Beteiligte
Beschwerdeausschuß-Ärzte, Unterfranken |
3. BKK-Landesverband Bayern |
1. Kassenärztliche Vereinigung Bayerns |
2. AOK Bayern – Die Gesundheitskasse, Zentrale |
4. Landesverband der Innungskrankenkassen in Bayern |
5. Landwirtschaftliche Krankenkasse Oberbayern |
Tenor
Die Revisionen des Beklagten und der Beigeladenen zu 1) und 2) werden mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß der Beklagte bei seiner Neubescheidung die Rechtsauffassung des erkennenden Senats zu beachten hat.
Der Beklagte und die Beigeladenen zu 1) und 2) tragen je zu einem Drittel die Kosten der Kläger für das Revisionsverfahren.
Tatbestand
I
Die Kläger zu 1) und 2), beides praktische Ärzte, sind seit dem Quartal III/92 in einer Gemeinschaftspraxis tätig. Der Kläger zu 2) führt die Zusatzbezeichnung „Chirotherapie”. Die Kläger behandelten in diesem Quartal 1.479 Versicherte und lagen damit je Arzt um 60,5 % über dem Fachgruppendurchschnitt von 461 Behandlungsfällen (Rentneranteil: 34,0 %; Fachgruppe: 33,3 %). Sie überschritten nach der Umrechnung der Fachgruppenwerte auf ihren Rentneranteil im Primärkassenbereich den Durchschnittsfallwert um 47,3 % und den Durchschnittsaufwand bei den Sonderleistungen um 133,4 % (341,1 Punkte im Vergleich zu 146,1 Punkten). Einen unterdurchschnittlichen Aufwand hatten sie dagegen unter anderem bei den Überweisungen an andere Ärzte (33,6 % im Vergleich zu 41,2 %).
Auf Antrag der zu 2) bis 5) beigeladenen Krankenkassen(-verbände) setzten der Prüfungsausschuß und – dessen Entscheidung bestätigend – der beklagte Beschwerdeausschuß die Honorarforderung der Kläger für Sonderleistungen um 20 % (ca 100.000 Punkte) herab (Bescheide des Prüfungsausschusses vom 20. Januar 1993 und des Beklagten vom 5. Juli 1993). In dem Bescheid des Beklagten ist ausgeführt, daß nach dem statistischen Fallkostenvergleich mit den Durchschnittswerten der Allgemein-/praktischen Ärzte die Überschreitung bei den Sonderleistungen im Bereich des „offensichtlichen Mißverhältnisses” liege. Das begründe zwar die Vermutung der Unwirtschaftlichkeit. Aber den Klägern, die sich auf die Eigenart ihrer Landpraxis mit einem ungewöhnlich großen Leistungsspektrum und kontinuierlicher Betreuung – ohne Urlaubsunterbrechungen – beriefen, seien Einsparungen bei ihrer Überweisungstätigkeit anzuerkennen. Die Unterschreitung des Fachgruppendurchschnitts betrage hier 8 %, was bei ihren insgesamt 1.479 Fällen ca 118 Fällen entspreche und bei einem geschätzten Aufwand je eingespartem Überweisungsfall von ca DM 100 eine Einsparung von ca 120.000 Punkten bzw – umgerechnet auf die 1.479 Fälle – je Fall ca 80 Punkten ergebe. Die weiteren geltend gemachten Einsparungen könnten nicht anerkannt werden. Würden die 80 Punkte und noch eine Streubreite von 20 % (von 146,1 = 29,22 Punkte) berücksichtigt, so verbleibe immer noch ein unwirtschaftlicher Mehraufwand von über 30 %. Von einer höheren Kürzung, als sie der Prüfungsausschuß mit 20 % der Honorarforderung für Sonderleistungen vorgenommen habe, werde abgesehen, da es sich um das erste Abrechnungsquartal der Gemeinschaftspraxis handele.
Gegen diesen Bescheid haben die Kläger das Sozialgericht erfolglos angerufen (Urteil vom 8. November 1994). Auf ihre Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) den Bescheid des Beklagten aufgehoben und diesen zur erneuten Entscheidung über ihren Widerspruch verurteilt (Urteil vom 12. Juni 1996). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, die vom Beklagten anerkannten Einsparungen von 80 Punkten je Behandlungsfall hätten nach der jüngeren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) schon auf der sog ersten Stufe berücksichtigt, also von dem Fallwert von 341,1 Punkten abgezogen werden müssen, so daß dieser mit 261,1 Punkten den gewichteten Durchschnittsfallwert der Fachgruppe von 146,1 Punkten nur noch um 78,7 % überschreite. Nach Abzug der Streubreite von 20 % (von 341,1 Punkten, also 68,2 Punkten) verbleibe ein Fallwert von 192,9 Punkten. Die Überschreitung des Fachgruppenwertes (146,1 Punkte) liege mit nur 32 % nicht mehr im Bereich des offensichtlichen Mißverhältnisses, sondern eindeutig in der Übergangszone, so daß der Bescheid insoweit näherer Begründung bedurft hätte. Diese habe der Beklagte nicht gegeben, da er infolge einer rechtsfehlerhaften quantitativen Berücksichtigung der Einsparungen nicht erkannt habe, daß er in die Übergangszone kürze.
Mit ihren vom Berufungsgericht zugelassenen Revisionen machen der Beklagte und die Beigeladenen zu 1) und 2) geltend, das LSG halte den Bescheid zu Unrecht für rechtswidrig. Wenn Praxisbesonderheiten und kompensierende Einsparungen schon auf der sog ersten Stufe – und damit vor der Feststellung des offensichtlichen Mißverhältnisses – zu berücksichtigen seien, müßten folgerichtig die Anforderungen an das Vorliegen eines offensichtlichen Mißverhältnisses reduziert werden. Hierfür müßten, jedenfalls in Fällen der hier vorliegenden Art, Überschreitungen um 30 % ausreichen; deshalb seien nähere Darlegungen im Bescheid nicht erforderlich gewesen.
Der Beklagte und die Beigeladenen zu 1) und 2) beantragen,
- das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. Juni 1996 aufzuheben und die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 8. November 1994 zurückzuweisen,
- hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revisionen zurückzuweisen.
Sie halten die Revisionen für unbegründet. Zu Recht habe das LSG eine Restüberschreitung von 32 % als unterhalb des Bereichs des offensichtlichen Mißverhältnisses liegend angesehen. Diese Überschreitung könne allenfalls bei hoher Homogenität der Fachgruppenwerte für ein offensichtliches Mißverhältnis ausreichen. Dies sei nicht erkennbar. Die Homogenität werde auch nicht durch Herausrechnung von Praxisbesonderheiten und kompensierenden Einsparungen höher. Das Ermessen des Beklagten sei auf eine Überschreitung um 80 % bezogen, so daß es hinsichtlich der tatsächlichen Überschreitung um nur 32 % nicht sachgerecht ausgeübt worden sei, wie das LSG zutreffend festgestellt habe.
Entscheidungsgründe
II
Die Revisionen sind nicht begründet. Im Ergebnis zu Recht hat das Berufungsgericht den Honorarkürzungsbescheid des Beklagten vom 5. Juli 1993 aufgehoben und diesen zur Neubescheidung verurteilt.
Dem angefochtenen Bescheid liegt als Rechtsgrundlage die Regelung des § 106 Abs 2 Satz 1 Nr 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in der bis zum 31. Dezember 1992 geltenden Fassung des Gesundheits-Reformgesetzes (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I 2477) zugrunde, wonach die Wirtschaftlichkeit der Versorgung durch arztbezogene Prüfung ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten geprüft wird. Nach den hierzu von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen werden die Abrechnungswerte des Arztes mit denjenigen der Fachgruppe verglichen. Falls der Mehraufwand bei dem Gesamtfallwert, bei Spartenwerten oder bei Einzelleistungswerten im Vergleich zum Durchschnittswert der Vergleichsgruppe in einem offensichtlichen Mißverhältnis steht, kann das Honorar gekürzt werden (vgl zuletzt BSG, Urteil vom 5. November 1997 – 6 RKa 1/97 –, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Der Beklagte kürzte in dem angegriffenen Bescheid den überdurchschnittlichen Aufwand der Kläger bei den Sonderleistungen, wobei er zu ihren Gunsten davon ausging, daß dem erhöhten Aufwand kompensierende Einsparungen bei den Überweisungen der Kläger an andere Ärzte gegenüberstünden, so daß sich erst nach der Reduzierung um einen pauschalen Betrag von 80 Punkten je Fall der als unwirtschaftlich zu beurteilende Mehraufwand ergebe.
Diese Vorgehensweise verstößt gegen die von der Rechtsprechung des Senats entwickelten Grundsätze bei der Berücksichtigung von Mehraufwand und kompensierenden Einsparungen und führt zur Rechtswidrigkeit des Bescheides. Zu diesem Ergebnis ist auch das LSG gelangt. Nicht gefolgt werden kann allerdings seiner Begründung, nach der sich die Rechtswidrigkeit des Bescheides schon daraus ergeben soll, daß der Beklagte das Vorliegen von kompensierenden Einsparungen nicht bereits auf der ersten Stufe der Wirtschaftlichkeitsprüfung berücksichtigt habe, so daß er bei einer Überschreitung des Vergleichsgruppendurchschnittswertes um 32 % in den Bereich der Übergangszone hineingekürzt habe, was ohne nähere Begründung nicht hätte geschehen dürfen. Die Nichteinhaltung der vom Senat in dem Urteil vom 9. März 1994 (BSGE 74, 70, 72 = SozR 3-2500 § 106 Nr 23 S 125 f) herausgestellten Prüfungsfolge führt nicht zwingend zur Rechtswidrigkeit des Kürzungsbescheides. Es reicht vielmehr aus, wenn sich der Beschwerdeausschuß erkennbar mit den vorgetragenen Praxisbesonderheiten und den geltend gemachten Einsparungen in gründlicher und nachvollziehbarer Weise auseinandergesetzt und sie ggf berücksichtigt hat (vgl BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 39 S 217). Auch die Ausführungen des LSG, daß der Beklagte mit der Belassung einer Überschreitung von nur 32 % in die sogenannte Übergangszone hineingekürzt habe, trägt nicht die Beurteilung des Bescheides als rechtswidrig. Da die Praxisbesonderheiten schon auf der ersten Stufe der Prüfung nach Durchschnittswerten zu berücksichtigen sind, können die Prüfgremien die Grenze zum offensichtlichen Mißverhältnis niedriger ansetzen, als dies nach den Maßstäben der früheren Rechtsprechung der Fall war (vgl BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 41).
Der Bescheid des Beklagten erweist sich jedoch deshalb als rechtswidrig, weil er das Vorliegen von kompensierenden Einsparungen fehlerhaft angenommen hat.
Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl zuletzt: Urteil vom 5. November 1997 – 6 RKa 1/97 –) kann ein Mehraufwand in einem Bereich der ärztlichen Behandlung/Verordnung nur dann durch anderweitige Einsparungen als kompensiert angesehen werden, wenn belegt bzw nachgewiesen ist, daß gerade durch den Mehraufwand die Einsparungen erzielt werden und daß diese Behandlungsart medizinisch gleichwertig sowie auch insgesamt kostensparend und damit wirtschaftlich ist. Dabei ist zunächst zu prüfen, ob die Mehraufwendungen nicht auf anzuerkennenden Praxisbesonderheiten beruhen, die notwendigerweise Einsparungen in anderen Bereichen zur Folge haben. Die Prüfung, ob Praxisbesonderheiten gegeben sind, ist somit logisch vorrangig vor der Prüfung, ob Einsparungen erzielt worden sind. Das heißt allerdings nicht, daß Mehraufwendungen nur dann als Praxisbesonderheit anerkannt werden könnten, wenn mit ihnen Einsparungen zusammenhängen; vielmehr kann es auch Praxisbesonderheiten geben, die Einsparungen nicht nach sich ziehen. Besteht ein Kausalzusammenhang zwischen Praxisbesonderheiten und Einsparungen nicht, ist festzustellen, ob hiervon unabhängig Einsparungen vorliegen, die sich anhand der Abrechnungsstatistik eindeutig belegen lassen oder aus anderen Gründen auf der Hand liegen (vgl BSGE 71, 194, 201 = SozR Nr 3-2500 § 106 Nr 15 S 93). Weiterhin muß der methodische Zusammenhang, aufgrund dessen der Arzt in einer bestimmten Art von Behandlungsfällen vermehrt Leistungen erbracht und zugleich Einsparungen erzielt hat, aufgezeigt und festgestellt werden. Ferner müssen die erbrachten Leistungen den ersetzten Leistungen medizinisch gleichwertig sein. Schließlich muß der Kostenvergleich ergeben, daß der Mehraufwand insgesamt nicht höher ist als die erzielten Einsparungen.
Der angefochtene Bescheid des Beklagten trägt dem aufgezeigten Grundsatz, daß zunächst zu klären ist, ob und inwieweit Praxisbesonderheiten vorliegen und ob mit ihnen die geltend gemachten Einsparungen einhergehen, nicht Rechnung. In ihm werden ohne konkreten Bezug zu bestimmten Praxisbesonderheiten Einsparungen festgestellt und den Klägern die im Vergleich zur Fachgruppe geringere Überweisungszahl von 8 % insgesamt mit dem pauschalierten Betrag von 100,– DM je eingespartem Überweisungsfall anerkannt. In dem Bescheid heißt es lediglich, daß damit das große Leistungsspektrum, insbesondere die von den Klägerin in ihrem Widerspruchsschreiben aufgeführten Leistungsbereiche, berücksichtigt werde. Ob hierin Praxisbesonderheiten gesehen werden, läßt der Bescheid nicht erkennen. Bei der erneuten Überprüfung ist zu beachten, daß allein aufgrund eines breiteren Leistungsspektrums Praxisbesonderheiten nicht anerkannt werden können. Vielmehr muß dieses mit einem entsprechenden Patientenzuschnitt im Zusammenhang stehen, der zB durch eine spezifische Qualifikation des geprüften Arztes etwa aufgrund einer Zusatzbezeichnung bedingt sein kann (vgl BSG SozR 2200 § 368n Nr 49 S 166). Sind danach Praxisbesonderheiten bei den Klägern festzustellen, müssen sie in ihren Auswirkungen auf deren Fallwert unter Berücksichtigung eventueller durch sie erzielter Einsparungen quantifiziert werden. Liegen darüber hinaus Einsparungen vor, die nicht durch die anzuerkennenden Praxisbesonderheiten verursacht sind, ist zu prüfen, ob und in welchem Ausmaß sie durch einen weiteren Mehraufwand der Ärzte in anderen Leistungsbereichen bedingt sind und diesen kompensieren können. Hinsichtlich der hier als kompensationsfähige Einsparung herangezogenen geringeren Zahl der Überweisungen an Fachärzte ist zu berücksichtigen, daß die nur statistische Feststellung, die Kläger hätten 8 % weniger Überweisungen als der Durchschnitt der Fachgruppe, für die Anerkennung als kompensationsfähige Einsparung nicht ausreicht. Die statistischen Befunde bedürfen der Ergänzung durch medizinisch-ärztliche Gesichtspunkte (vgl zB BSGE 74, 70, 71 f = SozR 3-2500 § 106 Nr 23 S 125 f; BSGE 76, 53, 56 f = SozR aaO Nr 26 S 147 f). Dabei ist zu beachten, daß eine geringe Überweisungshäufigkeit nur einen begrenzten Aussagewert hat; denn der Arzt kann es in gewissem Umfang beeinflussen, wieviele Überweisungen an Fachärzte seine Abrechnungsunterlagen ausweisen. Er kann nämlich auch ohne förmliche Ausstellung von Überweisungen Patienten zum Aufsuchen von Fachärzten veranlassen (vgl Urteil des Senats vom 5. November 1997 – 6 RKa 1/97 –).
Nach alledem hat das LSG den angefochtenen Bescheid im Ergebnis zu Recht aufgehoben. Daher hat der Senat die Revisionen des Beklagten und der Beigeladenen zu 1) und 2) zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und 4 Sozialgerichtsgesetz.
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 28.01.1998 durch Schuppelius Amtsinspektor Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen