Entscheidungsstichwort (Thema)

Geschiedenenwitwenrente. Unterhaltsanspruch nach Billigkeit

 

Orientierungssatz

1. Der einem Versicherten für seine geschiedene Frau und Ehefrau zur Verfügung stehende Betrag für deren Unterhalt ist nach Billigkeit zu verteilen und nicht schematisch zu halbieren (vgl OLG München 11.3.1954 1 U 719/53 = FamRZ 1954, 257).

2. Ein Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente der früheren Frau besteht, wenn der nach Billigkeit verteilte Unterhaltsbetrag 25 vH des maßgebenden Regelsatzes nach dem BSHG erreicht.

 

Normenkette

RKG § 65 S 1; RVO § 1265 S 1; EheG § 59 Abs 1; BSHG

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 16.04.1985; Aktenzeichen L 15 Kn 137/83)

SG Dortmund (Entscheidung vom 07.10.1983; Aktenzeichen S 23 Kn 175/81)

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Geschiedenenwitwenrente.

Die Klägerin war von 1958 bis 1974 mit dem Versicherten A. L. verheiratet. Die Ehe wurde aus Verschulden des Versicherten geschieden. Aus der Ehe sind sieben Kinder hervorgegangen, die zur Zeit der Scheidung noch minderjährig waren und weiter im Haushalt der Klägerin lebten. Mit der Beigeladenen war der Versicherte seit April 1976 verheiratet. Aus dieser Ehe ist ein Kind hervorgegangen. Seit 1963 bezog der Versicherte eine Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Im Oktober 1980 verstarb er. Zu dieser Zeit waren aus erster Ehe noch fünf Kinder minderjährig. Die Rente betrug 1.919,60 DM, davon 810,60 Rente für den Kläger, der Rest Kinderzuschüsse und Kindergeldausgleichsbeträge. Die Klägerin bezog Sozialhilfe. Der Regelsatz betrug im Jahre 1980 310,00 DM pro Monat. Der Kinderzuschuß sowie der anteilige Kindergeldausgleichsbetrag für die Kinder aus erster Ehe wurden abgezweigt und unmittelbar dem Sozialhilfeträger überwiesen.

Den Antrag der Klägerin auf Geschiedenenwitwenrente lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 25. November 1980; Widerspruchsbescheid vom 27. April 1981). Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente zu gewähren (Urteil vom 7. Oktober 1983). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat im wesentlichen ausgeführt: Der notwendige eigene Unterhalt des Versicherten habe bei 660,00 DM pro Monat als unterster Grenze gelegen. Für die Unterhaltsansprüche der Beigeladenen und der Klägerin seien nach Abzug der Beträge für die Kinder und des notdürftigen Selbstbehaltes des Versicherten noch 150,60 DM verblieben. Verteile man diesen Betrag auf die Frauen beider Ehen, so entfielen auf die Klägerin 75,30 DM, also weniger als 25 vH des Regelsatzes (77,50 DM) nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG).

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 65 Satz 1 Reichsknappschaftsgesetz (RKG).

Sie beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten und der Beigeladenen gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 7. Oktober 1983 zurückzuweisen.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen, die Revision gegen das angefochtene Urteil zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet. Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente zu.

Gemäß § 65 Satz 1 RKG wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten vor dem 1. Juli 1977 geschieden worden ist, nach dem Tod des Versicherten Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tod Unterhalt geleistet hat. Wie das LSG festgestellt hat, hat der Versicherte der Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tod keinen Unterhalt geleistet. Er war jedoch verpflichtet, der Klägerin einen Unterhaltsbetrag zu gewähren, der 25 vH des Regelsatzes der Sozialhilfe ohne die Kosten der Unterkunft überschritt. Im Sinne des § 65 RKG (§ 1265 Reichsversicherungsordnung -RVO-) ist Unterhalt nur ein Betrag, der diese Mindesthöhe erreicht (BSGE 53, 256 = SozR 2200 § 1265 Nr 63).

Das LSG hat festgestellt, daß der Regelsatz nach dem BSHG im Todesjahr des Versicherten für die Klägerin 310,00 DM betrug. Im Sinne des § 65 Satz 1 RKG hatte sie dann einen Unterhaltsanspruch, wenn sie von dem Versicherten monatlich wenigstens 77,50 DM zu erhalten hatte. Das ist selbst angesichts der geringen Leistungsfähigkeit des Versicherten der Fall gewesen.

Da die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten vor dem 1. Juli 1977 geschieden worden war, richtete sich der Unterhaltsanspruch der Klägerin nach dem Ehegesetz 1946 (EheG) (Art 12 Nr 3 Abs 2, Nr 13 des Ersten Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts vom 14. Juni 1976, BGBl I 1421, 1462). Gemäß § 58 Abs 1 EheG hatte der schuldig geschiedene Mann der geschiedenen Frau Unterhalt zu gewähren. Nach § 59 Abs 1 EheG galt allerdings: Würde der allein oder überwiegend für schuldig erklärte Ehegatte durch Gewährung des in § 58 bestimmten Unterhalts bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen den eigenen angemessenen Unterhalt gefährdet haben, so hatte er nur soviel zu leisten, als der Billigkeit entsprach. An Einkünften hatte der Versicherte, wie das LSG festgestellt hat, nur seine Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit, wobei die hierzu gezahlten Kinderzuschüsse und Kindergeldausgleichsbeträge außer Betracht bleiben müssen. Soweit es sich um die Beträge handelt, die schon von der Beklagten abgezweigt und an den Sozialhilfeträger überwiesen worden waren, standen sie ihm von vornherein nicht für Zwecke der Unterhaltszahlung an die Klägerin zur Verfügung. Aber auch soweit der Kläger Leistungen für sein Kind aus zweiter Ehe erhielt - das waren nach den Feststellungen des LSG 154,50 DM und 30,40 DM, zusammen also 184,90 DM - hatte er mit diesem Geld zunächst seine Unterhaltsverpflichtungen gegenüber diesem Kind zu erfüllen. Denn kindbezogene Leistungen sind, wie das LSG zu Recht ausgeführt hat, zweckgebundene Mittel, die nur zum Unterhalt der Kinder, nicht aber für den Unterhalt des Versicherten selbst, seiner Ehefrau oder seiner geschiedenen Ehefrau verwendet werden dürfen (vgl hierzu BSGE 57, 127 = SozR 1200 § 48 Nr 9; BSGE 19, 241, 243 = SozR Nr 7 zu § 1262 RVO; BSG SozR 2200 § 1262 Nr 14 S 42; Nr 26 S 66; BSGE 49, 243, 245 = SozR 2200 § 205 Nr 32 S 76 ff). Dem Versicherten blieben daher vor seinem Tode zur Deckung seines Unterhaltes, des Unterhaltes seiner Frau und des Unterhaltes seiner geschiedenen Ehefrau nur die 810,60 DM die er ohne kindbezogene Leistungen monatlich erhielt.

Das LSG hat zu Recht ausgeführt, daß ihm mindestens soviel verbleiben mußte, daß er nicht selbst sozialhilfebedürftig wurde. Es hat diesen Betrag mit 660,00 DM monatlich angegeben. Im Jahre 1980, dem Todesjahr des Versicherten, wurden von verschiedenen Oberlandesgerichten (OLG) die Beträge, die der nicht erwerbstätige Unterhaltspflichtige gegenüber dem geschiedenen Berechtigten für sich selbst zurückbehalten durfte (Selbstbehalt) wie folgt angesetzt: OLG Düsseldorf: 750,00 DM (NJW 1980, 108), OLG Hamm: 750,00 DM (NJW 1980, 110), OLG Bremen: 850,00 DM (NJW 1980, 112), OLG Schleswig: 1.000,00 DM (NJW 1980, 755), OLG Köln: 750,00 DM (NJW 1980, 1273). Der Senat ist jedoch der Auffassung, daß unter Berücksichtigung der hier vorliegenden besonderen Verhältnisse der Versicherte nicht mehr als 660,00 DM für sich selbst zurückbehalten durfte. Denn wenn sich der Unterhalt der geschiedenen Frau nach § 59 des EheG bemißt und die Leistungsfähigkeit des Mannes - wie hier - bereits durch minderjährige Kinder eingeschränkt ist, hat dem Versicherten nur der zur Bestreitung des eigenen notdürftigen Unterhalts erforderliche Betrag zu verbleiben (BSG SozR Nr 15 zu § 1265 RVO). Daran ändert auch die vom LSG angeführte Haftungsvorschrift des § 63 EheG nichts. Diese ist nämlich - wie sich aus § 61 Abs 2 EheG ergibt - bei dem "Unterhaltsanspruch nach Billigkeit" lediglich dann zusätzlich zu berücksichtigen, wenn die Ehe - anders als im vorliegenden Fall - ohne Schuldausspruch geschieden wurde.

Der Ehefrau und der geschiedenen Frau des Versicherten standen somit monatlich noch 150,60 DM zur Verfügung. Nach dem damals geltenden Recht ging - wie sich aus § 59 Abs 1 Satz 2 EheG ergibt - die geschiedene Frau der Ehefrau nicht vor. Zum Teil wurde sogar die Meinung vertreten, die Lebensfähigkeit der neuen Ehe gehe dem Unterhaltsanspruch der geschiedenen Frau vor, so daß auf jeden Fall der notdürftige Unterhalt der zweiten Ehefrau sichergestellt sein müsse, bevor die geschiedene Frau etwas zu erhalten habe (vgl LG Köln in NJW 53, 305). Demgegenüber bestand die Meinung, der für beide (erste und zweite Ehefrau) zur Verfügung stehende Betrag sei nach Billigkeit zu verteilen (OLG München in FamRZ 1954, 257 = NJW 54, 1730). Dieser Ansicht folgt der Senat. Denn angesichts der 1976 vom Gesetzgeber gefällten Wertentscheidung, den Unterhaltsanspruch der ersten Ehefrau dem der zweiten Ehefrau grundsätzlich vorgehen zu lassen (§ 1582 BGB neuen Rechts), ist der Auffassung der Vorzug zu geben, die nach altem Recht eine Entscheidung nach Billigkeit vorsieht, also auch eine stärkere Berücksichtigung der ersten Ehefrau zuläßt. Dann darf aber nicht - wie das LSG meint - der zur Verfügung stehende Betrag von monatlich 150,60 DM zwischen der Klägerin und der Beigeladenen schematisch halbiert werden. Denn es kann im Rahmen der Billigkeit nicht unberücksichtigt bleiben, daß von den sieben Kindern der Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten noch fünf minderjährig waren. Ihr war deshalb eine eigene Erwerbstätigkeit für ihren Lebensunterhalt keinesfalls zumutbar, was im Falle der Beigeladenen mit nur einem minderjährigen Kind nicht zutrifft. Auch wenn der beiden Frauen zur Verfügung stehende Betrag ohnehin unzureichend war, ist dieser besonderen Belastung der Klägerin im Rahmen der Verteilung nach Billigkeit Rechnung zu tragen. In welchem Verhältnis die 150,60 DM im einzelnen zwischen der Klägerin und der Beigeladenen aufzuteilen waren, kann dabei dahinstehen. Da der Klägerin jedenfalls mehr als die Hälfte zustand, hatte sie von dem Versicherten einen Unterhaltsbetrag zu erhalten, der 25 vH des vom LSG festgestellten maßgebenden Regelsatzes nach dem BSHG (77,50 DM) allemal erreichte und sogar überschritt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662862

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