Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung der Sachaufklärungspflicht
Leitsatz (redaktionell)
Nach SGG § 103 hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Welche Tatsachen es festzustellen hat, richtet sich nach seinem materiell-rechtlichen Standpunkt. Nach SGG § 128 entscheidet es nach freier, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnener Überzeugung. In diesem Rahmen bestimmt es auch die Art und den Umfang der Beweiserhebung zur Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen. Das Gericht verletzt seine Sachaufklärungspflicht (SGG § 103), wenn es Nachforschungen unterläßt und verfügbare Beweismittel ungenutzt läßt, obwohl der ihm bekannte Sachverhalt hierzu drängte. Das Revisionsgericht hat zu prüfen, ob der Tatsachenrichter von den vorhandenen tauglichen Beweismitteln zur Erforschung der rechtserheblichen Tatsachen den erforderlichen Gebrauch gemacht hat. Das LSG verletzt SGG § 128, wenn es die gesetzlichen Grenzen seines Rechts der Entscheidungsfreiheit überschreitet, insbesondere, wenn es bei der Beweiswürdigung gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze verstößt. Zwischen der Sachaufklärungspflicht und dem Recht der freien Beweiswürdigung besteht ein enger Zusammenhang. Eine genügende Sachaufklärung ist Voraussetzung für eine dem Gesetz entsprechende Beweiswürdigung. Die Verletzung der Sachaufklärungspflicht kann auch eine Überschreitung des Rechts, nach freier Überzeugung zu entscheiden, darstellen. In solchen Fällen ist auch SGG § 128 verletzt, wenn die Überzeugungsbildung unter Verstoß gegen die Aufklärungspflicht erfolgt ist.
Normenkette
SGG § 103 Fassung: 1953-09-03, § 128 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 7. Juli 1955 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger war im zweiten Weltkrieg beim B. S. und der Organisation T. (OT.) von Februar 1942 bis März 1943 in der Gruppe Rußland-Süd als Quartiermeister und Zahlmeister tätig. Von März 1943 bis August 1944 war er Soldat bei der Wehrmacht. Während seiner Zugehörigkeit zur Wehrmacht befand er sich 1943 dreimal in Lazarettbehandlung wegen Asthma.
Im August 1950 beantragte der Kläger Versorgung beim Magistrat von Großberlin wegen Schwerhörigkeit, Rückenschmerzen und Asthma. Nach versorgungsärztlicher Begutachtung lehnte das Versorgungsamt (VersorgA.) mit Bescheid vom 7. April 1952 die Gewährung von Versorgung ab.
Das Landesversorgungsamt (LVersorgA.) wies den Einspruch des Klägers zurück, das Sozialgericht (SG.) Berlin wies mit Urteil vom 5. Oktober 1954 seine Klage ab.
Mit Urteil vom 7. Juli 1955 wies das Landessozialgericht (LSG.) Berlin die Berufung des Klägers zurück. Es führte aus, nach dem Auszug aus dem Wehrpaß habe die Schwerhörigkeit bereits bei der Einstellungsuntersuchung am 29. März 1943 bestanden. Für die Entstehung dieses Leidens während der Dienstzeit beim B. S. liege kein Anhalt vor. Im Dienstbuch seien irgendwelche Erkrankungen nicht vermerkt. Der Kläger sei beim Einsatz in der Zeit vom Februar 1942 bis März 1943 keinen besonderen körperlichen Strapazen ausgesetzt gewesen. Es sei demnach nicht ausreichend wahrscheinlich, daß die Schwerhörigkeit mit dem Wehrdienst in ursächlichem Zusammenhang stehe. Die Rückenschmerzen beruhten auf einer Lordose der Halswirbelsäule, Kyphose der Brustwirbelsäule und Spondylosis der Lendenwirbelsäule. Dieses seien schicksalsmäßige Leiden. Für ihre Entstehung durch eine besondere äußere Einwirkung (Trauma) sei nichts dargetan. Für ein Wolhynisches Fieber im Frühjahr 1943, auf das der Kläger das Asthma zurückführe, liege kein genügender Nachweis vor. Der Kläger sei in der vorangegangenen Dienstzeit beim B. S. keinen besonderen körperlichen Strapazen ausgesetzt gewesen. Das Asthma sei bereits einen Monat nach Fronteinsatz aufgetreten. Es müsse sich daher schon vorher auf Grund einer Veranlagung entwickelt haben. Deshalb könnten die geltend gemachten Leiden nicht als Versorgungsleiden anerkannt werden. Revision wurde nicht zugelassen.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger am 9. Januar 1956 Revision eingelegt und beantragt, unter Abänderung der Entscheidung der Vorinstanz nach dem Klageantrage zu entscheiden. Die Revision rügt Verletzung der Aufklärungspflicht und Verletzung des Gesetzes bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs von Gesundheitsstörungen mit einer Schädigung im Sinn des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Der Kläger macht geltend, das LSG. hätte prüfen müssen, welche Tätigkeiten er als Quartiermeister ausgeübt habe. Er sei bei Wahrnehmung seiner Dienstobliegenheiten täglich im Freien und dauernd unterwegs gewesen, um Quartiere zu suchen und Lebensmittel heranzuschaffen. Dabei sei er Kälteeinwirkungen bis min. 500 Celsius ausgesetzt gewesen. Er habe sich hierdurch das Bronchialasthma zugezogen. Als Zahlmeister sei er oftmals unter gleichen Umständen unterwegs gewesen. Wenn das LSG. diesen Sachverhalt aufgeklärt hätte, so hätten die Gutachter und das Gericht andere Schlüsse hinsichtlich der körperlichen Strapazen und ihrer Folgen für die Gesundheit ziehen müssen. Der ursächliche Zusammenhang im Sinne des BVG sei verkannt worden, weil jede Bedingung genüge, die nicht hinweggedacht werden könne, ohne daß der Erfolg entfiele. Die Tätigkeit in der Kälte und unter kriegsmäßigen Verhältnissen hätten die Bronchitis verursacht. Der Kläger rügt weiter eine Verletzung der Aufklärungspflicht auch hinsichtlich der Vorgänge bei der Musterung. Das LSG. hätte näher prüfen müssen, wie die Musterung vorgenommen wurde. Die Untersuchung auf Schwerhörigkeit sei im Nebenzimmer durch einen Sanitäter erfolgt. Bei der Feststellung von angeblicher Schwerhörigkeit handele es sich um einen Irrtum. Mit Schwerhörigkeit wäre er niemals zu einer Aufklärungsabteilung eingezogen worden. Zu den Rückenschmerzen hätte das LSG. in Ausübung seiner Aufklärungspflicht den Kläger nach Unfällen fragen müssen; dann wäre festgestellt worden, daß er sich bei einem Autounfall in Rußland mit dem Karabinerschloß am Rücken verletzt habe. Die ärztlichen Gutachter hätten dann die Möglichkeit gehabt, den ursächlichen Zusammenhang dieser Verletzung mit den Rückenschmerzen festzustellen.
Der Beklagte hat Verwerfung der Revision beantragt.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Das Urteil des LSG. ist den Bevollmächtigten des Klägers am 27. Juli 1955 zugestellt worden. Da die Rechtsmittelbelehrung im angefochtenen Urteil nicht auf das Erfordernis eines bestimmten Antrags in der Revisionsschrift (BSG. 1 S. 227) und den nach § 164 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) notwendigen Inhalt der Revisionsbegründung hinweist (BSG. vom 15.11.1957 in SozR. SGG § 66 Da 5 Nr. 17), konnte der Kläger die Revision innerhalb eines Jahres seit Zustellung des angefochtenen Urteils einlegen (§ 66 SGG). Die am 9. Januar 1956 eingegangene Revision ist daher fristgerecht.
Da die Revision nicht zugelassen ist, findet sie gemäß § 162 Abs. 1 SGG nur statt, wenn ein wesentlicher Verfahrensmangel des LSG. gerügt wird und vorliegt (BSG. 1 S. 150) oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs von Gesundheitsstörungen mit einer Schädigung im Sinn des BVG das Gesetz verletzt ist (BSG. 1 S. 151, 254, 268).
Der Kläger macht Verstöße des LSG. gegen §§ 103, 128 SGG geltend. Nach § 103 SGG hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Welche Tatsachen es festzustellen hat, richtet sich nach seinem materiell-rechtlichen Standpunkt. Nach § 128 SGG entscheidet es nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In diesem Rahmen bestimmt es auch die Art und den Umfang der Beweiserhebung zur Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen (BSG. 2 S. 84). Das Gericht verletzt seine Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG), wenn es Nachforschungen unterläßt und verfügbare Beweismittel ungenutzt läßt, obwohl der ihm bekannte Sachverhalt hierzu drängte. Das Revisionsgericht hat zu prüfen, ob der Tatsachenrichter von den vorhandenen tauglichen Beweismitteln zur Erforschung der rechtserheblichen Tatsachen den erforderlichen Gebrauch gemacht hat. Das LSG. verletzt § 128 SGG, wenn es die gesetzlichen Grenzen seines Rechts der Entscheidungsfreiheit überschreitet, insbesondere, wenn es bei der Beweiswürdigung gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze verstößt. Zwischen der Sachaufklärungspflicht und dem Recht der freien Beweiswürdigung besteht ein enger Zusammenhang. Eine genügende Sachaufklärung ist Voraussetzung für eine dem Gesetz entsprechende Beweiswürdigung. Die Verletzung der Sachaufklärungspflicht kann auch eine Überschreitung des Rechts, nach freier Überzeugung zu entscheiden, darstellen (vgl. Haueisen in DOK. 1957 S. 3). In solchen Fällen ist auch § 128 SGG verletzt, wenn die Überzeugungsbildung unter Verstoß gegen die Aufklärungspflicht erfolgt ist.
Von diesen Grundsätzen ausgehend erachtet der Senat die Revisionsrüge der ungenügenden Sachaufklärung und der fehlerhaften Beweiswürdigung insoweit für begründet, als das LSG. die Tätigkeit und näheren Umstände des Einsatzes des Klägers bei der OT. nicht geprüft hat und dadurch zu einer mit den Tatsachen möglicherweise nicht übereinstimmenden Schlußfolgerung gekommen ist.
Das Urteil des LSG. führt an zwei Stellen - bei der Prüfung der Schwerhörigkeit und bei der Prüfung des Asthmaleidens als Versorgungsleiden - an, der Kläger sei während der Zeit seiner Tätigkeit bei der OT. besonderen körperlichen Strapazen nicht ausgesetzt gewesen. Es ist nicht klar ersichtlich, aus welchen Überlegungen das LSG. diese Schlußfolgerung abgeleitet hat. Wenn im OT.-Dienstbuch keine Erkrankungen aus dieser Zeit eingetragen sind, so rechtfertigt dies allein keineswegs die Feststellung, körperliche Strapazen seien nicht überstanden worden, denn es ist durchaus möglich, daß gesundheitsschädliche Einwirkungen erst in späterer Zeit ihre Folgen zeigen. Sollte die Vorinstanz ihre Meinung nur aus der Art des Einsatzes des Klägers als Quartier- und Zahlmeister bei der OT. gefolgert haben, so wäre dies ohne nähere Prüfung der zeitlichen und örtlichen Umstände des Einsatzes erst recht bedenklich, wenn nicht sogar willkürlich; denn es widerspricht der allgemein bekannten Tatsache, daß in den strengen Kriegswintern 1942 und 1943 so gut wie alle Teile der deutschen Besatzung im russischen Raum - wozu im weiteren Sinne auch die OT. gehörte - erheblichen Kälteeinwirkungen ausgesetzt waren, was allein schon beträchtlichen Strapazen gleichzusetzen ist. Dauer und Ausmaß dieser Strapazen waren allerdings nach den Umständen jeweils verschieden.
Die von der Revision mit Recht beanstandete Feststellung des LSG. wird sonach durch den erhobenen Sachverhalt nicht gedeckt. Das LSG. hätte sich zu weiteren Aufklärungen in dieser Richtung um so mehr gedrängt fühlen müssen, als es bei der Erörterung des Asthmaleidens, das unmittelbar nach der Einberufung des Klägers zur Wehrmacht zum Ausbruch kam, selbst feststellte, daß sich dieses Leiden schon vorher beim Kläger entwickelt haben müsse. Vor dem Dienst bei der Wehrmacht befand sich aber der Kläger gerade zum Einsatz bei der OT. Das LSG. hat mit Recht die Verwendung des Klägers nach seiner Einberufung zur Wehrmacht ins Einzelne gehend festgestellt und geprüft, ob Einwirkungen des Wehrdienstes das Asthmaleiden verursacht haben können. Eine derartige Prüfung hätte die Vorinstanz auch bezüglich seiner Tätigkeit beim B. S. und bei der OT. vornehmen müssen. Die Revision rügt daher insoweit zutreffend einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG., der auch vorliegt.
Die weitere Rüge ungenügender Sachaufklärung hinsichtlich der Vorgänge bei der Musterung greift nicht durch. Wenn das LSG. bei der Abwägung der Eintragung von Schwerhörigkeit im Wehrpaß gegenüber der bloßen Behauptung des Klägers, es handele sich dabei um einen sachlich unrichtigen Vermerk, die Eintragung im Wehrpaß für zutreffend gehalten hat, so ist darin keine Verletzung der Aufklärungspflicht und Entscheidungsfreiheit bei der Überzeugungsbildung zu erkennen. Es lagen keine dagegen sprechende Umstände vor, und auch der Kläger hatte im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht keine durchführbaren Ermittlungen vorgeschlagen, die zur Widerlegung des Eintrags im Wehrpaß führen konnten. Die vom LSG. hierzu getroffene Feststellung und die daraus gezogene Schlußfolgerung ist somit nicht zu beanstanden.
Auch bezüglich des Autounfalls in Rußland kann die Rüge der mangelnden Sachaufklärung keinen Erfolg haben. Das LSG. hat sich bei seiner Beurteilung der Rückenschmerzen ohne Verletzung seiner Entscheidungsfreiheit auf den Röntgenbefund der versorgungsärztlichen Untersuchung vom 13. August 1951 gestützt, nach dem die Veränderungen der Wirbelsäule nicht auf Gewalteinwirkungen beruhen, sondern Folgen einer nicht sehr erheblichen Adoleszentenkyphose sind.
Da ein wesentlicher Verfahrensmangel des LSG. vorliegt, war die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Sie ist auch begründet, denn es ist möglich, daß das LSG. bei genauer Feststellung der Einwirkungen des Dienstes beim B. S. und der OT. den ursächlichen Zusammenhang zwischen Einflüssen dieses Dienstes und dem Asthmaleiden anders beurteilt hätte (BSG. 2 S. 197). Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Der Senat konnte nicht selbst entscheiden, da noch Ermittlungen tatsächlicher Art notwendig sind. Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen