Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankengeld bei Präventionsmaßnahmen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Krankenversicherungsträger sind auch Präventionsträger.

2. Prävention meint den (noch) nicht kranken Menschen.

3. Die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung sind kraft Gesetzes, nicht kraft Satzung, verpflichtet, Krankengeld zu zahlen, wenn sie eine Maßnahme zur Verhütung von Erkrankungen als Sachleistung gewähren und der Versicherte ohne Anspruch auf Lohnfortzahlung dadurch gehindert ist, seine Erwerbstätigkeit auszuüben.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Wenn auch die RVO keine ausdrückliche Ermächtigung der Kassen enthält, Krankengeld für den Fall vorzusehen, in dem "andere Maßnahmen zur Verhütung von Erkrankungen" ein Kassenmitglied an der Erwerbstätigkeit hindern, ist deshalb die entsprechende Satzungsbestimmung noch nicht rechtswidrig. Denn das RehaAnglG verpflichtet die Krankenkasse grundsätzlich, auch im Falle von präventiven medizinischen Maßnahmen Krankengeld zu gewähren. Da bei allen medizinischen Maßnahmen im Rahmen der Behandlung und der Genesung Krankengeld vorgesehen ist, besteht, wenn eine Krankenkasse medizinische Prävention durchführt, von dem Plan des Gesetzes her gesehen kein Grund dafür, daß die wirtschaftliche Sicherung bei "anderen Maßnahmen der Verhütung von Erkrankungen" ausgeschlossen sein soll.

2. Zwar ist nicht jede einfache Erkrankung schon als Behinderung iS des § 1 Abs 2 RehaAnglG zu kennzeichnen; eine Erkrankung, die Verhütungsmaßnahmen nach § 187 Nr 2 RVO angezeigt erscheinen läßt, ist aber eine Erkrankung von einigem Gewicht und einiger Dauer und daher eine Behinderung iS des RehaAnglG.

3. Das heißt, Maßnahmen der Prävention nach § 187 Nr 2 RVO gehören zu den medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation iS des RehaAnglG (vgl §§ 1 Abs 2, 10).

 

Normenkette

RVO § 179 Fassung: 1975-08-28, § 186 Abs. 2 Fassung: 1930-07-26, Abs. 2 Fassung: 1974-08-07, §§ 187, 187 Fassung: 1977-06-27; RehaAnglG § 1 Abs. 2 Fassung: 1974-08-07, § 9 Abs. 1 Fassung: 1974-08-07, § 10 Fassung: 1974-08-07, § 13 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1974-08-07, S. 3 Fassung: 1974-08-07, § 2 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1974-08-07; RVO § 324 Abs. 2 Fassung: 1924-12-15, § 187 Nr. 2 Fassung: 1977-06-27

 

Verfahrensgang

SG Regensburg (Entscheidung vom 15.02.1979; Aktenzeichen S 8 Kr 61/71)

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darum, ob die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung (Kassen) in ihrer Satzung vorsehen dürfen, daß bei Maßnahmen zur Verhütung von Erkrankungen Krankengeld gezahlt werden kann.

Die Vertreterversammlung der klagenden Kasse beschloß am 20. Februar 1978, ihre Satzung § 187 der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzupassen, der durch das Krankenversicherungs- Kostendämpfungsgesetz (KVKG) vom 27. Juni 1977 (BGBl I 1069) geändert worden war. Entsprechend dem Musterentwurf des Bundesverbandes der Ortskrankenkassen entschied sie sich für folgenden Wortlaut des § 21 der Satzung:

"Mehrleistungen in der Krankenhilfe Absatz 1

Als Mehrleistungen gewährt die Krankenkasse nach Maßgabe von Richtlinien des Vorstandes 1. Zuschüsse zu den Kosten für Kuren, wenn diese nach vertrauensärztlicher Begutachtung erforderlich und geeignet sind,

a) eine Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde, zu beseitigen oder b) einer Gefährdung der normalen Entwicklung eines Kindes entgegenzuwirken, und diese Kur im Geltungsbereich der Reichsversicherungsordnung erbracht wird,

2. andere Maßnahmen zur Verhütung von Erkrankungen der einzelnen Kassenmitglieder,

3. Fürsorge für Genesende, vor allem durch Unterbringung in einem Genesungsheim.

In den Fällen der Nummer 1 Buchstabe a werden für Arbeitnehmer die gesamten Kosten übernommen.

Absatz 2

Arbeitnehmer, die durch die Teilnahme an Maßnahmen zur Verhütung von Erkrankungen (Abs 1 Nr 2) an der Arbeitsleistung verhindert sind, erhalten eine Geldleistung in entsprechender Anwendung der Vorschriften über das Krankengeld."

Mit Bescheid vom 19. Juni 1978 verweigerte das beklagte Land (Oberversicherungsamt) die Genehmigung des § 21 Abs 2 der Satzung. Nach § 179 Abs 3 RVO könne die "Geldleistung in entsprechender Anwendung der Vorschriften über das Krankengeld" nicht genehmigt werden, weil eine gesetzliche Ermächtigung fehle. Wenn die Kasse Rehabilitationsmaßnahmen durchführe, könne sie nur nach § 186 Abs 2 RVO Lohnersatz zahlen, nicht aber nach § 187 RVO.

Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage hatte Erfolg. Das Sozialgericht -SG- (Urteil des SG Regensburg vom 15. Februar 1979) hat den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, § 21 Abs 2 der Satzung zu genehmigen.

Der Beklagte hat mit Zustimmung der Klägerin die in dem angefochtenen Urteil zugelassene Sprungrevision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 179 Abs 3 und des § 187 Satz 2 RVO.

Er beantragt,

das Urteil des SG Regensburg vom 15. Februar 1979 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen.

Das SG hat zutreffend den Bescheid des Beklagten aufgehoben, mit dem er die Genehmigung des § 21 Abs 2 der Satzung der Klägerin versagt hat (§ 54 Abs 3 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-), denn die Satzung genügt insoweit den gesetzlichen Vorschriften (§ 324 Abs 2 RVO). Es hat zu Recht den Beklagten verurteilt, die Genehmigung zu erteilen; die Klägerin hat auch insoweit einen Anspruch auf Rechtsschutz gegen ihre Aufsichtsbehörden (vgl BSGE 29, 21, 24 zur erweiternden Auslegung des § 54 Abs 3 SGG).

Zwar fehlt eine gesetzliche Ermächtigung "eine Geldleistung in entsprechender Anwendung der Vorschriften über das Krankengeld" als Mehrleistung (§ 179 Abs 3 RVO) durch die Satzung einzuführen. Die Kasse ist aber, wenn sie die Mehrleistung "andere Maßnahmen zur Verhütung von Erkrankungen" (§ 187 Nr 2 RVO) gewährt und diese Maßnahmen den Versicherten daran hindern, seine Erwerbstätigkeit auszuüben, kraft Gesetzes verpflichtet, Krankengeld als Regelleistung (§ 179 Abs 1 Nr 1 RVO) zu zahlen. Diese gesetzliche Verpflichtung folgt aus § 13 Abs 1 Satz 3 und § 10 des Rehabilitationsangleichungsgesetzes (RehaAnglG) vom 7. August 1974 - BGBl I 1881 - iVm § 186 Abs 2 und § 187 RVO.

Nach § 13 Abs 1 Satz 1 RehaAnglG erhält der Behinderte auch dann Übergangsgeld, wenn er nicht arbeitsunfähig ist, sondern durch eine medizinische (oder berufliche) Maßnahme der Rehabilitation gehindert wird, eine ganztägige Erwerbstätigkeit auszuüben. Die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zahlen - nach Satz 3 dieser Vorschrift - entsprechend den Regelungen für das Übergangsgeld Krankengeld. Die Maßnahmen zur Verhütung von Erkrankungen, wie sie in § 187 Nr 2 RVO vorgesehen sind, sind medizinische Maßnahmen im Sinne des § 13 Abs 1 RehaAnglG. Nach § 10 RehaAnglG gehören zu den medizinischen Maßnahmen zur Rehabilitation auch die "Hilfen, die erforderlich sind, um einer drohenden Behinderung vorzubeugen". Insoweit sind Rehabilitation und Prävention gleichzusetzen. Dies hat das RehaAnglG bei der gesetzlichen Aufgabenstellung in § 1 Abs 2 hervorgehoben, wonach den Behinderten bei der Anwendung dieses Gesetzes diejenigen gleichstehen, denen eine Behinderung droht. Wenn auch das RehaAnglG die gleichsinnigen Begriffe Prävention, Vorbeugung, Vorsorge oder Prophylaxe nicht kennt, so umfaßt es doch unter dem insoweit nicht zutreffenden Begriff Rehabilitation auch die Prävention (vgl auch § 10 Abs 1 RehaAnglG). Prävention meint den (noch) nicht kranken Menschen, dem geeignete Maßnahmen zugewendet werden, die es verhindern sollen, daß er erkrankt oder - wie dies § 1 Abs 2 RehaAnglG ausdrückt -, daß ihm eine Behinderung droht. Zwar ist nicht jede einfache Erkrankung schon als Behinderung im Sinne des § 1 Abs 2 RehaAnglG zu kennzeichnen; eine Erkrankung, die Verhütungsmaßnahmen nach § 187 Nr 2 RVO angezeigt erscheinen läßt, ist aber eine Erkrankung von einigem Gewicht und einiger Dauer und daher eine Behinderung im Sinne des RehaAnglG (vgl Jung/Preuß, Rehabilitation, 2. Aufl § 1 Anm 5). Abgesehen davon, daß Prävention stets zwingenden Vorrang vor Rehabilitation hat, sind die Krankenversicherungsträger wegen des im RehaAnglG übergreifend und nicht nur die Rehabilitation, sondern gleichfalls die Prävention mitumfassenden Begriffs Rehabilitation sowohl Präventionsträger als auch Rehabilitationsträger (§ 1 Abs 2 iVm § 2 Abs 1 Nr 1 RehaAnglG). Daher ist die Klägerin als Träger der gesetzlichen Krankenversicherung kraft Gesetzes auch Präventionsträger. Als solcher hat er § 13 Abs 1 Satz 1 RehaAnglG zu berücksichtigen.

Der Anwendung des § 13 Abs 1 Satz 3 RehaAnglG steht nicht § 9 Abs 1 RehaAnglG entgegen. Nach dieser Vorschrift richten sich die Voraussetzungen, die Art und der Umfang der Leistungen eines Rehabilitationsträgers entsprechend den Grundsätzen der §§ 10 bis 20 dieses Gesetzes im einzelnen nach den für den Rehabilitationsträger geltenden besonderen Rechtsvorschriften. Die besonderen Rechtsvorschriften über die Zahlung von Krankengeld lassen zwar eine ausdrückliche Regelung der Krankengeldzahlungspflicht bei Maßnahmen zur Verhütung von Erkrankungen vermissen. Die Entstehungsgeschichte des § 186 Abs 2 und des § 187 RVO - auf sie wird unten näher eingegangen - zeigt aber, daß diese Regelungslücke dahin ausgefüllt ist, daß wie bei Behandlungsmaßnahmen und Genesungsmaßnahmen auch bei Präventionsmaßnahmen die erforderliche wirtschaftliche Sicherung unabdingbar ist:

Nach § 186 Abs 2 RVO in der vor dem RehaAnglG geltenden Fassung hatte die Kasse wie bei Krankenhauspflege Krankengeld zu zahlen, wenn sie den Versicherten in einem Genesungsheim, Erholungsheim oder Kurheim untergebracht hatte. Genesungsmaßnahmen, Erholungsmaßnahmen und Kurmaßnahmen waren als Mehrleistungen der Satzung vorbehalten (vgl § 187 Nr 2 und 4 RVO in der vor dem KVKG geltenden Fassung). Die Kasse konnte aber in der Satzung nicht wirksam vorsehen, daß nur die Sachleistung, nicht aber die dadurch gebotene wirtschaftliche Sicherung gewährt werde. Dem Gesetz erschien die wirtschaftliche Sicherung so wichtig, daß es an die freiwillige Sachleistung die unabdingbare Krankengeldzahlungspflicht knüpfte.

An dieser notwendigen Verbindung von Sachleistung und Krankengeldzahlung hat sich weder durch das RehaAnglG noch durch das KVKG etwas geändert.

Nach § 186 Abs 2 RVO in der hier anwendbaren Fassung des RehaAnglG hat die Kasse Krankengeld zu zahlen, wenn sie dem Versicherten Behandlung mit Unterkunft und Verpflegung in einer Kureinrichtung oder Spezialeinrichtung oder Genesendenfürsorge in einem Genesungsheim gewährt. Die Krankengeldzahlungspflicht bei Unterbringung in einem Erholungsheim ist nicht mehr erwähnt. Daraus ist aber weder zu schließen, daß die Kasse diese Leistung nicht mehr erbringen dürfe, noch daß sie, wenn sie leistet, kein Krankengeld mehr zahlen müsse. Denn das RehaAnglG hat die Leistungspflichten der Kassen nicht eingeschränkt, sondern wesentlich erweitert (vgl § 21 RehaAnglG), und zwar auch im Bereich der Mehrleistungen (vgl § 187 Nr 3 RVO idF vor dem RehaAnglG und § 182b RVO). Es besteht kein Anhalt dafür, daß die Leistungspflichten der Kassen gerade bei der Mehrleistung zur Verhütung von Erkrankungen eingeschränkt werden sollten. Dem steht vor allen entgegen, daß das RehaAnglG - wie oben ausgeführt - die Kassen in den Kreis der Rehabilitationsträger aufgenommen (§ 2 Abs 1 Nr 1 RehaAnglG) und die Prävention ebenfalls zur Aufgabe der Rehabilitationsträger erklärt hat (§ 1 Abs 2 RehaAnglG).

Durch das KVKG ist allerdings das Recht zu Sachleistungen eingeschränkt worden: Vorbeugekuren werden nicht mehr gewährt, sondern nur noch mit Zuschüssen finanziert (§ 187 Nr 1 Buchst a RVO). Aber auch hier hat der Gesetzgeber dafür gesorgt, daß wenigstens durch die sechswöchige Lohnfortzahlung die wirtschaftliche Sicherung erreicht werden kann (§ 187 Satz 2 RVO iVm § 7 Abs 1 Lohnfortzahlungsgesetz).

Die anderen Leistungen zur Verhütung von Erkrankungen sind indessen Sachleistungen geblieben, und es besteht kein Grund anzunehmen, daß die notwendige Verbindung dieser Sachleistungen mit der erforderlichen wirtschaftlichen Sicherung aufgelöst werden sollte. Da das Gesetz sogar für die Zuschußleistung des § 187 Nr 1 RVO die Möglichkeit der wirtschaftlichen Sicherung vorgesehen hat, erscheint es ausgeschlossen, daß es bei der Sachleistung des § 187 Nr 2 RVO die wirtschaftliche Sicherung ausnahmsweise nicht für erforderlich erachtet hat. Auch angesichts des § 13 Abs 1 Satz 3 RehaAnglG hätte die Pflicht zur Krankengeldzahlung nur durch eine ausdrückliche Regelung ausgeschlossen werden können.

Die gesetzliche Verpflichtung zur Krankengeldzahlung konnte die klagende Kasse in ihrer Satzung deutlich machen (vgl Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Stand: Juli 1979, Bd II/3, § 323 Anm 1). Was die Kasse zu zahlen hat, ist zwar Krankengeld und nicht eine Geldleistung in entsprechender Anwendung der Vorschriften über das Krankengeld. Auch handelt es sich nicht um eine Mehrleistung, sondern um eine Regelleistung. Da § 21 Abs 2 der Satzung aber inhaltlich gesetzlichen Vorschriften nicht zuwider läuft und mit dem Zweck der Kasse vereinbar ist (vgl § 323), war die Beklagte nicht berechtigt, diese Satzungsregelung aufsichtsrechtlich zu beanstanden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 4 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 44

Breith. 1981, 1

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