Entscheidungsstichwort (Thema)
Zugunstenbescheid nach wiederholter Ablehnung eines solchen. Übergangsrecht für Verwaltungsverfahren nach Art 2 § 37, § 40 Abs 2, SGB 10
Leitsatz (amtlich)
In der Voraussetzung für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes stimmen § 44 SGB 10 und § 40 KOVVfG überein.
Orientierungssatz
1. Auch wenn wiederholte Ablehnungen eines Zugunstenbescheides durch rechtskräftige Urteile bestätigt worden sind, darf die Verwaltung einen weiteren Antrag auf einen Zugunstenbescheid nicht schlechthin, dh ohne Bedacht auf die wirkliche Sach- und Rechtslage, zurückweisen.
2. Ebenso kontrollieren die Gerichte auf eine auf einen Zugunstenbescheid gerichtete Klage nicht unmittelbar vorhergehende rechtskräftige Gerichtsurteile, sondern das Verhalten der Verwaltung daraufhin, ob sie das neue Sachbegehren ungeachtet rechtsverbindlicher Regelungen ablehnen durfte.
3. Art 2 § 40 Abs 2 S 1 und S 2 sind dahingehend zu deuten, daß sich beide Sätze auf rechtsverbindliche, also nicht auf angefochtene Verwaltungsakte beziehen.
Normenkette
SGB 10 § 44 Abs 1 Fassung: 1980-08-18; KOVVfG § 40 Abs 1; KOVVfG § 40 Abs 2; SGB 10 § 44 Abs 2; KOVVfG § 40 Abs 3; SGB 10 Art 2 § 37 Abs 1 Fassung: 1980-08-18, § 40 Abs 2 S 1 Fassung: 1980-08-18, § 40 Abs 2 S 2 Fassung: 1980-08-18; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03, § 141 Abs 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 04.06.1980; Aktenzeichen L 11 V 86/78) |
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 03.04.1978; Aktenzeichen S 19 V 58/77) |
Tatbestand
Beim Kläger sind verschiedene Narben als Folgen seiner Kriegsverletzungen anerkannt, eine Rentenberechtigung ist daraus aber nicht hergeleitet worden (Bescheid vom 6. Februar 1967, Widerspruchsbescheid vom 18. September 1967). Zwei Anträge des Klägers auf einen Zugunstenbescheid blieben erfolglos (Bescheid vom 27. Juni 1969, Widerspruchsbescheid vom 3. November 1969, Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 3. Juli 1970 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 12. Mai 1971; Bescheid vom 5. April 1973, Widerspruchsbescheid vom 26. Oktober 1973, Urteile des SG vom 25. April 1974 und des LSG vom 4. Dezember 1975). Einen erneuten Antrag, weitere Schädigungsfolgen anzuerkennen und Rente zu gewähren, lehnte die Verwaltung ab, weil der Kläger keine neuen Tatsachen und Beweismittel beigebracht habe (Bescheid vom 21. März 1977, Widerspruchsbescheid vom 29. Juli 1977). Das SG wies die Klage als unbegründet ab (Urteil vom 3. April 1978). Das LSG behandelte sie als unzulässig (Urteil vom 4. Juni 1980): Einer erneuten Sachentscheidung stehe - so das LSG - die Rechtskraft der vorausgegangenen Urteile entgegen. Der Streitgegenstand des gegenwärtigen Verfahrens sei mit den Begehren der vorangegangenen identisch. Der Kläger strebe nur eine andere Bewertung der unveränderten Tatsachen an. Es wäre widersinnig, eine Klage als zulässig anzusehen, deren sachliches Ergebnis von vornherein feststehe. Sinn des § 40 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) sei es nicht, bindende Bescheide so lange zu prüfen, bis irgendwann derselbe Sachverhalt doch anders gewürdigt werde. Das liefe letztlich auf eine Überprüfung der rechtlichen und tatsächlichen Würdigung von Urteilen durch die Verwaltung hinaus.
Der Kläger hat die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Er beanstandet, daß das Berufungsgericht nicht in der Sache entschieden habe und nicht den Beweisanträgen nachgegangen sei. Es habe damit die Vorschrift des § 141 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verkannt. Der Kläger habe die Anerkennung zusätzlicher Schädigungsfolgen begehrt; möglicherweise werde derselbe Sachverhalt nun in seinem Sinne anders beurteilt, zB aufgrund neuer medizinischer Erkenntnisse.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten
Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen,
hilfsweise,
ihm die beantragte Rente zuzusprechen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist zurückzuweisen; denn die Entscheidung des Berufungsgerichts ist trotz einer Gesetzesverletzung aus anderen Gründen richtig (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG).
Das LSG hat die Berufung des Klägers im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Indes hätte es die Klage nicht als unzulässig beurteilen dürfen, sondern - ebenso wie schon das SG - aufgrund einer Sachprüfung entscheiden müssen. Dies hat die Revision mit Recht beanstandet. Gleichwohl kann das Revisionsgericht aufgrund von ausreichenden Feststellungen im Berufungsurteil, die der Kläger nicht erfolgreich mit einer Verfahrensrüge angegriffen hat und die daher verbindlich sind (§ 163 SGG), über die Sache selbst befinden.
Der Kläger begehrt in diesem Verfahren die Anerkennung zusätzlicher Schädigungsfolgen - Granatsplitter im linken Oberschenkel, Muskelschwund, Unterkörperlähmung, Sehnenverletzung im linken Unterschenkel - und entsprechende Versorgung (§ 1 Abs 1 und 3 Satz 1, § 30 Abs 1, § 31 Abs 1 und 2 Bundesversorgungsgesetz -BVG-). Diese Leistung soll ihm nach seinem Antrag durch einen Zugunstenbescheid gemäß § 40 Abs 1 KOVVfG zugesprochen werden. Das hat der Beklagte durch die angefochtenen Verwaltungsakte deshalb abgelehnt, weil neue Gesichtspunkte, die eine andere Entscheidung rechtfertigen könnten nicht benannt worden oder bekannt geworden seien. Diese Entschließung ist gerichtlich zu prüfen (§ 54 Abs 1 und 2 SGG).
Allerdings könnte infolge des Inkrafttretens des 10. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10) vom 18. August 1980 (BGBl I 1469) mit dem 1. Januar 1981 (Art II § 40 Abs 1) die Regelung des Art I § 44 SGB 10 über die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes in diesem bereits begonnenen Verfahren anzuwenden sein; denn im Fall des Erfolges wäre ein vor dem 1. Januar 1981 erlassener Verwaltungsakt aufzuheben (Art II § 37 Abs 1, § 40 Abs 2 Satz 1 und 2 SGB 10). Ob die Verwaltung dies zu tun hätte, hat sie während eines anhängigen Rechtsstreits selbst fortlaufend zu kontrollieren, und zwar ab 1. Januar 1981 nicht mehr nach der außer Kraft getretenen Bestimmung des § 40 KOVVfG (Art II § 16 Nr 1 SGB 10). Die Gerichte könnten dies ebenfalls nach der neuen Vorschrift wie zuvor zu prüfen haben. Diese neue Rechtslage ist indes nicht eindeutig allein aus Art II § 40 Abs 2 Satz 1 SGB 10 zu folgern. Danach ist § 44 des Art I erstmals anzuwenden, wenn nach dem 31. Dezember 1980 ein Verwaltungsakt "aufgehoben wird". Diese Gesetzesformulierung paßt allerdings nicht auf den gegenwärtigen Fall; "aufgehoben" sind die rechtsverbindlichen Bescheide nicht. Der Kläger will vielmehr erst ihre Aufhebung erreichen. Von "aufzuhebenden" Verwaltungsakten ist dagegen in Art II § 40 Abs 2 Satz 2 SGB 10 die Rede; danach gilt die Regelung des Satzes 1 auch, wenn ein solcher Akt vor dem 1. Januar 1980 erlassen worden ist. Es spricht jedoch einiges dafür, daß beide Sätze sich auf rechtsverbindliche, also nicht auf angefochtene Verwaltungsakte beziehen sollen. Denn einschränkend wird in Satz 3 vorgeschrieben, daß zu den "aufzuhebenden" und "aufgehobenen" Verwaltungsakten nicht solche in der Sozialversicherung gehören, die bereits bestandskräftig waren und bei denen auch nach § 1744 RVO aF eine neue Prüfung nicht vorgenommen werden könnte. Damit können nur frühere Bescheide gemeint sein, die allenfalls durch einen Zugunstenbescheid zu berichtigen wären. Für diese Deutung der Sätze 1 und 2 spricht vollends die entsprechende Verwendung des Ausdrucks "aufheben" in Art I §§ 44, 49 und 50 SGB 10. Sonach wäre das neue Recht noch nicht in diesem Rechtszug für die Beurteilung des Streitstoffes heranzuziehen. Doch kann das im Ergebnis dahinstehen. Der rechtliche Beurteilungsmaßstab hat sich nämlich gegenüber dem bis zum 31. Dezember 1980 geltenden Rechtszustand inhaltlich nicht verändert. Nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 ist ein rechtsverbindlich gewordener Bescheid zurückzunehmen und durch eine zutreffende Entscheidung zu ersetzen, wenn sich im Einzelfall ergibt, daß bei seinem Erlaß das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist. Diese Voraussetzungen entsprechen derjenigen für die Erteilung eines Zugunstenbescheides, wie sie die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 40 Abs 1 KoVVfG entwickelt hat.
Nach § 40 Abs 1 KOVVfG konnte die Verwaltung jederzeit zugunsten des Berechtigten einen neuen Bescheid erteilen. Das setzte nach der ständigen Judikatur des BSG voraus, daß die rechtsverbindlich gewordene Regelung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unrichtig war und nicht der materiellen Rechtslage entsprach (BSGE 45, 1, 5 ff = SozR 3900 § 40 Nr 9). Falls die unanfechtbar gewordene Entscheidung an einem solchen Fehler litt, mußte sie aufgehoben werden. Insofern war kein Raum für ein Ermessen. In dieser Beziehung hatten die Gerichte die Sach- und Rechtslage uneingeschränkt zu kontrollieren (BSG SozR 1500 § 103 Nr 1ö; BSGE 45, 6).
Die Klage ist im gegenwärtigen Fall nicht etwa deshalb unzulässig, weil bereits - wiederholt - Gerichte über dasselbe Sachbegehren ablehnend mit Rechtskraftwirkung entschieden haben (zu § 40 KOVVfG: BSG SozR 1500 § 141 Nr 2; 3900 § 40 Nrn 2 und 3). Diese Urteile binden zwar die Beteiligten nach § 141 Abs 1 SGG, soweit über den Streitgegenstand befunden worden ist. Aber das schließt eine neue Sachprüfung nach § 44 SGB 10 ebensowenig aus, wie das nach § 40 KOVVfG der Fall gewesen wäre.
An dieser Rechtslage ändert sich auch nichts dadurch, daß zuvor schon einmal oder gar wiederholt die Verwaltung abgelehnt hat, einen Zugunstenbescheid zu erteilen, und daß dies durch rechtskräftige Gerichtsurteile als rechtmäßig bestätigt worden ist. Selbst solche Entscheidungen können sachlich unrichtig sein, also dem Antragsteller die Leistung verwehren, die ihm nach materiellem Recht zusteht. Die Verwaltung darf einen weiteren Antrag nicht schlechthin, dh ohne Bedacht auf die wirkliche Sach- und Rechtslage, zurückweisen. Auf eine eventuelle Berechtigung des Klägers haben auch die Gerichte trotz ihrer früheren abweisenden Erkenntnisse erneut im zuvor aufgezeigten Rahmen einzugehen.
Das ist gerade die Besonderheit des sozialrechtlichen Verwaltungsverfahrens in Verbindung mit dem sozialgerichtlichen Rechtsschutz. Diesen gesetzlich gebotenen Ausgleich zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit (BSGE 45, 3; BSG SozR 1500 § 78 Nr 16; 3900 § 40 Nr 3; BSG 30. Januar 1980 - 9 RV 40/79 -) verkennt das LSG, wenn es in solchen Fällen die Klage deshalb als unzulässig beurteilt, weil die rechtskräftigen Urteile, deren Bindungswirkung nicht durchbrochen werden dürfe, dann nicht zu überprüfen seien. Die Gerichte kontrollieren aber auf eine auf einen Zugunstenbescheid gerichtete Klage nicht unmittelbar die rechtskräftigen Gerichtsurteile, sondern das Verhalten der Verwaltung daraufhin, ob sie das neue Sachbegehren ungeachtet rechtsverbindlicher Regelungen ablehnen durfte.
Der Besonderheit dieses Falles ist auf eine andere Weise gerecht zu werden. Der Kläger verlangt dieselbe Versorgungsleistung, die ihm bereits in früheren Verfahren rechtskräftig mehrfach versagt worden ist. Das folgt aus der verbindlichen Tatsachenfeststellung im Berufungsurteil und wird durch einen Vergleich des neuen Begehrens mit den Sachanträgen der früheren Verfahren, die rechtskräftig abgelehnt worden sind, bestätigt. Anderenfalls hätte der Kläger auch nicht wiederum einen Zugunstenbescheid beantragt. Zur Begründung dieses Begehrens hat er keine neuen Tatsachen und Gesichtspunkte vorgetragen, keine neuen Beweismittel benannt und nichts dargetan, was für die Unrichtigkeit der Vorentscheidungen sprechen könnte. Das hat das LSG ebenfalls verbindlich festgestellt. Wenn der Kläger nunmehr wegen einer von ihm angenommenen Verschlimmerung eine höhere Leistung als zuvor anstrebt, so ergibt sich nach § 44 SGB 10 oder § 40 KOVVfG keine andere Rechtslage (zu § 40 KOVVfG: BSG SozR 3900 § 40 Nr 3). Die Grundvoraussetzung ist dieselbe geblieben: Die Gesundheitsstörungen, die den Versorgungsanspruch begründen sollen, müßten - abweichend von den rechtskräftigen Urteilen - tatsächlich bestehen und außerdem wahrscheinlich durch schädigungsbedingte Einwirkungen des Kriegsdienstes verursacht worden sein. Die Verwaltung war auch nicht ersichtlich aufgrund anderer Erkenntnisse veranlaßt, ihre durch rechtskräftige Urteile bestätigten Entscheidungen erneut unter dem Gesichtspunkt einer Unrichtigkeit in Frage zu stellen (BSGE 45, 4 f). Die Gerichte waren ebenfalls nicht zur weiteren Sachaufklärung in dieser Richtung veranlaßt (BSG SozR 1500 § 103 Nr 16; 1500 § 109 Nr 1; BSG 14. Juni 1978 - 9 RV 52/77; BSG 5. März 1980 - 9 RV 41/80). Die Häufigkeit und Gründlichkeit rechtskräftig abgeschlossener Verfahren, zumal solcher nach § 40 KOVVfG, kann grundsätzlich das Ausmaß der Kontrolle durch die Verwaltung und damit durch die Gerichte beeinflussen. Was die Revision an Gesichtspunkten vorbringt, ist zu allgemein, als daß es den Beklagten und die beiden Tatsachengerichte zu neuer Sachprüfung hätte drängen können und müssen. Darin liegt nicht der geringste Anhalt für neue medizinische Erkenntnisse, die die vom Kläger behaupteten Leidenszustände anders, dh für ihn günstig, beurteilen lassen könnten. Diese Kontrolle kann das Revisionsgericht aufgrund ausreichender Feststellungen des LSG nachholen. Was die Tatsacheninstanzen noch zusätzlich hätten aufklären müssen, hat die Revision nicht substantiiert dargelegt.
Somit hat das Rechtsmittel im Ergebnis keinen Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1646677 |
Breith. 1981, 927 |