Leitsatz (redaktionell)
1. Nicht alle Zeit- oder Lebensabschnitte zwischen Verlassen der allgemeinbildenden Schule und Ablegung der Fach- oder Hochschulprüfung sind als Berufsausbildung iS des RVO § 1267 anzusehen, auch wenn sie für die abschließende Prüfung erforderlich oder nützlich waren.
2. Ob Berufsausbildung vorliegt, ist für jeden Abschnitt der zum erstrebten Beruf hinführenden Tätigkeiten gesondert zu prüfen.
3. Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die Ableistung eines "Praktikums" als Berufsausbildung zu werten ist.
Normenkette
RVO § 1267 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Juli 1969 und des Sozialgerichts Bayreuth vom 19. Januar 1968 werden aufgehoben.
Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 16. Februar 1967 wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten in den drei Rechtszügen sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Umstritten ist, ob der Kläger Waisenrente wegen Berufsausbildung für Zeiten beanspruchen kann, in denen er bei verschiedenen Betrieben gearbeitet hat (§ 1267 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der Kläger, geboren am 7. Juni 1943, unverheiratet, besuchte bis März 1966 das Technikum für Chemie und Physik Dr. G in I, um sich als Ingenieur ausbilden zu lassen. Er erhielt Waisenrente bis März 1966. Im April 1966 beantragte er die Weitergewährung der Waisenrente, weil er, um die Ausbildung fortsetzen zu können, sein Praktikum machen müsse. Er war beschäftigt:
vom 3. Mai bis 1. Juli 1966 in der Betriebswerkstätte der Firma K, B (K.), mit der Montage und Demontage von Maschinen mit einem monatlichen Bruttoverdienst von 764,- DM und 636,- DM, vom 3. Oktober 1966 bis 31. März 1967 als Aushilfe in einem Forschungslaboratorium der Firma S, Erlangen (S.), bei der Entwicklung von Halbleiterstrahlungsdetektoren mit einem monatlichen Bruttoeinkommen von 508,- DM.
Die Beklagte gewährte die Waisenrente nur für die Zeit vom 1. September bis 30. September 1966 weiter. Sie lehnte die Rentengewährung für die Zeit der Tätigkeit bei den Betrieben K. und S. ab, weil der Kläger sich während dieser Zeiten nicht in Ausbildung befunden habe; unter dem für die weitere Ingenieurausbildung vorgeschriebenen Industriepraktikum sei eine praktische Beschäftigung in der Industrie zu verstehen; sofern diese als Arbeitnehmer zurückgelegt werde, befinde sich der Versicherte nicht in Ausbildung. Daß das Technikum die umstrittenen Zeiten als Praktikum anerkannt habe, sei für die Gewährung von Waisenrente ohne rechtliche Bedeutung (Bescheid vom 16. Februar 1967). Mit Bescheid vom 6. Juli 1967 gewährte die Beklagte wieder Waisenrente vom 1. April 1967 an.
Das Sozialgericht (SG) Bayreuth hat die Beklagte verurteilt, Waisenrente für die Zeit vom 3. Mai bis 30. Juni 1966 und vom 3. Oktober 1966 bis 31. März 1967 zu gewähren; die Berufung wurde zugelassen (Urteil vom 19. Januar 1968).
Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 15. Juli 1969). Das LSG hat ausgeführt, zur Bejahung einer Berufsausbildung im Sinne des § 1267 RVO bedürfe es weder eines förmlichen Ausbildungsvertrages noch einer bestimmten Ausdrucksweise in nachträglichen Zeugnissen oder Auskünften. Die Höhe des Entgelts sei nicht ausschlaggebend. Nach den Bescheinigungen des Technikums und der Auskunft der nunmehrigen Naturwissenschaftlich-technischen Akademie in I sei ein Industriepraktikum unumgängliche Voraussetzung für die Ingenieurausbildung, und die umstrittenen Beschäftigungszeiten seien als Praktikantenzeiten anerkannt worden. Sei die "praktische Beschäftigung" aber Berufsausbildung im Sinne des § 1267 RVO, dann komme es für den Waisenrentenanspruch nicht mehr entscheidend darauf an, wie hoch der erzielte Arbeitsverdienst gewesen sei und ob der Kläger z.Zt. zu Recht als versicherungspflichtig erachtet worden sei.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie rügt eine Verletzung des § 1267 Satz 2 RVO: Für die Annahme einer Berufsausbildung komme es darauf an, wie sich das Beschäftigungsverhältnis bei seiner Eingehung und während seiner Durchführung darstelle. Hier hätten regelrechte Arbeitsverhältnisse bestanden, welche die Beteiligten zum vollen Einsatz der Arbeitskraft als Montagehelfer und als Aushilfe sowie zur normalen Entlohnung verpflichtet hätten. Die Firma S. habe ausgeführt, bei einer Ausbildung wäre nicht ein Monatsgehalt von 508,- DM gezahlt worden. Das gleiche gelte für die Firma K. Die nachträgliche Anerkennung dieser Zeiten durch die Ingenieurschule als Praktikum könne daraus nicht mehr eine Berufsausbildung im Sinne des § 1267 Satz 2 RVO machen. Im übrigen komme es auch wesentlich auf die Höhe der Vergütung an. Sie sei im Zweifel für die Frage eines Ausbildungsverhältnisses bedeutsam. Der Kläger habe die Beschäftigungen bei den Firmen K. und S. als normaler Arbeitnehmer gegen volle Entlohnung aufgenommen und durchgeführt; erst die nachträgliche Anerkennung durch die Schule habe das Arbeitsverhältnis als Ausbildungsverhältnis deklariert. Beschäftigungszeiten als vollbezahlter Arbeiter könnten aber nicht als Zeiten der Berufsausbildung anerkannt werden (Hinweis auf die Urteile des Bundessozialgerichts - BSG - vom 10. Mai 1968 - 5 RKn 119/65 - und vom 29. November 1967 - 1 RA 217/66 in SozR Nr. 31 zu § 1267 RVO).
Der Kläger hat beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Waisenrente für die strittigen Zeiten, weil er sich nicht in Berufsausbildung befunden hat.
Nach § 1267 Satz 2 RVO wird Waisenrente längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres für ein unverheiratetes Kind gewährt, das sich in Schul- oder Berufsausbildung befindet - die übrigen Fälle der Sätze 2 und 3 aaO kommen hier nicht in Frage.
Berufsausbildung im Sinne des § 1267 RVO - nur eine solche kommt hier in Betracht - setzt voraus, daß ein echtes Ausbildungsverhältnis besteht. Dazu gehört in der Regel, daß ein sachkundiger Ausbilder bestellt ist, der den Auszubildenden anleitet, belehrt und ihn mit dem Ziel unterweist, ihm die für den erstrebten Beruf notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln. Daß dabei nützliche Arbeit geleistet wird, steht nicht entgegen, wenn der Ausbildungszweck im Vordergrund steht und demgegenüber die Verwertung der Arbeitskraft zurücktritt (vgl. das Urteil des erkennenden Senats vom 31. August 1967 - 12 RJ 328/64, ferner SozR Nr. 18 zu § 1267 RVO). Es ist zwar nicht erforderlich, wenigstens für die hier in Frage kommenden Jahre 1966 und 1967, daß ein förmlicher Ausbildungsvertrag, etwa nach bestimmtem Muster, mit bestimmtem Inhalt, nach bestimmten Vorschriften, abgeschlossen ist. Jedoch muß von vornherein zwischen dem Auszubildenden und dem Ausbilder darüber Klarheit bestehen, daß und mit welchem Ziel der Auszubildende während des vereinbarten Zeitraums anzuleiten und zu unterweisen ist. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn die Ausbildung im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses durchgeführt wird. In einem solchen Fall wird der Inhalt des Arbeitsverhältnisses, das sich sonst üblicherweise in der Verpflichtung des Arbeitnehmers zur Arbeitsleistung und der Verpflichtung des Arbeitgebers zur Gewährung der entsprechenden Vergütung erschöpft, entsprechend modifiziert und erweitert. Dies muß von vornherein klar ersichtlich sein.
Auch in den neuen Gesetzen, die Fragen der Berufsausbildung betreffen, hat dieser Begriff keine andere, wesentlich verschiedene Bedeutung erhalten, die etwa rückschauend auch bei § 1267 RVO zu berücksichtigen wäre (§ 1 Abs. 2 des Berufsbildungsgesetzes vom 14. August 1969, BGBl 1969, I 1112; §§ 33, 40 des Arbeitsförderungsgesetzes vom 25.6./27.7.1969, BGBl I 582, 946; Ausbildungsförderung für Praktikanten nach dem Ausbildungsförderungsgesetz vom 19. September 1969, BGBl I 1719, § 2 Abs. 3, §§ 11, 14 Abs. 3).
§ 1267 RVO und der Begriff "Berufsausbildung" bieten keine Rechtsgrundlage dafür, alle Zeit- oder Lebensabschnitte zwischen dem Verlassen der allgemeinbildenden Schule und der Ablegung der Fachschul- oder Hochschulprüfung umfassend als Berufsausbildung im Sinne des § 1267 RVO anzusehen, nur weil sie für die abschließende berufliche Prüfung erforderlich oder nützlich waren. Ob "Berufsausbildung" vorliegt, ist vielmehr für jeden Abschnitt der zum erstrebten Beruf hinführenden Tätigkeiten gesondert zu prüfen.
Nach den Feststellungen des LSG war der Kläger bei den Firmen K. und S. nicht als "Praktikant" eingestellt; es bestand weder nach der Gestaltung der Arbeitsbedingungen noch nach den Vorstellungen der Parteien des Beschäftigungsverhältnisses ein Ausbildungsverhältnis in dem oben aufgezeigten Sinn. Der Kläger war vielmehr als Montagehelfer und als Aushilfe auf Grund eines normalen Arbeitsvertrages beschäftigt und entlohnt. Daran ändert nichts, wie das Technikum Dr. G. die Arbeitsverhältnisse im Hinblick auf ihren Wert als praktische Tätigkeit für die Ausbildung zum Ingenieur beurteilt hat. Es hat sich auch nicht um eine bloße Ferienarbeit gehandelt, die die Ausbildung nicht unterbrochen hat. Der Kläger stand hiernach in den umstrittenen Zeiten nicht in "Berufsausbildung".
Beim Fehlen jeder Ausbildung während der umstrittenen Zeiten schließen auch der Umstand, daß der Kläger das für die Verrichtung der Arbeiten zustehende volle Arbeitsentgelt erhalten hat und dessen Höhe die Annahme von Berufsausbildung aus.
Der allgemeine sozialpolitische Sinn und Zweck der Waisenrente als Unterhaltsersatz sowie der Vergleich mit den anderen Alternativen in § 1267 Satz 2 RVO (freiwilliges soziales Jahr und Erwerbsunfähigkeit wegen Gebrechen) machen deutlich, daß die Regelungen über einen zeitlich verlängerten Anspruch auf Waisenrente diejenigen Fälle erfassen sollen, in denen ein Kind auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres noch auf elterliche Unterhaltsleistungen angewiesen wäre, weil es sich nicht selbst unterhalten kann. Eine Berufsausbildung vermag deshalb einen Anspruch auf verlängerte Waisenrente nur zu begründen, wenn die Waise infolge dieser Ausbildung daran gehindert ist, sich selbst ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dementsprechend liegt eine Berufsausbildung im Sinne dieser Vorschriften regelmäßig dann nicht vor, wenn sich eine Ausbildung im Rahmen einer Berufstätigkeit vollzieht, die den vollen Unterhalt der Waise sichert, so daß sie auf elterliche Unterhaltsleistungen nicht mehr angewiesen wäre. Das ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die Waise für diese Berufstätigkeit volles Arbeitsentgelt erhält (SozR Nr. 15 und 31 zu § 1267 RVO, Urteil des BSG vom 10.5.1968 - 5 RKn 119/65 -).
Für den Kläger kann nichts anderes gelten. Er hat für seine Tätigkeit nicht etwa nur einen Zuschuß oder eine Beihilfe, sondern die volle Vergütung eines Berufstätigen erhalten.
Die Entscheidungen des LSG und des SG entsprechen somit nicht dem Gesetz. Auf die Revision der Beklagten ist das Urteil des LSG und auf ihre Berufung ist das Urteil des SG aufzuheben. Die Klage ist abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen