Leitsatz (redaktionell)

Die als Vertriebene anerkannte Witwe hat auch dann Anspruch auf Witwenrente, wenn ihr Ehemann vor der Vertreibung gestorben ist.

 

Normenkette

FRG § 1 Buchst. a Fassung: 1960-02-25, § 16 Fassung: 1960-02-25; RVO § 1264 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13. Juli 1965 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin, die als Vertriebene im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) anerkannt ist, unter Anwendung des § 16 des Fremdrentengesetzes (FRG) die Witwenrente nach ihrem vor der Vertreibung verstorbenen Ehemann zusteht.

Ihr am 9. Mai 1962 gestellter Antrag wurde von der Beklagten abgelehnt. Auf die Klage hin hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte verpflichtet, der Klägerin vom 1. Januar 1959 an Witwenrente zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat das von der Beklagten angefochtene Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Nach den Feststellungen des LSG ist der Ehemann der Klägerin am 18. April 1928 in R (Sudetenland) verstorben. Er soll von 1922 bis 1928 bei den dortigen Verkehrsbetrieben beschäftigt gewesen sein. Die Klägerin hat im September 1949 ihren Wohnsitz in das Bundesgebiet verlegt. Das LSG hält den Anspruch der Klägerin nicht für begründet, weil die Voraussetzungen des § 1263 der Reichsversicherungsordnung (RVO), Art. 2 § 17 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) nicht erfüllt seien. Es hätte nicht nur des Nachweises oder wenigstens der Glaubhaftmachung von mindestens 200 Beitragswochen bedurft, darüber hinaus hätte nach den im Zeitpunkt des Todes des Ehemannes - 1928 - geltenden Bestimmungen die Anwartschaft erhalten sein müssen. Die Tätigkeit bei den Verkehrsbetrieben in Reichenberg sei über § 16 FRG auf die Wartezeit nicht anzurechnen. Hiernach komme es nämlich auf eine Tätigkeit "vor der Vertreibung" an, das bedeute, der Ehemann der Klägerin selbst hätte als Vertriebener im Sinne des BVFG anerkannt sein müssen. Die Vertriebeneneigenschaft der Klägerin sei in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung.

Das LSG hat die Revision zugelassen, die Klägerin das Rechtsmittel eingelegt. Sie rügt fehlerhafte Anwendung des § 16 FRG durch das LSG. Ihrer Auffassung nach führt die vom LSG vorgenommene Auslegung des § 16 FRG zu unbilligen Ergebnissen. Mit dem FRG habe der Gesetzgeber erreichen wollen, daß der Vertriebene in die Versichertengemeinschaft der neuen Heimat eingegliedert und so gestellt werde, als hätte er sein Arbeits- und Versicherungsleben in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt. In Fällen der hier zu entscheidenden Art könne es nicht anders sein. Es sei kein Grund ersichtlich, der es rechtfertigen könne, sie, die Klägerin, nur deshalb zu benachteiligen, weil ihr Ehemann bereits vor der Vertreibung verstorben sei.

Sie stellt den Antrag

unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Berufung der Beklagen gegen das Urteil des SG Würzburg vom 5. Juni 1963 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist zulässig und begründet. Das LSG hat den Rentenanspruch der Klägerin schon deshalb für unbegründet gehalten, weil § 16 FRG in dem vorliegenden Falle keine Anwendung finden könne und daher die Wartezeit nicht erfüllt sei. Der erkennende Senat vermag dieser Auffassung nicht zu folgen.

Die Klägerin gehört zu dem von dem FRG erfaßten Personenkreis. Dies ergibt sich aus § 1 Buchst. a FRG. Diese Bestimmung findet unmittelbar auf die Klägerin Anwendung, weil sie als Vertriebene anerkannt ist. Auf § 1 Buchst. e FRG - hiernach findet das Gesetz auch auf Hinterbliebene von Vertriebenen Anwendung - kommt es in diesem Zusammenhang nicht an; es ist unbedeutsam, daß der Ehemann der Klägerin bereits vor der Vertreibung verstorben ist, die Klägerin also nicht als Hinterbliebene eines Vertriebenen angesehen werden kann. Der grundsätzlichen Anwendung des § 16 FRG steht daher nichts im Wege. Hiernach ist eine nach vollendetem 16. Lebensjahr vor der Vertreibung in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des BVFG genannten ausländischen Gebieten - hierzu gehört das Sudetenland - verrichtete Beschäftigung einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung im Geltungsbereich des FRG für die Beiträge entrichtet sind, dann gleichzuachten, wenn die Beschäftigung - wäre sie im Bundesgebiet verrichtet worden - nach dem am 1. März 1957 geltenden Bundesrecht Versicherungspflicht in den gesetzlichen Rentenversicherungen begründet hätte. Die Entscheidung hängt in dem vorliegenden Falle davon ab, ob sich aus der Formulierung im § 16 FRG "vor der Vertreibung" ergibt, daß der im Sinne dieser Vorschrift Beschäftigte selbst Vertriebener sein oder gewesen sein muß.

Dem LSG - und damit auch der Beklagten - ist darin beizupflichten, daß der Wortlaut des § 16 FRG, für sich allein betrachtet, auf eine Auslegung in dem vorbezeichneten Sinne hindeuten könnte. Sie würde aber dem Sinn des Gesetzes widersprechen. Das FRG bezweckt in erster Linie eine Gleichstellung des hier begünstigten Personenkreises mit den einheimischen Versicherten. In § 16 FRG kommt dieser Eingliederungsgedanke in besonderem Maße zum Ausdruck. Hierdurch sollen diejenigen geschützt werden, "die gewaltsam aus ihren früheren Lebensverhältnissen herausgerissen wurden und die in diesen Verhältnissen begründete Sicherung gegen die Wechselfälle des Lebens verloren haben" (Reg.-Entwurf zu dieser Vorschrift).

Der Grundgedanke des Gesetzes läßt demnach eine unterschiedliche Behandlung von Hinterbliebenen eines Vertriebenen und vertriebenen Hinterbliebenen solcher Personen, die vor der Vertreibung gestorben sind, nicht zu. Dies hat das Bundessozialgericht (BSG) bereits in seiner Entscheidung vom 24. Februar 1966 (BSG 24, 251 ff) zum Ausdruck gebracht, in der dargetan ist, daß nach § 16 FRG "vor der Vertreibung" verrichtete Beschäftigungen, soweit es sich um die Gewährung von Leistungen an einen Hinterbliebenen handelt, auch dann anzurechnen seien, wenn nur der Hinterbliebene, nicht aber der Beschäftigte, vertrieben worden ist. Hiervon abzuweichen besteht jedenfalls dann kein Anlaß, wenn, wie hier, der Beschäftigte vor der Vertreibung gestorben ist. Dabei kann offenbleiben, ob eine andere Auslegung geboten erscheint, wenn andere Gründe als der vorzeitige Tod den Beschäftigten daran gehindert haben, selbst die Vertriebeneneigenschaft zu erwerben. Der vor der Vertreibung eingetretene Tod des Ehemannes der Klägerin hat die eventuelle Entstehung des Anspruchs auf Witwenrente nicht beeinflussen können.

Das BSG kann jedoch nicht abschließend entscheiden, weil es dafür an den im übrigen erforderlichen tatsächlichen Feststellungen durch das LSG - insbesondere über Art und Dauer der Beschäftigung des Ehemannes der Klägerin in der Tschechoslowakei - fehlt. Das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2373390

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