Arbeitsstätte nicht zurücklegen kann (vgl BSGE 44, aa0 40) oder eine in einem Tarifvertrag einheitlich behandelte Tätigkeit unterschiedlich Anforderungen an die körperliche Leistungsfähigkeit stellt (so BSG in SozR 2600 § 45 Nr 19; vgl auch Urteil des Senats vom 12. September 1980 - 5 RJ 98/78 -). Diese Ausnahmen gelten selbst für Vollzeittätigkeiten, die von Tarifverträgen erfaßt sind. Zunächst ist also festzustellen, ob der Versicherte überhaupt unter den in Betrieben üblichen Bedingungen des Arbeitslebens eingesetzt werden kann. Zu einer solchen Prüfung besteht insbesondere dann Veranlassung, wenn beim Versicherten mehrere für das Arbeitsleben vielfach notwendige körperliche und geistige Funktionen beeinträchtigt sind. Spricht nach den Feststellungen des Tatsachengerichts zudem nicht eine tarifvertragliche Regelung für ein ausreichendes Angebot an Arbeitsplätzen, so besteht umso eher Anlaß, die Frage zu prüfen, ob die dem Gesundheitszustand des Versicherten entsprechenden Arbeitsplätze nicht nur in so geringer Zahl vorhanden sind, daß sie praktisch nicht ins Gewicht fallen und ob ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist.
Nach den Feststellungen des LSG ist die Einsatzfähigkeit des Klägers im Erwerbsleben auch für leichte Arbeiten in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt: Keine schweren und mittelschweren Arbeiten ohne Gehen, kein häufiges Heben und Tragen von Lasten ohne mechanische Hilfsmittel, kein Bücken, Treppen- oder Leiternsteigen; zu meiden sind Kälte, Hitze, starke Temperaturschwankungen, Zugluft, Nässe, Staub, Dampf, Rauch und andere Reizstoffe; kein Zeitdruck, keine Akkord- oder Fließbandarbeiten; ohne besondere Anforderungen an das Sehvermögen wegen des Zustandes nach Operation des Grauen Stars. Die Beeinträchtigungen im Bereich des Sehvermögens haben weiter erhöhtes Unfallrisiko zur Folge, eine Blendungsempfindlichkeit und eine Einschränkung des Gesichtsfeldes.
Sobald - wie im Falle des Klägers - das Ausmaß und die Vielfalt der körperlichen und geistigen Funktionsausfälle es fraglich erscheinen lassen, ob Vollzeittätigkeiten unter den in Betrieben in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen verrichtet werden können, sind Feststellungen hinsichtlich der in Betracht kommenden Arbeitsplätze nach Art und hinreichender Zahl zu treffen. Nur so läßt sich in solchen Fällen die bei der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit erhebliche Frage beantworten, ob die dem Versicherten gesundheitlich noch möglichen Tätigkeiten ihm gestatten, Erwerbseinkommen zu erzielen (vgl BSGE 43, aaO 79).
Das LSG wird daher Feststellungen darüber nachzuholen haben, ob es für den Kläger während der streitigen Zeit bei seinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen Arbeitsplätze - besetzt oder unbesetzt - nicht nur in so geringer Zahl gab, daß sie praktisch nicht ins Gewicht fielen. Auszuscheiden haben für eine Verweisung solche Arbeitsplätze, die speziell zu dem Zwecke geschaffen worden sind, Angehörige des eigenen Unternehmens unterzubringen, die für ihren eigentlichen Beruf untauglich geworden sind (vgl BSG in SozR Nr 22 zu 46 Reichsknappschaftsgesetz -RKG-).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen