Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung des Verwaltungsaktes. Rückforderung von Kindergeld. Atypik im Kindergeldrecht
Orientierungssatz
1. In den Fällen des § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB 10 kann die Frage, ob ein atypischer Fall gegeben ist, nicht losgelöst von der mit der Aufhebung des Verwaltungsaktes eng zusammenhängenden Rückforderung der überzahlten Leistung (hier: Kindergeld wegen rückwirkender Erhöhung der Ausbildungsvergütung) beurteilt werden (vgl BSG vom 11.1.1989 10 RKg 12/87 = SozR 1300 § 48 Nr 53).
2. Die Typik oder Atypik eines besonderen Sachverhalts muß auch danach beurteilt werden, ob und unter welchen Voraussetzungen die mit der Aufhebung des Verwaltungsakts zusammenhängende Rückerstattung der Leistung unbillig ist.
3. Im Falle einer möglichen Rückforderung der Leistung sind jedenfalls dann Ermessenserwägungen anzustellen, wenn die Leistung nicht nur gutgläubig angenommen, sondern auch in dem Glauben verbraucht worden ist, daß mit einer Rückforderung der Leistung nicht zu rechnen ist.
Normenkette
BKGG § 2 Abs 2 S 2; SGB 10 § 48 Abs 1 S 2 Nr 3, § 50 Abs 1
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 14.10.1988; Aktenzeichen L 1 Kg 12/86) |
SG Kiel (Entscheidung vom 09.09.1986; Aktenzeichen S 5 Kg 12/85) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte das dem Kläger für seinen am 15. November 1967 geborenen Sohn Silvan gewährte Kindergeld rückwirkend für die Monate Januar und Februar 1985 entziehen und zurückfordern durfte.
Der Kläger hatte das Kindergeld über Juli 1984 hinaus bezogen, weil sein Sohn Silvan nach Beendigung der Schulausbildung die Ausbildung zum Sozialversicherungsfachangestellten aufgenommen und zunächst eine Ausbildungsvergütung von weniger als 750,- DM monatlich erhalten hatte. Im Januar 1985 war die Ausbildungsvergütung durch Tarifvertrag rückwirkend ab 1. August 1984 auf 860,- DM erhöht worden. Die Nachzahlung des Differenzbetrages ist im Februar 1985 erfolgt.
Die Beklagte stellte mit dem Bescheid vom 1. März 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. März 1985 die Kindergeldzahlung für die Zeit ab März 1985 ein, entzog das Kindergeld rückwirkend ab Januar 1985 und forderte das für die Monate Januar und Februar 1985 gezahlte Kindergeld in Höhe von 100,- DM zurück.
Die Klage und die - vom Sozialgericht (SG) zugelassene - Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat die rückwirkende Neufeststellung und die Rückforderung des für die Monate Januar und Februar 1985 gezahlten Kindergeldes für rechtmäßig gehalten. Bei der Entscheidung gemäß § 2 Abs 2 Satz 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) komme es nur darauf an, daß dem Sohn des Klägers die Ausbildungsvergütung ab 1. August 1984 "zugestanden" habe. Das gelte jedenfalls dann, wenn - wie hier - der Anspruch auf die höhere Ausbildungsvergütung später erfüllt worden sei; § 48 Abs 1 Satz 3 des Sozialgesetzbuches - Zehntes Buch - (SGB X) führe hier dazu, den 1. August 1984 als Zeitpunkt der Änderung festzulegen. Es habe auch kein atypischer Fall iS des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X vorgelegen, so daß die Beklagte zur rückwirkenden Entscheidung verpflichtet gewesen sei.
Der Kläger trägt zur Begründung seiner - vom erkennenden Senat zugelassenen - Revision vor, die Beklagte habe im Rahmen der ihr nach § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X obliegenden Ermessensprüfung auch zu berücksichtigen, daß er - der Kläger - im Zeitpunkt des Empfanges des Kindergeldes für die streitige Zeit hinsichtlich der Höhe der Ausbildungsvergütung gutgläubig gewesen sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 14. Oktober 1988 und das Urteil des Sozial- gerichts Kiel vom 9. September 1986 sowie den Bescheid der Beklagten vom 1. März 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. März 1985 aufzuheben, soweit die Beklagte das Kindergeld für die Monate Januar und Februar 1985 entzogen und zurückgefordert hat.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden, nachdem die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet; sie führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.
Streitig ist die mit dem angefochtenen Bescheid erfolgte Entziehung des Kindergeldes für die Monate Januar und Februar 1985, nicht dagegen, soweit es sich um die Versagung für die Zukunft (ab März 1985) handelt.
Die Entscheidung der Beklagten ist rechtswidrig. Sie verletzt die die Vorschrift des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X.
Zwar liegt in der rückwirkenden Erhöhung der Ausbildungsvergütung eine wesentliche Änderung iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X vor. Der Sohn des Klägers Silvan hatte nämlich für die Zeit ab August 1984 aus dem Ausbildungsverhältnis Bruttobezüge in Höhe von mehr als 750,- DM monatlich erhalten, so daß er nach § 2 Abs 2 BKGG von da an nicht mehr als Kind berücksichtigt werden durfte. Für die Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X ist auch unerheblich, daß nicht der Kläger, sondern sein Sohn Silvan das zum Wegfall des Anspruchs führende Einkommen erzielt hatte (vgl erkennender Senat, SozR 1300 § 48 Nr 53 mwN).
Da nach § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X der Verwaltungsakt rückwirkend mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an nur aufgehoben werden "soll", wenn die in den Nrn 1 bis 4 dieser Vorschrift geregelten Voraussetzungen vorliegen, folgt bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes, daß die Behörde nicht in jedem Fall gezwungen ist, den Verwaltungsakt rückwirkend aufzuheben. Dies muß vielmehr nur im Regelfall geschehen. Ausnahmsweise kann die Behörde jedoch davon absehen (BSG aa0 mwN). Für diesen Ausnahmefall ist der Behörde ein Ermessen eingeräumt, welches sich auf die Entscheidung der Frage erstreckt, ob der Verwaltungsakt ganz oder teilweise aufgehoben oder von einer Aufhebung abgesehen werden soll. Dagegen ist die Frage, ob ein Ausnahmefall vorliegt, nicht Teil der Ermessensentscheidung (BSG 59, 111, 115).
Die Beklagte und die Vorinstanzen sind vom Vorliegen eines Regelfalles ausgegangen; sie haben dabei verkannt, daß hier über einen atypischen Fall iS des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X zu entscheiden ist, so daß die Beklagte von dem ihr in dieser Vorschrift eingeräumten Ermessen hätte Gebrauch machen müssen.
In den Fällen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X kann, wie der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat (vgl zuletzt SozR 1300 § 48 Nr 53; vgl auch Urteil vom 22. Februar 1989 - 10 RKg 9/88 -, nicht veröffentlicht), die Frage, ob ein atypischer Fall gegeben ist, nicht losgelöst von der mit der Aufhebung des Verwaltungsakts eng zusammenhängenden Rückforderung der überzahlten Leistung beurteilt werden. Die Pflicht zur Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen ist in § 50 Abs 1 SGB X nämlich ausschließlich an die Aufhebung des Verwaltungsaktes über die Gewährung der Leistung geknüpft. Demzufolge muß auch die Typik oder Atypik eines besonderen Sachverhalts danach beurteilt werden, ob und unter welchen Voraussetzungen die mit der Aufhebung des Verwaltungsakts zusammenhängende Rückerstattung der Leistung unbillig ist. Weiterhin kann die Frage, ob ein atypischer Fall vorliegt, nicht losgelöst davon beurteilt werden, welcher der in § 48 Abs 1 Satz 2 Nrn 1 bis 4 vorausgesetzten Tatbestände erfüllt ist (BSG SozR 1300 § 48 Nr 30).
Der erkennende Senat (SozR 1300 § 48 Nr 53) hat ferner bereits ausführlich begründet, daß im Falle des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X zwar der Eintritt bestimmter objektiver Bedingungen im Regelfall ausreicht, um einen Verwaltungsakt auch für die Vergangenheit aufzuheben, daß aber andererseits auch subjektive Zusammenhänge bei der Beantwortung der Frage, ob ein atypischer Fall vorliegt, im Rahmen der Beurteilung nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X nicht außer Betracht bleiben dürfen. Deshalb hat der Senat (aa0) berücksichtigt, ob die zu Unrecht erbrachte Leistung bei dem Leistungsempfänger - objektiv - noch vorhanden oder ob sie von ihm verbraucht bzw verwendet worden ist. Umstände, welche einen Ausnahmefall begründen, hat der Senat angenommen, wenn der Berechtigte die zu Unrecht gezahlte Leistung und das zugeflossene Einkommen in der gerechtfertigten Annahme verbraucht hat, einer Erstattungsforderung nicht ausgesetzt zu sein (BSG aa0). Dieser Rechtsprechung liegt die Annahme zugrunde, daß im Falle einer möglichen Rückforderung der Leistung jedenfalls dann Ermessenserwägungen anzustellen sind, wenn die Leistung nicht nur gutgläubig angenommen, sondern auch in dem Glauben verbraucht worden ist, daß mit einer Rückforderung der Leistung nicht zu rechnen ist. An dieser Abgrenzung hält der Senat auch unter Berücksichtigung des von der Beklagten angeführten Umstandes fest, daß die Tarifpartner die Lohn- und Ausbildungsvergütungen in Tarifverträgen oft rückwirkend erhöhen und die Differenzbeträge nach Vertragsabschluß nachgezahlt werden. Der Umstand, daß Tarifverträge auslaufen und über den Abschluß eines neuen Tarifvertrages verhandelt wird, macht den einzelnen Arbeitnehmer - hier den Kindergeldberechtigten, bei dem die dem Kind zu zahlende Vergütung berücksichtigt wird - noch nicht ohne weiteres bösgläubig. Nur soweit dem Kindergeldempfänger die Erhöhung der Ausbildungsvergütung bekannt war oder bekannt sein konnte, muß er Rückstellungen bilden, weil er dann sowohl mit der Nachzahlung der höheren Vergütung als auch mit der Rückforderung des überzahlten Kindergeldes rechnen muß. Insoweit ist auch zu beachten, daß jedenfalls bei einem in Ausbildung befindlichen Kind, das noch im Elternhaus lebt, dem kindergeldberechtigten Elternteil in der Regel die Umstände, die eine spätere Neufeststellung und Rückforderung erwarten lassen, zeitgleich mit der Kenntnis des Kindes von der Erhöhung der Ausbildungsvergütung bekannt werden können.
Das LSG hat - von seinem rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend - nicht geprüft, ob der Kläger das Kindergeld gutgläubig verbraucht hat. Wenn das der Fall sein sollte, könnte die verlangte Rückzahlung unbillig sein und infolgedessen Veranlassung bestehen, die rückwirkende Aufhebung des Leistungsbescheides von Ermessenserwägungen abhängig zu machen.
Das LSG wird die erforderlichen Feststellungen nachzuholen und auch über die Kosten des Revisions- und Beschwerdeverfahren zu entscheiden haben.
Fundstellen