Entscheidungsstichwort (Thema)

Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung

 

Orientierungssatz

1. Grundsätzlich entscheidet das Gericht nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 128 SGG). Es überschreitet jedoch dann die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung, wenn es ohne stichhaltige und durchgreifende Gründe über die Beurteilung medizinischer Fragen durch die Sachverständigen hinweggeht und seine eigene Auffassung an deren Stelle setzt.

2. Eine gesetzliche Beweisregel des Inhalts, daß die anspruchsbegründenden Tatsachen im Zweifel zugunsten desjenigen, der einen Versorgungsanspruch geltend macht, als feststehend anzunehmen seien, gibt es nicht (vgl BSG vom 1957-10-24 10 RV 945/55 BSGE 6, 70); auch dann nicht, wenn allein die Wahrscheinlichkeit (§ 1 Abs 3 BVG) in Frage steht.

 

Normenkette

SGG § 128; BVG § 1 Abs. 3

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 22.10.1959)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. Oktober 1959 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I. Der 1903 geborene Kläger, von Beruf Landwirt, hatte von April 1942 an Wehrdienst geleistet. 1943 nach mehrmaligem Lazarettaufenthalt als "g. v. H." entlassen, erlitt er nach seinen Angaben im Mai 1944 bei seiner Einheit nach einem Sturz vom Pferd eine Brustprellung mit Bluterguß, die erneute Lazarettbehandlung (ua mit zweimaliger Punktierung auf der linken Rückenseite) - teils stationär, teils ambulant - erforderte und schließlich im Dezember 1944 zu seiner Entlassung aus der Wehrmacht als dienstunfähig führte. Danach sei er, da seine jugoslawische Heimat von den Russen besetzt worden war, auf dem Fluchtwege über Pommern nach Sachsen gekommen. Von Februar 1948 bis April 1949 stand der Kläger in Beobachtung der Tuberkulose-Beratungsstelle in Bad Liebenwerda, wo erstmals durch Röntgenaufnahme im Februar 1948 eine Lungentuberkulose festgestellt wurde. Im Mai 1951 übersiedelte er in die Bundesrepublik und wurde fortan von der Tuberkulose-Fürsorgestelle des Gesundheitsamts Bühl (Baden) betreut. Sein Antrag auf Versorgungsrente vom 20. November 1951 wurde wegen fehlender Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs des Lungenleidens mit dem Wehrdienst abgelehnt (Bescheid vom 1. Februar und Widerspruchsbescheid vom 21. April 1954). Das Sozialgericht (SG) erkannte dem Kläger Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in unterschiedlicher Höhe für die verschiedenen Zeitabschnitte nach dem 1. November 1951 zu (Urteil vom 9. April 1957). Die Berufung des Beklagten hiergegen blieb erfolglos, da nach Ansicht des Landessozialgerichts - LSG - (Urteil vom 22. Oktober 1959) die durch die Röntgenaufnahme 1948 in Bad Liebenwerda festgestellte und jetzt noch vorhandene Lungentuberkulose wahrscheinlich Folge einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sei. Das Berufungsgericht stützte seine Überzeugung, wenn es auch dem Gutachten des Lungenfacharztes Dr. S, der eine aus dem Unfall 1944 herrührende Brustwirbeltuberkulose mit anschließender lymphohaematogener Ausbreitung unter Herdsetzung in beiden Lungenspitzen annahm, wegen der überzeugend begründeten gegenteiligen Feststellungen des orthopädischen Gutachters Prof. K nicht folgen können, einmal darauf, daß es sich nach den gutachtlichen Darlegungen des Lungenfacharztes Dr. M vom 9. September 1956 sowie nach den gutachtlichen Andeutungen des Prof. G vom 18. Januar 1956 bei der im Februar 1948 festgestellten Tuberkulose des Klägers um das Aufflackern (Reaktivierung) eines älteren inaktiven Herdes gehandelt habe, und ferner darauf, daß nach dem allgemein anerkannten Grundsatz in den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen" (Neuausgabe 1958 S. 81) eine Lungentuberkulose auch dann noch als Schädigungsfolge angesehen werden könne, wenn sie innerhalb von zwei bis drei Jahren nach Beendigung des Wehrdienstes auftritt, sofern in diesem Zeitraum die Widerstandskraft des Erkrankten durch Schädigungsfolgen noch erheblich herabgesetzt war. Letztere Tatsache sei ua durch die vorzeitige Entlassung aus dem Wehrdienst und durch die nachfolgenden Lebens- und Gesundheitsverhältnisse des Klägers erwiesen.

Revision wurde nicht zugelassen.

II. Mit der gegen das ihm am 12. November 1959 zugestellte Urteil am 7. Dezember 1959 eingelegten und am 1. Februar 1960 (§ 164 Abs. 1 Satz 2 SGG) begründeten Revision rügt der Beklagte die Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) sowie fehlerhafte Beweiswürdigung (§ 128 SGG) seitens des LSG. Wenn der Kläger nach dem Gutachten von Prof. K niemals eine Brustwirbeltuberkulose durchgemacht habe und damit der Beurteilung von Dr. S die Grundlage entzogen sei, dann habe das Berufungsgericht die Frage des Zusammenhangs des Lungenleidens mit dem 1944 beendeten Wehrdienst nicht über die Schlußfolgerungen der anderen zuvor eingeholten Gutachten hinweggehend selbst aus dem in den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen" enthaltenen Grundsatz bejahen dürfen. Dieser stelle ausschließlich eine Richtlinie für die ärztliche Tätigkeit, also für eine Beurteilung tatsächlicher Art durch Sachverständige dar und habe weder den Charakter eines rechtserheblichen Verfahrenssatzes noch den von Verwaltungsvorschriften. Ob dieser rein naturwissenschaftliche Erfahrungssatz im konkreten Falle anzuwenden sei, könne nur durch den Sachverständigen beurteilt werden. Ein solcher sei aber nicht speziell hierzu gehört worden. Zudem ließen weder der Umstand, daß der Kläger 1944 wegen Dienstunfähigkeit aus der Wehrmacht entlassen wurde, noch daß er bereits 1943 g. v. H. geschrieben war, ohne ergänzende Sachaufklärung auf eine Schwächung seiner Widerstandskraft schließen.

III. Die Revision ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Der Beklagte rügt zu Recht, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel.

Grundsätzlich entscheidet das Gericht nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 128 SGG). Es überschreitet jedoch dann die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung, wenn es ohne stichhaltige und durchgreifende Gründe über die Beurteilung medizinischer Fragen durch die Sachverständigen hinweggeht und seine eigene Auffassung an deren Stelle setzt.

Das ist hier der Fall.

Daß die bei dem Kläger im Februar 1948 von der Tuberkulose-Fürsorgestelle in Bad Liebenwerda röntgenologisch ermittelten Lungenschäden älterer Natur waren und daß es sich hierbei wahrscheinlich um eine Reaktivierung einer älteren Lungentuberkulose handelt, ist im Gutachten des Facharztes für Lungenkrankheiten Dr. M vom 9. September 1956 festgestellt. Ebenso war der Gutachter Prof. Dr. G am 18. Januar 1956 zu der Annahme gelangt, daß hierbei ein älterer Erkrankungsprozeß vorliegt. Beide Gutachter waren indessen übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, daß das Lungenleiden des Klägers nicht mit genügender Wahrscheinlichkeit in einem ursächlichen Zusammenhang zu dem geleisteten Wehrdienst zu bringen ist. Ferner hatte Prof. K im Gutachten vom 5. Mai 1959 mit Sicherheit ausgeschlossen, daß der Kläger eine Wirbeltuberkulose an der Brustwirbelsäule durchgemacht hat. Von diesen medizinischen Tatsachenfeststellungen ausgehend, hatte das LSG die rechtlichen Schlußfolgerungen im Sinne des § 1 BVG zu ziehen. Es verließ aber den Bereich der rechtlichen Folgerungen und der rechtlichen Beurteilung, wenn es sich über die gutachtliche Stellungnahmen der Fachärzte hinwegsetzte und - obzwar Brückensymptome oder ähnliche Befunde nicht erweislich waren - gleichwohl die Zusammenhangsfrage (Wahrscheinlichkeit) aus der Vor- und Nachgeschichte der Krankheits- und Lebenssituation des Klägers bejahte und sich dabei zusätzlich auf den in den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen" niedergelegten Satz stützte, daß eine Lungentuberkulose auch dann noch als Schädigungsfolge angesehen werden kann, wenn sie innerhalb von zwei bis drei Jahren nach Beendigung des Wehrdienstes auftritt, sofern in diesem Zeitraum die Widerstandskraft des Erkrankten durch Schädigungsfolgen noch erheblich herabgesetzt war. Jener vom SG ebenfalls bereits zitierte "Grundsatz" stellt nämlich seinem Wesen und Inhalt nach nichts anderes als eine Richtlinie für die Arbeit der ärztlichen Sachverständigen dar. Ob diese aus der medizinischen Praxis und Wissenschaft gewonnene Erkenntnis für den konkreten Fall des Klägers zutrifft, kann nur durch einen ärztlichen Sachverständigen beurteilt werden. Im übrigen reichen aber auch die vom LSG für seine Entscheidung herangezogenen körperlichen und leistungsmäßigen Erscheinungen in der Person des Klägers sowie die schicksalsbedingten Umstände nicht dafür aus, um eine erhebliche Minderung von dessen Widerstandskraft durch Schädigungsfolgen mit genügender Wahrscheinlichkeit im Sinne von § 1 Abs. 3 BVG darzutun. Insoweit konnte sich das LSG ebenfalls nicht auf eigene Sachkunde stützen; es hätte sich vielmehr gedrängt fühlen müssen, über die noch zweifelhaften Punkte - namentlich über die offenbar unbestritten nach der Entlassung beim Kläger wahrzunehmenden Krankheits- und Schwächezustände und deren sachliche sowie zeitliche Fixierung - nähere Ermittlungen anzustellen. Hierzu wären auch entweder noch Ergänzungsgutachten einzuholen oder aber ein besonderer Gutachter zu beauftragen gewesen. Eine gesetzliche Beweisregel des Inhalts, daß die anspruchsbegründenden Tatsachen im Zweifel zugunsten desjenigen, der einen Versorgungsanspruch geltend macht, als feststehend anzunehmen seien, gibt es nicht (vgl. BSG 6, 70); auch dann nicht, wenn allein die Wahrscheinlichkeit (§ 1 Abs. 3 BVG) in Frage steht.

Das LSG konnte nach allem aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht die erforderliche Überzeugung gewinnen, daß der vom Kläger erhobene Anspruch versorgungsrechtlich begründet ist. Es fehlt hierfür an wesentlichen Feststellungen. Beweiserhebung und Beweiswürdigung des LSG sind bezüglich des ursächlichen Zusammenhangs unzureichend.

Mithin hat das LSG gegen §§ 103 und 128 Abs. 1 SGG verstoßen; das ist von der Revision zutreffend gerügt. Damit ist dieses Rechtsmittel statthaft.

IV. Die Revision ist auch begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf den gerügten wesentlichen Verfahrensmängeln. Es ist möglich, daß das Berufungsgericht bei einer erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts und bei einwandfreier Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens sachlich eine andere Entscheidung getroffen hätte.

Das Urteil des LSG muß daher aufgehoben werden. Da zur Entscheidung über den Anspruch des Klägers weitere Feststellungen erforderlich sind, kann der erkennende Senat selbst in der Sache nicht entscheiden; sie ist deshalb an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380081

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