Entscheidungsstichwort (Thema)

Notwendige Streitgenossenschaft. Prozeßführungsrecht

 

Orientierungssatz

1. Im Prozeß sind der Träger der Sozialhilfe und der Inhaber des Anspruchs, der Versicherte, notwendige Streitgenossen (§ 74 SGG iVm § 62 ZPO) (vgl BSG 1981-08-04 5a/5 RKn 6/80 mwN). Dies gilt entsprechend im Vorverfahren (§ 78 SGG).

2. Die sich aus § 74 SGG iVm § 62 ZPO auch für das Vorverfahren ergebende Vertretungswirkung des "fleißigen" Streitgenossen im Verhältnis zum säumigen Streitgenossen geht nicht so weit, daß der zum Widerspruchsverfahren gemäß § 62 Abs 2 ZPO lediglich zuzuziehende Streitgenosse gegen den Widerspruchsbescheid selbständig Klage erheben könnte (Anschluß an BSG 1971-07-30 2 RU 241/68 = SozR Nr 7 zu § 62 ZPO).

 

Normenkette

SGG § 74 Fassung: 1953-09-03, § 78 Fassung: 1974-07-30; ZPO § 62 Abs 2; RVO § 1538; RKG § 109 Abs 2

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 26.02.1980; Aktenzeichen L 6 KnV 1378/79)

SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 05.07.1979; Aktenzeichen S 2 KnV 681/79)

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Knappschaftsruhegeld für die Zeit vom 18. September 1977 bis 30. September 1977.

Die 1909 geborene Klägerin ist Vertriebene. Während ihrer Verschleppung nach Rußland war sie in der Zeit von Dezember 1947 bis Oktober 1954 im Bergbau tätig. Nach ihrer Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland am 18. September 1977 erhielt sie zunächst ab September 1977 Sozialhilfe vom Sozialamt des Landkreises L. Im Oktober 1977 stellte das Landratsamt L. der Klägerin den Vertriebenenausweis A aus. Die Beklagte gewährte ihr mit Bescheid vom 31. Oktober 1978 auf Antrag vom 23. September 1977 Knappschaftsruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres nach einem am 8. Juli 1974 eingetretenen Versicherungsfall ab 1. Oktober 1977. Der Rentenberechnung lagen außer Ersatz- und Ausfallzeiten nur Versicherungszeiten nach den §§ 15 und 16 des Fremdenrentengesetzes (FRG) zugrunde.

Gegen den Bescheid der Beklagten vom 31. Oktober 1978 legte der Landkreis L. gemäß § 109 Abs 2 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) iFm § 1538 Reichsversicherungsordnung (RVO) Widerspruch ein, den die Beklagte mit Bescheid vom 9. Februar 1979 gegenüber dem Landkreis zurückwies.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen (Urteil vom 5. Juli 1979). Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 26. Februar 1980 das Urteil des SG aufgehoben und die Bescheide der Beklagten abgeändert sowie die Beklagte verurteilt, der Klägerin Knappschaftsruhegeld bereits ab 18. September 1977 zu gewähren.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt die unrichtige Anwendung des § 82 Abs 1 Satz 1 RKG.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin

zurückzuweisen.

Die Klägerin ist in der Revisionsinstanz nicht durch einen vor dem Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Prozeßbevollmächtigten (§ 166 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) vertreten.

 

Entscheidungsgründe

Auf die Revision ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß die Klage nicht als unbegründet, sondern unzulässig abzuweisen war. Die Klage der Klägerin war unzulässig, weil die Klägerin selbst den Bescheid vom 31. Oktober 1978 gegen sich hatte wirksam werden lassen.

Verfahrensmängel, die das Verfahren als Ganzes unzulässig machen, sind auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu beachten (vgl BSGE 25, 235, 236 mwN). Zu den von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensvoraussetzungen gehört auch die Zulässigkeit der Klage (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 25. Februar 1981, 5a/5 RKn 16/79 mwN). Bei dieser Prüfung der unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen sind auch in der Revisionsinstanz neue Tatsachen von Amts wegen zu berücksichtigen. Insoweit besteht keine Beschränkung des Revisionsgerichts auf Tatsachen, die vom Berufungsgericht festgestellt sind (vgl Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 2. aufl, § 163, Anm 5 mwN). Gegen den Bescheid der Beklagten hatte die Klägerin keinen Widerspruch eingelegt. Vielmehr war dies allein durch das Landratsamt L. im eigenen Namen und aufgrund eigenen Rechts geschehen. Es berief sich dabei nämlich ausdrücklich auf die §§ 109 Abs 2 RKG, 1538 RVO, die ihm die Möglichkeit geben, Ansprüche der Klägerin eigenen Namens geltend zu machen, allerdings mit dem Antrag auf Leistung an die Klägerin (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band III S 972 k). Diese Geltendmachung des materiellen Anspruchs der Klägerin durch das Landratsamt L. führte nicht gleichzeitig zu einer Anfechtung namens der Klägerin. § 1538 RVO gibt dem ersatzberechtigten Träger der Sozialhilfe ein eigenes Recht der Rechtsverfolgung (im Prozeß Prozeßführungsrecht oder Prozeßstandschaft genannt). Nur kraft dieses eigenen Rechts legte der Landkreis, wie er zum Ausdruck brachte, Widerspruch ein.

Im Prozeß sind der Träger der Sozialhilfe und der Inhaber des Anspruchs, der Versicherte, notwendige Streitgenossen (§ 74 SGG iVm § 62 Zivilprozeßordnung -ZPO-); vgl Urteil des erkennenden Senats vom 4. August 1981, 5a/5 RKn 6/80 mwN). Dies gilt entsprechend im Vorverfahren (§ 78 SGG). Danach werden bei Fristversäumnis die säumigen Streitgenossen als durch die nicht säumigen vertreten angesehen (§ 62 Abs 1 ZPO) und die säumigen Streitgenossen sind auch zum späteren Verfahren zuzuziehen (§ 62 Abs 2 ZPO).

Obwohl die Klägerin gegen den Bescheid vom 31. Oktober 1978 keinen Widerspruch eingelegt hatte, galt sie somit im Vorverfahren vom Landratsamt L. als vertreten und war zu diesem Verfahren zuzuziehen (vgl Meyer-Ladewig aaO, § 78 Anm 4 mwN). Dies hat im Vorverfahren zu einer gegen beide Streitgenossen einheitlichen sachlichen Entscheidung geführt. Der Widerspruchsführer (Landratsamt L.) hat indes das Verfahren nach Erlaß des ablehnenden Widerspruchsbescheides nicht mehr weiterbetrieben. Die Klägerin war dazu nicht befugt. Der erkennende Senat ist im Anschluß an die Entscheidung des BSG vom 30. Juli 1971 - 2 RU 241/68 - (SozR Nr 7 zu § 62 ZPO) der Auffassung, daß die sich aus § 74 SGG iVm § 62 ZPO auch für das Vorverfahren ergebende Vertretungswirkung des "fleißigen" Streitgenossen im Verhältnis zum säumigen Streitgenossen nicht so weit geht, daß der zum Widerspruchsverfahren gemäß § 62 Abs 2 ZPO lediglich zuzuziehende Streitgenosse gegen den Widerspruchsbescheid gleichwohl selbständig Klage erheben könnte.

Das BSG hat diese Möglichkeit im Urteil vom 30. Juli 1971 unter Hinweis auf die im einschlägigen Schrifttum vertretenen gegensätzlichen Meinungen zwar für den Fall verneint, daß ein notwendiger Streitgenosse seinen zunächst eingelegten Rechtsbehelf wieder zurückgenommen hat. Nach Ansicht des erkennenden Senats kann aber nichts anderes gelten, wenn sich ein notwendiger Streitgenosse - wie hier die Klägerin - seines Rechtsbehelfs (Widerspruch) von vornherein durch Nichteinlegen begeben hat, es also - bei insoweit gleicher Interessenlage - einer Rücknahme nicht bedurfte. Auch in diesem Fall muß der vom BSG aaO betonte Aspekt maßgeblich sein, daß der durch § 62 Abs 2 ZPO im Verfahren des "fleißigen" Streitgenossen lediglich zugezogene Streitgenosse keine selbständige, zur Einlegung von Rechtsbehelfen oder Rechtsmitteln berechtigende Position, sondern lediglich eine vom Verhalten des "fleißigen" Streitgenossen abhängige Parteistellung erlangt hat. Im vorliegenden Fall bedeutet dies, daß die Klägerin mit ihrem Begehren nur dann noch hätte Erfolg haben können, wenn das Landratsamt L. - als Vertreter des Landkreises - gegen den Widerspruchsbescheid vom 9. Februar 1979 Klage erhoben hätte. Da das Landratsamt die Klageerhebung unterließ, blieb diese auch der Klägerin versagt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652520

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