Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesonderte Prüfung der Statthaftigkeit der Berufung bei mehreren prozessualen Ansprüchen
Leitsatz (amtlich)
Ist der Bescheid über die Rücknahme eines Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit mit einem Bescheid über die Rückerstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen verbunden, so ist die Berufung hinsichtlich des Rücknahmebescheides nicht zulässig (Anschluß an BSG 30.5.1985 11a RA 66/84 = SozR 1500 § 146 Nr 18 und 11.7.1985 5b RJ 80/84).
Orientierungssatz
1. Die Zulässigkeit der Berufung bei mehreren in einem Bescheid verbundenen (hier: Rücknahme der Entscheidung über die Bewilligung des Kindergeldes mit rückwirkender Ablehnung des Kindergeldantrags einerseits und die Entscheidung über die Rückzahlungspflicht andererseits) und dementsprechend in einer Klage zusammengefaßten Ansprüchen ist für jeden Anspruch gesondert zu beurteilen (vgl BSG vom 30.5.1985 11a RA 66/84 aaO und vom 11.7.1985 5b RJ 80/84). Eine Ausnahme kommt nur in Betracht, wenn zwei Ansprüche derart voneinander abhängen, daß einer der beiden Ansprüche präjudiziell für den anderen und die Berufung nur für den präjudiziellen Anspruch statthaft ist. Die Berufung ist dann auch für den abhängigen Anspruch trotz Vorliegens eines Berufungsausschlusses zulässig (vgl BSG 7.12.1977 1 RA 97/76 = SozR 1500 § 146 Nr 4). Hieraus läßt sich aber nicht der Umkehrschluß ziehen, die Berufung sei für den abhängigen Anspruch statthaft, obwohl sie für den vorrangigen Anspruch ausgeschlossen ist (BSG aaO). Vorrangiger Entscheidungsgegenstand ist hier der Leistungsanspruch, während die Rückerstattungsentscheidung die abhängige Rechtsfolge regelt.
2. Der Umstand, daß der Gesetzgeber im Rahmen der Neuregelung der Rücknahme- und Rückzahlungsentscheidungen solche Tatbestandsmerkmale, die die Rückzahlungspflicht einschränkten (§ 13 Nr 1 und 2 BKGG in der bis zum 31.12. 1980 geltenden Fassung der Bekanntmachung des BKGG vom 31.1.1975 - BGBl I 1975, 412 -), in den Bereich der Zulässigkeit der Rücknahme (vor-)verlegt (§ 48 Abs 1 SGB 10) und damit eine "Gewichtsverlagerung" herbeigeführt hat, kann nicht dazu führen, die rückwirkende Aufhebung der Leistungsbewilligung und die Rückforderung der erbrachten Leistung nunmehr als einen einheitlichen Verfügungssatz anzusehen oder § 27 Abs 2 BKGG entgegen seinem Wortlaut auszulegen und die bisherige Rechtsprechung des BSG zum Ausschluß der Berufung in den Fällen der Rücknahme eines begünstigenden und die Leistung ablehnenden Verwaltungsaktes aufzugeben (vgl BSG vom 30.5.1985 und 11.7.1985).
Normenkette
SGB 10 § 48 Abs 1 S 2 Nr 2, § 50 Abs 1; BKGG § 27 Abs 2; SGG § 149
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 14.12.1984; Aktenzeichen L 1 Kg 20/84) |
SG Lüneburg (Entscheidung vom 21.03.1984; Aktenzeichen S 7 Kg 12/83) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte zu Recht gemäß § 48 Abs 1 Nr 2 des Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsverfahren (SGB X) Bewilligungsentscheidungen über die Gewährung des Kindergeldes an den Kläger zurückgenommen und gemäß § 50 Abs 1 SGB X Kindergeldleistungen in Höhe von 65.205,- DM zurückgefordert hat.
Der Kläger hat seit 1969 für seine insgesamt fünf Kinder jeweils in gesetzlicher Höhe Kindergeld bezogen. Seit September 1974 war er als Klärwärter bei der Samtgemeinde H im öffentlichen Dienst beschäftigt. Auch von dieser hat er gemäß § 45 Abs 1 Nr 3a des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) Kindergeld bzw Kinderzuschläge zu seinen Dienstbezügen erhalten. Dies hat der Kläger der Beklagten nicht angezeigt.
Auf eine im Februar 1983 erfolgte Mitteilung der Samtgemeinde H stellte die Beklagte die Kindergeldzahlung Ende Februar 1983 ein. Mit dem Bescheid vom 1. März 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. März 1983 hob sie die Kindergeldbewilligung gemäß § 48 Abs 1 Nr 2 SGB X rückwirkend für die Zeit ab Oktober 1974 auf. Zugleich forderte sie mit diesen Bescheiden das während der Zeit von Oktober 1974 bis Februar 1983 gezahlte Kindergeld im Gesamtbetrage von 65.205,- DM gemäß § 50 Abs 1 SGB X zurück.
Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hat die Klage, die sich gegen die Aufhebung der Kindergeldbewilligung bis einschließlich März 1983 und die Rückforderung richtete, abgewiesen und den Kläger dahin belehrt, daß die Berufung zulässig sei. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat die Berufung als unzulässig verworfen, soweit sie die Klage gegen den Aufhebungsbescheid betraf. Insoweit sei das Rechtsmittel gemäß § 27 Abs 2 BKGG grundsätzlich ausgeschlossen und im Falle des Klägers auch nicht ausnahmsweise gemäß § 150 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft. Aus dem Umstand, daß die Berufung bezüglich des Rückforderungsanspruches nicht nach §§ 144 ff SGG ausgeschlossen sei, folge nicht die Zulässigkeit des Rechtsmittels, soweit das erstinstanzliche Urteil über die Rechtmäßigkeit des Rücknahmebescheides entschieden habe. Nur die Berufungsfähigkeit eines präjudiziellen Anspruches eröffne die Berufung auch für den abhängigen Anspruch. Hier sei aber der umgekehrte Fall gegeben, daß die Berufung für den präjudiziellen Anspruch ausgeschlossen sei. Hinsichtlich des Rückforderungsanspruches sei die Berufung angesichts der rechtskräftig gewordenen Aufhebung des Bewilligungsbescheides unbegründet.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers, die er mit einem Verstoß des LSG gegen § 149 SGG begründet. Nach der Zielsetzung dieser Vorschrift sei das Rechtsmittel der Berufung grundsätzlich statthaft, wenn der Beschwerdewert 1.000,- DM übersteigt. Dies werde nicht erreicht, wenn im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit der Berufung die Entscheidungen über die Rücknahme des Bewilligungsbescheides und über die Rückforderung der gezahlten Leistungen als zwei eigenständige Verwaltungsakte behandelt würden. Im Ergebnis stehe dem Betroffenen dann in Fällen dieser Art nur eine Instanz zur Verfügung. Darüber hinaus liege ein Verstoß gegen § 48 Abs 1 Nr 2 SGB X vor, weil nicht geprüft worden sei, ob der Kläger sich grob fahrlässig verhalten habe.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. Dezember 1984, das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 21. März 1984 und den Bescheid der Beklagten vom 1. März 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. März 1983 aufzuheben.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt; sie hat jedoch auf zwei in der rechtlichen Beurteilung abweichende Entscheidungen des Bayerischen LSG und des LSG Baden-Württemberg hingewiesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das LSG hat seine Berufung zu Recht als unzulässig verworfen, soweit sie die Rechtmäßigkeit des Rücknahmebescheides und die Ablehnung der Leistung für die Vergangenheit betrifft und das Rechtsmittel als unbegründet zurückgewiesen, soweit die Rückforderung des gezahlten Kindergeldes Gegenstand der angefochtenen Bescheide ist.
Entgegen der von der Revision vertretenen Auffassung ist davon auszugehen, daß Gegenstand des Klagebegehrens nicht ein einheitlicher Streitgegenstand ist, sondern daß in dem angefochtenen Bescheid zwei rechtlich selbständige Verwaltungsakte (Verfügungssätze) zusammengefaßt sind: Der Verfügungssatz über die Rücknahme der Entscheidung über die Bewilligung des Kindergeldes mit rückwirkender Ablehnung des Kindergeldantrages ab September 1974 einerseits und die Entscheidung über die Rückzahlungspflicht des Klägers andererseits (BSGE 6, 11, 15; SozR 1500 § 146 Nr 9; Urteil vom 30.5.1985 - 11a RA 66/84 - SozR 1500 § 146 Nr 18; ständige Rechtsprechung des BSG; vgl zur Rechtsentwicklung auch Keßler, SGb 1985, 182, 185; vgl ferner die Differenzierung in § 50 Abs 3 Satz 2 SGB X, der im rechtlichen Ansatz ebenfalls die Eigenständigkeit beider Entscheidungen zugrunde liegt).
Die Zulässigkeit der Berufung bei mehreren in einem Bescheid verbundenen und dementsprechend in einer Klage zusammengefaßten Ansprüchen ist für jeden Anspruch gesondert zu beurteilen (BSG SozR 1500 § 146 Nrn 2, 9, 14 mwN; vgl zuletzt Urteile des BSG vom 30.5.1985 aa0 und vom 11.7.1985 - 5b RJ 80/84 -, zur Veröffentlichung bestimmt). Eine Ausnahme kommt nur in Betracht, wenn zwei Ansprüche derart voneinander abhängen, daß einer der beiden Ansprüche präjudiziell für den anderen und die Berufung nur für den präjudiziellen Anspruch statthaft ist. Die Berufung ist dann auch für den abhängigen Anspruch trotz Vorliegens eines Berufungsausschlusses zulässig (BSG SozR 1500 § 146 Nrn 4, 14 mwN). Hieraus läßt sich aber nicht der Umkehrschluß ziehen, die Berufung sei für den abhängigen Anspruch statthaft, obwohl sie für den vorrangigen Anspruch ausgeschlossen ist (BSG aa0). Vorrangiger Entscheidungsgegenstand ist, worauf bereits das LSG zutreffend hingewiesen hat, hier der Leistungsanspruch, während die Rückerstattungsentscheidung die abhängige Rechtsfolge regelt.
Das LSG hat auch zutreffend herausgestellt, daß diese Rechtslage sich entgegen der von einzelnen Landessozialgerichten (LSG Baden- Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 1982 - L 9 Kg 834/80 -; Bayerisches LSG, Urteil vom 11. November 1983 - L 4 Kg 31/82 -, Breithaupt 1984, 1017) vertretenen Ansicht durch das Inkrafttreten des ersten und zweiten Kapitels des SGB X am 1. Januar 1981 nicht geändert hat. Die gegenteilige Auffassung wird damit begründet, die Berufung betreffe wegen der mit der Aufhebung der früheren Bewilligung und der rückwirkenden Ablehnung der Leistung notwendigerweise verbundenen Rückforderung gemäß § 50 Abs 1 SGB X entgegen dem Wortlaut des § 27 Abs 2 BKGG einen Fall des § 149 SGG; andernfalls sei diese Vorschrift in Fällen dieser Art "praktisch funktionslos". Mit dieser Auslegung wird, wie bereits der 11a-Senat des Bundessozialgerichts -BSG- (Urteil vom 30. Mai 1985 aa0) und der 5b-Senat des BSG (Urteil vom 11. Juli 1985 aa0) zutreffend herausgestellt haben, der Normgehalt der Vorschrift des § 149 SGG unzulässigerweise nicht nur auf die die Rückzahlung einer zu Unrecht empfangenen Leistung betreffenden Tatbestandsmerkmale erstreckt, sondern auch auf die die Rechtmäßigkeit der Rücknahme der Leistungsbewilligung sowie einzelne anspruchsbegründende Merkmale ausgedehnt, für deren Prüfung der Gesetzgeber von jeher nur die erste Instanz eröffnet hat. Der Umstand, daß der Gesetzgeber im Rahmen der Neuregelung der Rücknahme- und Rückzahlungsentscheidungen solche Tatbestandsmerkmale, die die Rückzahlungspflicht einschränkten (§ 13 Nrn 1 und 2 BKGG in der bis zum 31. Dezember 1980 geltenden Fassung der Bekanntmachung des BKGG vom 31. Januar 1975 -BGBl I 412-), in den Bereich der Zulässigkeit der Rücknahme (vor-)verlegt (§ 48 Abs 1 SGB 10) und damit eine "Gewichtsverlagerung" (5b-Senat des BSG, Urteil vom 11. Juli 1985 aa0) herbeigeführt hat, kann nicht dazu führen, die rückwirkende Aufhebung der Leistungsbewilligung und die Rückforderung der erbrachten Leistung nunmehr als einen einheitlichen Verfügungssatz anzusehen oder § 27 Abs 2 BKGG entgegen seinem Wortlaut auszulegen und die bisherige Rechtsprechung des BSG zum Ausschluß der Berufung in den Fällen der Rücknahme eines begünstigenden und die Leistung ablehnenden Verwaltungsaktes aufzugeben (ebenso: 11a-Senat des BSG, SozR 1500 § 146 Nr 18 sowie 5b-Senat des BSG aa0 zu §§ 146, 149 SGG).
Daß der Gesetzgeber dem Betroffenen in Fällen des § 27 Abs 2 BKGG ohne Rücksicht auf die Höhe des Anspruches nur die erste Instanz zur Verfügung stellt, kann - wie auch in den Fällen der §§ 145, 146, 148 SGG - bei hohen Streitwerten zu Härten führen; gerade der Fall des Klägers, in dem der Leistungs- und Rückforderungswert mehr als 60.000,- DM beträgt, läßt den Gedanken aufkommen, daß die gesetzliche Regelung der Berufungsausschließungsgründe reformbedürftig ist (vgl dazu auch Keßler aa0). Da die geltende gesetzliche Regelung aber auf einer entsprechenden Konzeption des Gesetzgebers und nicht auf einer unerkannt gebliebenen Regelungslücke im Gesetz beruht, ist der Senat nicht befugt, im Wege der richterlichen Lückenfüllung die gesetzliche Regelung des § 27 Abs 2 BKGG dahin zu erweitern, daß die Berufung in solchen Fällen insgesamt statthaft ist, in denen eine 1000,- DM übersteigende Leistung unter Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes mit der Folge abgelehnt wird, daß sich hieran nach § 50 SGB X eine Rückforderung in entsprechender Höhe anschließt. Das LSG hat deshalb die Berufung bezüglich des mit der Rücknahme des Leistungsbewilligungsaktes verbundenen Leistungsablehnungsbescheides zutreffend als ausgeschlossen angesehen. Ebenso zutreffend hat es in der fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung und im SG-Urteil nicht eine das LSG bindende Zulassungsentscheidung des SG iS des § 150 Nr 1 SGG gesehen (BSGE 5, 92, 95). Da es auch zutreffend den Zulässigkeitsgrund iS des § 150 Nr 2 SGG verneint hat und der Zulässigkeitsgrund des § 150 Nr 3 SGG von vornherein entfällt, hat es die Berufung bezüglich des Leistungsanspruches fehlerfrei als unzulässig verworfen.
Bezüglich des Rückzahlungsanspruches hat das LSG die Berufung zu Recht in der Sache entschieden; insbesondere ist das Rechtsmittel insoweit im Hinblick auf den 1.000,- DM übersteigenden Rückerstattungsbetrag nicht nach § 149 SGG ausgeschlossen. Das LSG hat die Berufung jedoch insoweit richtig als unbegründet zurückgewiesen. Da die Rückzahlungspflicht des Klägers gemäß § 50 Abs 1 SGB X nur davon abhängt, daß der Leistungsverwaltungsakt wirksam aufgehoben und die Klage gegen den aufhebenden Verwaltungsakt abgewiesen ist, war auch der Rückforderungsbescheid sachlich zutreffend. Besondere Tatumstände, die die Rückforderung als unzulässige Rechtsausübung erscheinen lassen, hat der Kläger nicht geltend gemacht und das LSG nicht festgestellt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen