Leitsatz (amtlich)
Ein selbständiger, in die Handwerksrolle eingetragener und nach HwVG § 6 Abs 3 versicherungsfreier Handwerker, der auch Hausgewerbetreibender ist, ist nach dem Inkrafttreten des HwVG (1962-01-01 nicht gemäß RVO § 1227 Abs 1 S 1 Nr 3 als Hausgewerbetreibender versicherungspflichtig.
Normenkette
RVO § 1227 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 Fassung: 1960-09-08; HwVG § 6 Abs. 3 Fassung: 1960-09-08; HwAVG §§ 3-4
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Mai 1968 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger als Hausgewerbetreibender nach § 1227 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) versicherungspflichtig ist, obwohl er als selbständiger Handwerker in die Handwerksrolle eingetragen und nach § 6 Abs. 3 des Handwerkerversicherungsgesetzes (HwVG) versicherungsfrei ist.
Der Kläger betreibt eine Lederfärberei, -presserei, -glätterei, -druckerei und -prägerei ohne fremde Hilfskräfte. Der Betrieb ist seit 1934 in das Gewerberegister, der Kläger seit 1948 als Handwerker in die Handwerksrolle eingetragen. Er ist durch Abschluß ausreichender Lebensversicherungsverträge von der Versicherungspflicht nach dem HwVG gemäß § 6 Abs. 3 HwVG befreit. Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 8. Juni 1964 eine Versicherungspflicht des Klägers als Hausgewerbetreibender nach § 1227 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RVO fest und forderte an rückständigen Beiträgen bis zum 30. April 1964 einen Gesamtbetrag von 3.892,- DM. In einem weiteren Bescheid vom 8. Dezember 1966, der während des Klageverfahrens erging, forderte die Beklagte von dem Kläger für die Zeit vom 1. Mai 1964 bis zum 30. Oktober 1966 weitere Beiträge in Höhe von 5.068,- DM. Im Widerspruchsverfahren bestritt der Kläger seine Versicherungspflicht als Hausgewerbetreibender, nicht aber die Höhe der Beitragsforderung. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 24. März 1966 zurück. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. Mai 1967). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten vom 8. Juni 1964 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. März 1966 aufgehoben. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 21. Mai 1968).
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Sie rügt unrichtige Anwendung des § 1227 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RVO sowie der §§ 1 Abs. 5, 2 Abs. 1 Nr. 5 und 6 Abs. 3 HwVG.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Mai 1968 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig, aber unbegründet.
Wie schon die Vorinstanzen richtig erkannt haben, steht zur Nachprüfung allein der Bescheid der Beklagten vom 8. Juni 1964 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. März 1966. Der weitere Bescheid der Beklagten vom 8. Dezember 1966 ist nicht Gegenstand des Verfahrens geworden, da durch ihn der Erstbescheid nach Klageerhebung weder abgeändert noch ersetzt ist (§ 96 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), vielmehr wegen der darin enthaltenen Beitragsforderung für die Zeit vom 1. Mai 1964 bis 30. Oktober 1966 in Höhe von 5.068,- DM einen weiteren Streitgegenstand einführt, der von dem bisherigen unabhängig ist.
Die Beklagte will die Versicherungspflicht des Klägers - trotz dessen Versicherungsfreiheit aufgrund ausreichender Lebensversicherungsverträge in der Handwerkerversicherung gemäß § 6 Abs. 3 HwVG - aus § 1227 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RVO herleiten, da der Kläger nicht nur Handwerker, sondern auch Hausgewerbetreibender sei. Diese Ansicht mag für sich ins Feld führen können, daß durch § 13 Abs. 1 Nr. 1 HwVG mit Wirkung vom 1. Januar 1962 (§ 16 HwVG) in § 1227 Abs. 1 RVO die Worte "oder des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk" gestrichen worden sind; denn die frühere Fassung des § 1227 Abs. 1 RVO hatte die Pflichtversicherung in der Rentenversicherung der Arbeiter davon abhängig gemacht, daß die versicherungspflichtigen Personen nicht wegen derselben Beschäftigung oder derselben Tätigkeit nach den Bestimmungen des Angestelltenversicherungsgesetzes oder des Reichsknappschaftsgesetzes oder eben des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk versicherungspflichtig oder versicherungsfrei oder auf Antrag von der Versicherungspflicht befreit waren. Damit mag für nach dem Inkrafttreten des HwVG neu eintretende Fälle darüber gestritten werden können, ob ein Gewerbetreibender, obschon er in der Handwerkerversicherung versicherungsfrei ist, als Hausgewerbetreibender gleichwohl nach § 1227 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RVO in der Arbeiterrentenversicherung versicherungspflichtig ist (für eine solche Versicherungspflicht: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band III, Stand: 1.2.1969, Seite 786 d; Hoernigk/Jorks, Die Rentenversicherung, Stand März 1969, § 1227 Anm. 10; Jorks, Handwerkerversicherungsgesetz, 1962, § 2 Anm. 15, § 6 Anm. 4; Antwort des Bundesministers Katzer vom 17. Mai 1968 auf die Fragen 48 bis 50 des Abgeordneten Dr. Enders, Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 5. Wahlperiode, 176. Sitzung, 17. Mai 1968, S. 9493 C, D; a.M.: Schlageter, Handwerkerversicherungsgesetz, 2. Aufl., § 13 Anm. 2 a; Verbandskommentar, § 1227 RVO Anm. 21).
Indes braucht dies hier nicht geprüft und entschieden zu werden. Denn im vorliegenden Fall richtet sich die Frage der Versicherungspflicht ausschließlich nach dem Übergangsrecht des § 6 Abs. 3 HwVG. Danach bleiben Handwerker, die vor dem Inkrafttreten des HwVG (1. Januar 1962) aufgrund eines Versicherungsvertrages die Versicherungsfreiheit nach § 3 des Handwerkerversorgungsgesetzes (HVG) geltend gemacht und bis zum Inkrafttreten des HwVG die Voraussetzungen für die Versicherungsfreiheit nach § 3 HVG erfüllt haben, weiterhin versicherungsfrei. Schon der Wortlaut dieser Vorschrift mit der in den Worten "bleiben" und "weiterhin" liegenden doppelten Betonung der Zustandserhaltung läßt erkennen, daß die einmal bis zum 31. Dezember 1961 erlangte Versicherungsfreiheit und die damit verknüpften sonstigen Rechtswirkungen auch unter der Herrschaft des HwVG unverändert bestehen bleiben sollten. "Bleiben" kann nur etwas, was bereits vorhanden ist. "Bleiben" schließt die unangetastete und ungeschmälerte Fortgeltung dessen, was ist, in sich. Das Wort "weiterhin" unterstreicht das noch. Schon der Wortlaut des § 6 Abs. 3 HwVG läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß die Versicherungsfreiheit des alten Rechts (§ 4 HVG) unverändert in die neue Ordnung der Handwerkerversicherung ab 1. Januar 1962 überführt worden ist. Diese Versicherungsfreiheit des § 4 HVG bewirkte, daß der Handwerker "überhaupt nicht rentenversicherungspflichtig" war (§ 1 Satz 3 der Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk vom 13. Juli 1939 - RGBl I 1225). Dies war die notwendige Folge davon, daß die Versicherung nach dem HVG die gesamte Tätigkeit erfaßte, die der Handwerker ausübte. Daneben wurden einzelne Tätigkeiten weder in der Rentenversicherung der Angestellten noch in der Rentenversicherung der Arbeiter gesondert versichert (§ 1 Satz 1 und 2 der genannten VO vom 13. Juli 1939). Wenn die Beklagte diesen Vorschriften indes keine Bedeutung beimessen will, da sie mit dem Inkrafttreten des HwVG am 1. Januar 1962 (§ 16 HwVG) außer Kraft getreten seien (§ 14 Nr. 2 HwVG), kann ihr hierin nicht gefolgt werden. Diese Vorschriften haben die Wirkungen der Versicherungsfreiheit nach § 3 HVG umschrieben; sie gehörten wesensmäßig zur Regelung dieser Versicherungsfreiheit. Die gesamte bisherige Regelung sollte aber durch die Übergangsvorschrift des § 6 Abs. 3 HwVG in die Neuordnung der Handwerkerversicherung unverändert überführt werden und danach die Versicherungsfreiheit in ihren früheren Gesamtwirkungen "weiterhin" bestehen "bleiben". Nach dem bis zum Inkrafttreten des HwVG gültigen Recht waren in die Handwerksrolle eingetragene Hausgewerbetreibende nur nach dem HVG und nicht auch in der Arbeiterrentenversicherung versicherungspflichtig (RVA Gr.E. Nr. 5420, AN 1941 S. II 151; ferner: AN 1939 S. IV 472 = EuM 45, 269). Damit ist für eine weitere Versicherungspflicht, wie sie die Beklagte aus § 1227 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RVO für einen Hausgewerbetreibenden, der zugleich als Handwerker in die Handwerksrolle eingetragen ist, glaubt entnehmen zu müssen, kein Raum.
Dieser Gedanke hat auch in den Beratungen des Ausschusses für Sozialpolitik zum Entwurf des HwVG seinen Niederschlag in seinem Schriftlichen Bericht vom 29. Oktober 1959 (BT-Drucks., 3. Wahlperiode, Nr. 1379 S. 6) gefunden: "... Der Ausschuß ist davon ausgegangen, daß zur Beurteilung der Versicherungsfreiheit nach § 3 sämtliche jeweils geltenden Durchführungs- und Ergänzungsvorschriften heranzuziehen sind".
Dieses aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte gewonnene Ergebnis wird erst recht von dem Sinn und Zweck der Vorschrift des § 6 Abs. 3 HwVG getragen. Der Gesetzgeber wollte durch die Übergangsregelung des § 6 HwVG vermeiden, in bisher abgeschlossene Lebensversicherungsverträge einzugreifen und den Handwerker durch die Beitragsleistung zur gesetzlichen Rentenversicherung und die Prämienzahlung für seine Lebensversicherung doppelt zu belasten bzw. den Handwerker zu veranlassen, seine bisherige Lebensversicherung aufzugeben und damit bereits erworbener Rechte verlustig zu gehen (vgl. Jorks, Handwerkerversicherungsgesetz, 1962, § 6 Anm. 1). Mit der Versicherungsfreiheit der Ablösung der Handwerkerversicherungspflicht durch Abschluß eines Lebensversicherungsvertrages sollte der Handwerker schlechterdings aus der Rentenversicherungspflicht entlassen sein. Der aufgrund eines Lebensversicherungsvertrages begründete Schutz erschien jedenfalls ausreichend, um den Handwerker nicht weiterhin der Versicherungspflicht in dem System der gesetzlichen Vorsorge zu unterwerfen. Damit würde es in unlösbarem Widerspruch stehen, wenn der versicherungsfreie Handwerker, weil er auch Hausgewerbetreibender ist, abermals der Versicherungspflicht unterstellt würde, aus der er wegen des ausreichenden Lebensversicherungsvertrages herausgenommen worden war. Würde man der Rechtsansicht der Beklagten folgen, würde dies für den Kläger eine Doppelsicherung zur Folge haben, nämlich einmal durch die die Handwerkerversicherungspflicht ablösende Lebensversicherung, zum anderen durch die Pflichtversicherung als Hausgewerbetreibender gemäß § 1227 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RVO. Dies wäre bei derselben Tätigkeit ein Ergebnis, das sonst nirgendwo von der Rechtsordnung der Sozialversicherung gefordert wird. Ein auf solche Weise zur Mehrfachsicherung herangezogener hausgewerbetreibender Handwerker würde in seinem Vertrauen in den Fortbestand der einmal eingetretenen vollständigen Versicherungsfreiheit in der gesamten Rentenversicherung erschüttert werden. Er wäre zudem wegen der erneuten Versicherungspflicht in seinen wirtschaftlichen Dispositionen gestört, weil er nunmehr neben den Prämien zur Lebensversicherung auch noch die Beiträge für die Pflichtversicherung aufzubringen hätte. Anzunehmen, daß der Gesetzgeber derartige Widersprüchlichkeiten gewollt habe, geht nicht an (vgl. auch das Urteil des 4. Senats vom 12. November 1969 - 4 RJ 531/68 -).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen