Entscheidungsstichwort (Thema)
Stationäre Behandlung. Gang zur Krankenhauskapelle. Gefahr des Krankenhausaufenthalts
Orientierungssatz
Bei Verrichtungen, die wesentlich allein den von der stationären Behandlung unabhängigen privaten Interessen der Versicherten dienen, besteht nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO grundsätzlich kein Versicherungsschutz. Auch bei privaten Verrichtungen ist aber Versicherungsschutz gegeben, wenn für den Unfall besondere, mit dem fremden Aufenthalt verbundene Gefahrenmomente wirksam geworden sind (vgl BSG 26.3.1986 2 RU 32/85 = BAGUV RdSchr 53/86).
Normenkette
RVO § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a, § 548 Abs 1 S 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 05.03.1986; Aktenzeichen L 2 U 1035/84) |
SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 29.01.1985; Aktenzeichen S 12 U 1289/84) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Unfall der Klägerin im Sanatorium M St. A in B P-G am 30. November 1983 ein Arbeitsunfall war. Sozialgericht (SG; Urteil vom 29. Januar 1985) und Landessozialgericht (LSG; Urteil vom 5. März 1986) haben dies angenommen. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Klägerin wurde wegen eines Nierensteinleidens sowie wegen eines Erschöpfungszustandes vom Träger der gesetzlichen Krankenversicherung stationäre Behandlung gewährt. Am Unfalltag war in dem Kurheim, das ein betont christliches Gepräge hat, ein Gottesdienst in der hauseigenen Kapelle angesetzt. Auf dem von der Klägerin gewählten unüblichen ("Durchgang auf eigene Gefahr") Weg dorthin übersah sie eine Treppenstufe und kam zu Fall. Am Tage nach dem Unfall stellte der Chefarzt eines Krankenhauses folgende Diagnose: "Fersenbeinbruch rechts, Außenknöchelbruch rechts, Prellungen und Stauchungen beiderseits am Rippenbogen, an der linken Ferse wie am rechten Kniegelenk, Schürfwunde".
Durch ihren Bescheid vom 26. April 1984 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung ab, die Klägerin sei auf einem zum persönlichen Lebensbereich gehörigen Weg verunglückt, welcher mit der versicherten Tätigkeit in keinem rechtlich wesentlichen Ursachenzusammenhang gestanden habe.
Das SG hat demgegenüber entschieden, daß der Besuch des Gottesdienstes dem Zwecke der Heilbehandlung dienlich gewesen sei; jedenfalls hätte die Klägerin, welche erst seit wenigen Monaten Witwe war, hiervon ausgehen können. Auch wenn der Besuch des Gottesdienstes als zum privaten Lebensbereich der Klägerin gehörend angesehen werden müsse, sei doch der Weg dorthin nach dem Zweck des § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a Reichsversicherungsordnung (RVO) versichert gewesen. Die Klägerin sei wegen fehlender Vertrautheit mit der ungewohnten Umgebung gestürzt.
Das LSG hat einen rechtlich wesentlichen Zusammenhang zwischen dem Gottesdienstbesuch und dem Sanatoriumsaufenthalt in der "Kureinrichtung christlich-katholischer Prägung" bejaht. Es habe sich dabei um eine der konkreten Behandlung dienliche Tätigkeit gehandelt. Das SG habe die Beklagte daher zu Recht dem Grunde nach zur Zahlung von Verletztendauerrente verurteilt.
Im Revisionsverfahren vertritt die Beklagte die Auffassung, daß die Klägerin keinen typischen "Stationierungsschaden" erlitten habe. Nur ein solcher sei nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO versichert; sie sei vielmehr "allein infolge der Unkenntnis oder Ungewohntheit der Räume gestürzt". Ob der Gottesdienstbesuch als der Behandlung dienliche Tätigkeit angesehen werden dürfe, sei zweifelhaft.
Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung der beiden vorinstanziellen Entscheidungen die Klage abzuweisen, hilfsweise aber die Sache gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Nach ihrer Überzeugung zeigt schon der Zusammenhang von Einweisungsdiagnose und dem besonderen Gepräge des Sanatoriums, daß der Gottesdienstbesuch nicht lediglich als eigenwirtschaftliche Betätigung angesehen werden kann.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung an das LSG begründet; denn dieses Gericht hat keine ausreichenden Feststellungen über die Schwere der Folgen des Unfalles am 30. November 1983 getroffen.
Der Klägerin wurde in dem Mütterkurheim St. Anna auf Kosten des Trägers der gesetzlichen Krankenversicherung stationäre Heilbehandlung iS von § 559 RVO gewährt. Dies hat das LSG eingehend und überzeugend dargelegt und folgt ua aus der oben wiedergegebenen Einweisungsdiagnose. Daher gehörte sie während dieser Zeit zu den nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO iVm § 559 RVO gegen Arbeitsunfall versicherten Personen. Der Versicherungsschutz erstreckt sich nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO auf Unfälle, die sich bei der stationären Behandlung ereignen, die also in sachlichem Zusammenhang mit ihr stehen. Grundlage des Versicherungsschutzes ist - anders als die Beklagte annimmt - vor allem der Wille des Gesetzgebers, die Versicherten gegen die durch das Verweilen in fremder Umgebung sich ergebenden besonderen Risiken zu schützen (s ua BSGE 46, 283, 285; 55, 10, 12; BSG SozR 2200 § 539 Nr 56 sowie Urteil vom heutigen Tage - 2 RU 10/86 -).
Bei Verrichtungen, die wesentlich allein den von der stationären Behandlung unabhängigen privaten Interessen der Versicherten dienen, besteht nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO grundsätzlich kein Versicherungsschutz (s BSG SozR 2200 § 539 Nrn 48, 72, 84; BSG USK 79245; zuletzt Urteil vom 26. März 1986 - 2 RU 32/85 -). Der Senat kann hier offenlassen, ob der beabsichtigte Gottesdienstbesuch der Klägerin trotz des Gepräges des Kurheimes und ihrer besonderen körperlichen und nervlichen Verfassung als nur ihren persönlichen Interessen dienend anzusehen ist; denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kann auch bei privaten Verrichtungen Versicherungsschutz gegeben sein. Das ist der Fall, wenn - wie hier - für den Unfall besondere, mit dem fremden Aufenthalt verbundene Gefahrenmomente wirksam geworden sind (BSG SozR 2200 § 539 Nr 72; BSG Urteil vom 22. November 1984 - 2 RU 43/83, vom 29. Januar 1986 - 9b RU 18/85 - und vom 26. März 1986 - 2 RU 32/85 -; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 481a; Gitter SGb 1982, 221).
In solchen Fällen ist Versicherungsschutz ähnlich wie auf Dienst- und Geschäftsreisen gegeben, weil die ungewohnten äußeren Lebensumstände während einer stationären Behandlung in den privaten Bereich der Versicherten hineinwirken können (Nachweis bei Brackmann aaO S 481 u). Im vorliegenden Falle wählte die Klägerin "auf eigene Gefahr" einen Weg zur Krankenhauskapelle, welcher hinter Türen gelegene Treppen aufwies. Der damit verbundenen Gefahr, welche bereits durch die entsprechende Bezeichnung von der Kurheimverwaltung deutlich gemacht ist, ist die Klägerin nach den unangefochtenen Feststellungen des LSG erlegen. Da auch ein unerwünschtes oder sogar verbotswidriges Handeln nach § 548 Abs 3 RVO die Annahme eines Arbeitsunfalles nicht ausschließt, ist im vorliegenden Falle davon auszugehen, daß die Klägerin ihren Unfall infolge der von ihr nicht wahrgenommenen Gefahren in den ihr nicht ausreichend vertrauten Baulichkeiten des Kurheimes erlitt. Eben auf solche besonderen Unfallgefahren erstreckt sich, wie dargelegt, der Schutz des § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO. Die Klägerin hat einen Arbeitsunfall erlitten.
Dennoch mußte die Revision im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG Erfolg haben. Der richterliche Ausspruch im angefochtenen Urteil betrifft nach den Darlegungen auf S 7 die Gewährung von Verletztenrente dem Grunde nach. Ein solches Grundurteil setzt voraus, daß die Folgen des Unfalles der Klägerin - hier: auf durch Urteil nicht begrenzte Zeit - ihre Erwerbsfähigkeit in gesetzlichem Ausmaß - mindestens entweder um ein Fünftel (§ 581 Abs 1 Nr 2 RVO) oder um ein Zehntel (§ 581 Abs 3 RVO) - mindern. Hierzu enthält das angefochtene Urteil keine ausreichenden Feststellungen. Die in ihm enthaltene Bezeichnung der Unfallfolgen (S 2) entstand am Tage nach dem Unfall und gibt nach Meinung des erkennenden Senats keine ausreichende Grundlage für die Beurteilung der Frage, ob und wie lange ggf die Erwerbsfähigkeit der Klägerin durch die Folgen ihres Arbeitsunfalls wahrscheinlich in rentenberechtigendem Ausmaß gemindert ist oder war (s BSGE 13, 178, 181; Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl, § 130 RdNr 2). Diese Prüfung hat das LSG noch nachzuholen. Es hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen