Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Arbeitsunfall. Betriebsweg. häusliche Arbeitsstätte. sachlicher Zusammenhang. objektivierte Handlungstendenz. Abwägung aller Indizien im Einzelfall. Abwägungsausfall. keine Bindung des Revisionsgerichts. Versicherteneigenschaft als Wie-Unternehmer. Subsumtionsschluss des LSG. Fehlen von bindenden Tatsachenfeststellungen. Zurückverweisung
Leitsatz (amtlich)
Die Objektivierung der Handlungstendenz als innere Haupttatsache setzt voraus, dass alle nach Lage des Einzelfalls als Hilfstatsachen (Indizien) in Betracht kommenden Umstände festgestellt, in eine Gesamtschau eingestellt sowie nachvollziehbar und widerspruchsfrei unter- und gegeneinander abgewogen werden.
Orientierungssatz
1. Fehlt die Abwägung der für und gegen die betriebsbezogene Handlungstendenz sprechenden Indizien komplett, liegt ein Abwägungsausfall vor, der die grundsätzliche Bindung des Revisionsgerichts an eine festgestellte Haupttatsache ausnahmsweise entfallen lässt.
2. Bei der Feststellung eines Arbeitsunfalls im häuslichen Bereich ist nicht mehr vorrangig auf die - quantitativ zu bestimmende - Häufigkeit der betrieblichen oder privaten Nutzung des konkreten Unfallorts abzustellen, sondern ausschlaggebend die objektivierte Handlungstendenz des Versicherten, eine dem Unternehmen dienende Tätigkeit ausüben zu wollen (Weiterführung von BSG vom 5.7.2016 - B 2 U 5/15 R = BSGE 122, 1 = SozR 4-2700 § 2 Nr 35).
3. Aus reinen Subsumtionsschlüssen des LSG ergeben sich keine für das BSG bindende Tatsachenfeststellungen (hier: zu den Tatumständen, die die Versicherteneigenschaft des Klägers als Wie-Unternehmer begründen könnten).
Normenkette
SGB VII § 8 Abs. 1 S. 1, § 2 Abs. 1 Nr. 1, § 6 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1-2; SGG § 128 Abs. 1 S. 1, § 163 Hs. 1, § 170 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 11. Januar 2017 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger am 28.4.2012 einen Arbeitsunfall erlitten hat.
Der Kläger ist Gesellschafter-Geschäftsführer einer Unternehmerin, die ein Versicherungsmaklerbüro betreibt. Die Geschäftsräume liegen im 1. OG eines sechsstöckigen Mehrfamilienhauses, in dessen 5. OG der Kläger wohnt. Alle Stockwerke sind über ein gemeinsames Treppenhaus verbunden, zudem ist ein Aufzug vorhanden. Im Kellergeschoss befinden sich ua die Serveranlage und das Archiv der Unternehmerin sowie ein privates Kellerabteil des Klägers. Die Geschäftsräume werden im Schnitt pro Tag 10-15 Mal von Kunden besucht, die die Haustreppe im Treppenhaus benutzen. Am Unfalltag führte der Kläger nach Rückkehr von einem auswärtigen Geschäftstermin gegen 0 Uhr ein größeres Software-Update mit Datensicherungsmaßnahmen durch. Dazu musste er zwischen dem Computer, der im 1. OG in den Büroräumen steht, und dem im Kellergeschoss befindlichen Serverraum hin- und hergehen, um den Vorgang und seinen Ablauf zu überwachen. Auf einem der Wege vom Serverraum im Kellergeschoss zum Büro im 1. OG stürzte er am 28.4.2012 nachts gegen 1.30 Uhr auf der Haustreppe und zog sich dabei eine Kahnbeinfraktur links zu.
Die Beklagte lehnte es ab, Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen UV zu erbringen (Bescheid vom 5.6.2012 und Widerspruchsbescheid vom 22.11.2012). Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 9.7.2015): Bei Unfällen in Räumen bzw auf Treppen, die weder eindeutig der Privatwohnung noch der Betriebsstätte zugeordnet werden könnten, sei darauf abzustellen, ob der Unfallort auch Betriebszwecken (wesentlich) diene. Dabei seien immer die Umstände des Einzelfalls einzubeziehen. Bei wertender Betrachtung sei der Treppenabschnitt, auf dem sich der Sturz ereignet habe, kein Teil des Gebäudes, der rechtlich wesentlich den Zwecken des Unternehmens diene. Das Treppenhaus stehe allen Bewohnern des Hauses auch für rein private Tätigkeiten zur Verfügung. Allein auf die konkrete Nutzung zum Unfallzeitpunkt abzustellen, erscheine im Interesse einer möglichst einheitlichen Bewertung nicht sachgerecht.
Das LSG hat die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung (§ 153 Abs 2 SGG) zurückgewiesen und ergänzend ausgeführt (Urteil vom 11.1.2017): Der Kläger sei zwar auf einem Weg gestürzt, der in sachlichem Zusammenhang mit seiner versicherten Tätigkeit gestanden habe. Nach seiner objektivierten Handlungstendenz sei er im unmittelbaren Betriebsinteresse tätig gewesen, als er den Weg vom Serverraum im Keller zu den Büro- und Geschäftsräumen im 1. OG zurückgelegt habe, weil dies für das Software-Update geboten gewesen sei. Verunglücke der Versicherte aber in einem Gebäude, in dem sich Arbeitsstätte und Wohnung befänden, so bestehe Versicherungsschutz nach der Rechtsprechung des BSG nur dann, wenn der Unfallort (Räume, Treppen) - unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls - Betriebszwecken des Unternehmens wesentlich diene und nicht dem rein persönlichen Lebensbereich zuzuordnen sei.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 8 Abs 1 SGB VII: Das LSG verkenne, dass er sich als Beschäftigter iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII verletzt habe. Denn er sei in Ausübung der aus dem Anstellungsverhältnis mit der Unternehmerin folgenden Vertragspflicht verunglückt, deren Daten zu sichern. Unabhängig davon habe er sich im Unfallzeitpunkt auf einem Betriebsweg befunden. Er, die sonstigen Angestellten der Unternehmerin und deren Kunden nutzten die Treppe täglich, sodass die betriebliche Nutzung eine gewisse Häufigkeit erreiche. Entscheidend sei, dass er im Unfallzeitpunkt mit der Verrichtung einer beruflichen Tätigkeit beschäftigt gewesen sei und nach seiner objektivierten Handlungstendenz im unmittelbaren Betriebsinteresse gehandelt habe.
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Der Kläger beantragt, |
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die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 11. Januar 2017 und des Sozialgerichts Mainz vom 9. Juli 2015 sowie den Bescheid der Beklagten vom 5. Juni 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. November 2012 aufzuheben und festzustellen, dass der Unfall vom 28. April 2012 ein Arbeitsunfall war. |
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Die Beklagte beantragt, |
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die Revision zurückzuweisen. |
Der Gang auf der Treppe eines Mehrfamilienhauses in der Nacht zum Sonntag um 1.30 Uhr weise keinerlei Bezug zur versicherten Tätigkeit als Gesellschafter-Geschäftsführer eines Versicherungsmaklerbüros auf. Soweit das LSG davon ausgehe, der Kläger habe die Treppe in der Absicht benutzt, Datensicherungsmaßnahmen in der Firma durchzuführen, fehle es an der Objektivierung dieser Intention. Denn der Unfall habe sich auf einem Weg ereignet, der sowohl ins Büro als auch in die Privatwohnung führe, an einem Ort, der überwiegend nicht Betriebszwecken diene, und zu einer Zeit, die jenseits jeglicher Geschäftszeiten liege. Der Kläger sei auch nicht auf einem Betriebsweg verunglückt, weil die Treppe nicht wesentlich dem Betrieb, sondern vielmehr der Hausgemeinschaft diene. Es liege auch kein Wegeunfall nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII vor, weil der Kläger die Außentür des Hauses nicht durchschritten habe.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 S 1 und S 2 SGG). Die dem Berufungsurteil zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen (§ 163 Halbs 1 SGG) reichen nicht aus, um abschließend zu entscheiden, ob der Kläger als Versicherter einen Arbeitsunfall gemäß § 8 Abs 1 SGB VII erlitten und das SG damit die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 Var 1, § 55 Abs 1 Nr 1, § 56 SGG) zu Unrecht abgewiesen hat.
Nach § 8 Abs 1 S 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind nach § 8 Abs 1 S 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Ein Arbeitsunfall setzt daher voraus, dass der Verletzte durch eine Verrichtung vor dem fraglichen Unfallereignis den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt hat und deshalb "Versicherter" ist. Die Verrichtung muss ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis und dadurch einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht haben (Unfallkausalität und haftungsbegründende Kausalität; stRspr, vgl zuletzt BSG vom 19.6.2018 - B 2 U 2/17 R - ≪SozR vorgesehen≫ = Juris RdNr 13; BSG vom 5.7.2016 - B 2 U 5/15 R - BSGE 122, 1 = SozR 4-2700 § 2 Nr 35, RdNr 13 - "Sturz beim Wasserholen"; BSG vom 17.12.2015 - B 2 U 8/14 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 55 RdNr 9; BSG vom 26.6.2014 - B 2 U 7/13 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 53 RdNr 11; BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 3/13 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 50 RdNr 10 und - B 2 U 12/12 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 49 RdNr 14; BSG vom 18.6.2013 - B 2 U 10/12 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 47 RdNr 12; BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 20; BSG vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 26 f). Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, lässt sich anhand der tatrichterlichen Feststellungen nicht entscheiden. Zwar hat der Kläger einen Unfall erlitten (dazu 1.). Das LSG hat die Feststellung eines Arbeitsunfalls auch zu Unrecht mit der Begründung verneint, die öffentlich zugängliche Treppe habe dem Unternehmen bzw seinen Betriebszwecken nicht wesentlich gedient (dazu 2.). Das Urteil des LSG enthält jedoch weder ausreichende Feststellungen zum sachlichen Zusammenhang zwischen einer mutmaßlich versicherten Tätigkeit und dem Zurücklegen des konkreten Weges (dazu 3.) noch zur Versicherteneigenschaft des Klägers (dazu 4.), sodass insoweit eine geeignete Grundlage für die rechtliche Nachprüfung durch den Senat fehlt. Das angefochtene Urteil muss daher aufgehoben und die Sache an das LSG zurückverwiesen werden.
1. Der Kläger hat einen "Unfall" erlitten, als er nach den nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsgründen angegriffenen und damit insoweit bindenden tatsächlichen Feststellungen in dem Urteil des LSG (§ 163 SGG) am Samstag, den 28.4.2012 um 1.30 Uhr aus dem Kellergeschoss kommend auf der Haustreppe zum 1. OG stürzte und sich dabei eine Kahnbeinfraktur links zuzog.
2. Die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls iS des § 8 Abs 1 SGB VII durfte das LSG aber nicht schon deshalb verneinen, weil die öffentlich zugängliche Treppe dem Unternehmen bzw seinen Betriebszwecken nicht wesentlich diente. Zwar hat der Senat in seiner früheren Rechtsprechung auf das Kriterium der "objektiven" Nutzungshäufigkeit des Unfallorts abgestellt, in diesem Zusammenhang aber bereits auf rechtliche Schwierigkeiten in zwei Fallgruppen hingewiesen: Neben der - hier nicht einschlägigen - Fallgestaltung der Unfälle, die durch eine Rufbereitschaft und die damit verbundene Notwendigkeit, sofort zu handeln, geprägt sind (BSG vom 12.12.2006 - B 2 U 28/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 20 RdNr 15 ff und 18 ff, jeweils mit zahlreichen Nachweisen), stellt sich die Konstellation als problematisch dar, in der Unfälle sich in Räumen oder auf Treppen ereignen, die weder eindeutig der Privatwohnung noch der Betriebsstätte zugeordnet werden können. Der Senat hatte schon damals Zweifel geäußert, ob an der Rechtsprechung, die zur Feststellung eines versicherten Betriebswegs im häuslichen Bereich am Ausmaß der Nutzung des konkreten Unfallorts anknüpft, festgehalten werden kann (s BSG vom 5.7.2016 - B 2 U 5/15 R - BSGE 122, 1 = SozR 4-2700 § 2 Nr 35, RdNr 24 - "Sturz beim Wasserholen"). Mit Urteil vom 31.8.2017 (B 2 U 9/16 R - BSGE 124, 93 = SozR 4-2700 § 8 Nr 63 - "Friseurmeisterin" mit Anm Schütz, NZS 2018, 374 f; Hlava, jurisPR-SozR 14/2018 Anm 4), das weder SG noch LSG berücksichtigen konnten, hat der Senat seine Rechtsprechung dahingehend konkretisiert, dass bei der Feststellung eines Arbeitsunfalls im häuslichen Bereich künftig die objektivierte Handlungstendenz des Versicherten, eine dem Unternehmen dienende Tätigkeit ausüben zu wollen, den Ausschlag gibt und nicht mehr vorrangig auf die - quantitativ zu bestimmende - Häufigkeit der betrieblichen oder privaten Nutzung des konkreten Unfallorts abzustellen ist, also auf eine wie auch immer geartete objektive "Widmung" der jeweiligen Räumlichkeiten oder die Häufigkeit bzw das Ausmaß der "betrieblichen" Nutzung des konkreten Unfallortes (zur Ablösung des ausschließlich räumlichen Ansatzes vgl auch Ricke, WzS 2017, 9, 13; Spellbrink, NZS 2016, 527, 530; ders, MedSach 2018, 164, 168). Steht damit fest, dass die Vorinstanz § 8 Abs 1 S 1 SGB VII unrichtig angewendet hat, kann anhand der tatrichterlichen Feststellungen aber nicht entschieden werden, ob das angefochtene Urteil auf dieser Gesetzesverletzung beruht (§ 162 Halbs 1 SGG) oder sich aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 170 Abs 1 S 2 SGG).
3. Ob der Weg, auf dem der Kläger gestürzt ist, im unmittelbaren Unternehmensinteresse zurückgelegt wurde und deswegen als sog Betriebsweg im sachlichen Zusammenhang mit der (mutmaßlich) versicherten Tätigkeit stand, bestimmt sich somit in erster Linie nach der objektivierten Handlungstendenz des Versicherten, also danach, ob dieser bei der zum Unfallereignis führenden Verrichtung eine dem Unternehmen dienende Tätigkeit (subjektiv) ausüben wollte und diese innere (Haupt-)Tatsache durch die objektiven Umstände des Einzelfalls zur Überzeugung des Tatrichters im Vollbeweis bestätigt wird. Zur Objektivierung der Handlungstendenz sind stets alle Umstände des Einzelfalles (vgl auch das Parallelurteil des Senats vom heutigen Tage, BSG vom 27.11.2018 - B 2 U 28/17 R - "Telefonanruf" sowie vom 12.12.2006 - B 2 U 28/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 20 RdNr 18), insbesondere der Unfallzeitpunkt, der konkrete Ort des Unfallgeschehens sowie dessen objektive Zweckbestimmung, als äußere Indizien (Hilfstatsachen) zu berücksichtigen (BSG vom 31.8.2017 - B 2 U 9/16 R - BSGE 124, 93 = SozR 4-2700 § 8 Nr 63, RdNr 17 - "Friseurmeisterin"). Dabei hat der Senat bereits darauf hingewiesen (BSG, aaO), dass im häuslichen Bereich die Beweisführung hinsichtlich der Handlungstendenz und die entsprechende Überprüfung klägerseitiger Angaben besonders schwierig sein kann, weil der Kreis der "unternehmensdienlichen" Verrichtungen gerade bei Selbstständigen sowie bei abhängig Beschäftigten, die im "Home Office" tätig sind, typischerweise mit weiten Teilen des Privatlebens verwoben ist (vgl nur BSG vom 31.5.1988 - 2/9b RU 16/87 - SozR 2200 § 548 Nr 90; BSG vom 4.6.2002 - B 2 U 24/01 R - Juris RdNr 15; vgl auch Spellbrink, MedSach 2018, 164, 168 zur notwendigen einheitlichen Betrachtungsweise von abhängig Beschäftigten und Selbstständigen im Home Office). Nichts anderes gilt für Personen, die in Kapitalgesellschaften regelmäßig wie Unternehmer selbstständig tätig sind.
Die Objektivierung der Handlungstendenz als innerer Haupttatsache setzt voraus, dass alle nach Lage des Einzelfalls als Hilfstatsachen (Indizien) in Betracht kommenden Umstände festgestellt, in eine Gesamtschau eingestellt sowie nachvollziehbar und widerspruchsfrei unter- und gegeneinander abgewogen werden. Das Berufungsgericht hat indes nur das Vorliegen der Haupttatsache isoliert bejaht, indem es apodiktisch festgestellt hat, der Kläger sei "in einem unmittelbaren Betriebsinteresse tätig" gewesen, "als er auf der Haustreppe hinstürzte" und habe "den Weg vom Serverraum im Keller zu seinen Büro- und Geschäftsräumen im ersten Obergeschoss zurückgelegt, weil dies für die Durchführung des Softwareupdates seiner Betriebssoftware geboten war". Es hat jedoch versäumt, unter Feststellung aller Hilfstatsachen den Abwägungsvorgang darzustellen, dessen Ergebnis - aus Sicht des Tatrichters - den Schluss auf die Haupttatsache erst zulässt und deren bindende Feststellung (§ 163 Halbs 1 SGG) rechtfertigt.Der Tatrichter ist grundsätzlich darin frei, welche Beweiskraft er den festgestellten Indizien im Einzelnen und in einer Gesamtschau für seine Überzeugungsbildung beimisst (BGH vom 22.1.1991 - VI ZR 97/90 - NJW 1991, 1894, 1895 und vom 13.7.2004 - VI ZR 136/03 - NJW 2004, 3423, 3424; Heßler in Zöller, ZPO, 32. Aufl 2018, § 546 RdNr 13), sodass die revisionsgerichtliche Prüfung auf den Abwägungsvorgang und das Auffinden entscheidungserheblicher Abwägungsfehler beschränkt ist, dh, ob eine Abwägung gänzlich unterblieben ist (Abwägungsausfall), abwägungsrelevante Indizien fehlen (Abwägungsdefizit) oder Indizien bei der Gesamtabwägung unzutreffend berücksichtigt worden sind (Abwägungsfehleinschätzung), wie der Senat bereits in anderem Zusammenhang entschieden hat (BSG vom 6.9.2018 - B 2 U 18/17 R - "Stöberhundeführer" ≪SozR vorgesehen≫). Vorliegend fehlt die Abwägung der für und gegen die betriebsbezogene Handlungstendenz sprechenden Indizien komplett, sodass insofern ein Abwägungsausfall vorliegt, der die grundsätzliche Bindung des Revisionsgerichts (§ 163 Halbs 1 SGG) an die festgestellte Haupttatsache ausnahmsweise entfallen lässt. Das LSG wird daher den Abwägungsvorgang nachzuholen und vertieft zu prüfen haben, ob die objektiven Umstände des Einzelfalls die Annahme rechtfertigen, der Kläger habe am Samstag (nicht: Sonntag, § 202 S 1 iVm § 291 ZPO), den 28.4.2012 nachts um 1.30 Uhr aus dem Kellergeschoss kommend die Haustreppe zum 1. OG bestiegen, um die Installation eines größeren Software-Updates in seiner Firma zu überwachen und gerade nicht in seine Wohnung im 5. OG zu gelangen. Dabei wird es auch zu erwägen und die Gründe anzugeben haben, was aus der Nichtbenutzung des vorhandenen Aufzugs zu schließen sein könnte. Zudem wird es im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) abzuwägen haben, welche Bedeutung Zeitpunkt und Ort des Unfalls sowie der im erstinstanzlichen Urteil geschilderten Sachverhaltsvariante zukommt, auf die das LSG in seinen Entscheidungsgründen Bezug nimmt (zur fehlenden Bindungswirkung widersprüchlicher Tatsachenfeststellungen vgl BSG vom 21.10.1999 - B 11 AL 21/99 R - SozR 3-4100 § 103 Nr 21, vom 9.9.1986 - 5b RJ 50/84 - SozR 2200 § 1246 Nr 139 und vom 28.11.1980 - 5 RJ 98/80 - Juris RdNr 22; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 163 RdNr 2 mwN).
4. Aufgrund der tatrichterlichen Feststellungen lässt sich überdies nicht beurteilen, ob der Kläger im Unfallzeitpunkt als namensgebender Gesellschafter-Geschäftsführer der Unternehmerin - wie er selbst meint - kraft Gesetzes als Beschäftigter iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII der Versicherungspflicht unterlag oder - wovon die Beklagte in ihren Bescheiden ursprünglich ausgegangen ist - als Unternehmer gemäß § 6 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB VII oder - was sie offensichtlich später angenommen hat - als Wie-Unternehmer gemäß § 6 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB VII freiwillig versichert gewesen ist. Hierbei könnte sich auch ergeben, dass der Kläger überhaupt nicht zum versicherten Personenkreis (vgl § 2 Abs 1 SGB IV) gehörte. Das LSG hat - von seiner Rechtsansicht her konsequent - keine Tatumstände festgestellt, die die Versicherteneigenschaft des Klägers begründen könnten. Es führt lediglich aus, die Unternehmerin sei "bei der Beklagten versichert" und der Kläger sei im Unfallzeitpunkt einer "versicherten Tätigkeit" nachgegangen. Hieraus kann nicht auf die Versicherteneigenschaft des Handelnden geschlossen werden. Denn die Aussage, der Kläger habe im Unfallzeitpunkt eine versicherte Tätigkeit ausgeübt, ist keine Tatsachenfeststellung, sondern stellt eine Subsumtion bestimmter Tatsachen unter die heranzuziehenden Rechtsvorschriften dar. Gemäß § 163 SGG ist das BSG indes nur an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden; Einschränkungen der Entscheidungskompetenz des Revisionsgerichts in Bezug auf die Rechtsanwendung enthält die Vorschrift dagegen nicht (BSG vom 31.10.2012 - B 13 R 65/11 R - SozR 4-1500 § 163 Nr 6 RdNr 20 und vom 29.10.1997 - 7 RAr 48/96 - SozR 3-4100 § 64 Nr 3 S 17 f; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, aaO, § 163 RdNr 2; s auch May, Die Revision, 2. Aufl 1997, Kap VI RdNr 429 f, zur Subsumtion des Sachverhalts unter eine Rechtsnorm als revisionsgerichtlich zu überprüfende Rechtsanwendung).
Sollten weder die Voraussetzungen der Beschäftigtenversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII noch die Erfordernisse der freiwilligen Versicherung iS des § 6 Abs 1 S 1 Nr 1 oder 2 SGB VII erfüllt sein und auch kein anderer Versicherungstatbestand nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII in Betracht kommen, wird das LSG die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG vom 9.7.2015 ggf schon mangels Versicherteneigenschaft zurückweisen müssen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
NJW 2019, 10 |
NWB 2019, 311 |
NZA 2018, 7 |
NZS 2019, 515 |
SGb 2019, 96 |
Breith. 2019, 830 |