Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflegeggeldhöhe
Beteiligte
28. Februar 1990 … Klägerin und Revisionsbeklagte |
Bundesrepublik Deutschland,vertreten durch die Bundespost - Ausführungsbehörde für Unfallversicherung,Tübingen 1, Europaplatz 2, Beklagte und Revisionsklägerin |
Landschaftsverband Westfalen-Lippe,Münster, Warendorfer Straße 26 - 28 |
Tatbestand
G r ü n d e :
I
Die Beteiligten streiten um die Höhe des Pflegegeldes.
Die Klägerin führt den Rechtsstreit als Sonderrechtsnachfolgerin ihres Ehemannes H. W. (Verletzter) fort.
Der während des Berufungsverfahrens verstorbene Verletzte bezog nach einem Unfall im Betrieb der Deutschen Reichspost am 30. November 1938 wegen des Verlustes des linken Auges als Unfallfolge eine Dauerrente von 25 vH der Vollrente (Bescheid des Leiters des Amtes für Unfallversicherung der Deutschen Reichspost vom 6. Februar 1940), für die ihm die Beklagte gemäß § 616 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) aF eine Kapitalabfindung gewährt hatte (Bescheid vom 9. Mai 1955). Als später beim Verletzten unfallunabhängig die Sehkraft auch des rechten Auges auf 1/50 der vollen Sehkraft herabgesunken und er damit praktisch blind geworden war, gewährte ihm die Beklagte vom 17. Januar 1983 ab Pflegegeld in Höhe von 30 % des Höchstbetrages nach § 558 Abs 3 RVO. Zur Begründung der Höhe des Pflegegeldes führte sie aus, unter Berücksichtigung der Anhaltspunkte des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften gehe sie von einem Pflegegeld für Erblindete oder praktisch Erblindete von 60 % des Höchstbetrages aus. Da der Verlust der Sehkraft des Verletzten aber nur zur Hälfte Folge des Arbeitsunfalls sei, könne ihm nur die Hälfte dieses Satzes gewährt werden, denn es liege kein überzeugender Grund vor, den gesamten Schaden durch Pflegegeld aus der Unfallversicherung abzugelten, wenn die Hälfte des Schadens nicht mit dem Arbeitsunfall in Zusammenhang zu bringen sei (Bescheid vom 27. Juni 1984, Widerspruchsbescheid vom 9. Oktober 1984).
Demgegenüber hat das Sozialgericht (SG) Münster die Auffassung vertreten, das Pflegegeld sei in Höhe des für den Gesamtzustand der Hilflosigkeit des Verletzten vorgesehenen Satzes zu zahlen, weil er Unfallfolge im Sinne des § 558 Abs 1 RVO sei. Für eine Quotierung gemäß dem Anteil des Arbeitsunfalles am Gesamtzustand sei deshalb kein Raum mehr. Das SG hat die Beklagte verurteilt, zur Frage der Höhe des Pflegegeldes unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erteilen (Urteil vom 30. September 1987). In Übereinstimmung mit dem SG hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Wesfalen die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 27. Februar 1989).
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und § 558 Abs 3 RVO.
Der Verletzte habe die Sehkraft seines rechten Auges durch eine schwere Retinopathie verloren. Er wäre deswegen zur (etwa) gleichen Zeit ohnehin erblindet, auch wenn er das linke Auge nicht durch den Arbeitsunfall verloren hätte. Das LSG habe dieses Krankheitsgeschehen, das nach heutigem Wissen nur wenig Heilungschancen biete, nur am Rande als "Diabeteserkrankung" erwähnt. Auf die ungünstige beidseitige Folge sei es nicht eingegangen, obwohl sie in ihrer Berufungsbegründung darauf hingewiesen habe. Dadurch habe das LSG gegen § 103 SGG verstoßen. Im Rahmen ihrer Ermessensausübung bei der Festsetzung der Höhe des Pflegegeldes habe sie die spätere Erblindung aus körpereigenen Gründen ebenso berücksichtigen dürfen, wie die Tatsache, daß dem Verletzten auch Zivilblindengeld zugestanden habe. Es sei davon auszugehen, daß kein überzeugender Grund dafür vorliege, den gesamten Schaden allein durch das Pflegegeld aus der gesetzlichen Unfallversicherung abzugelten, wenn zumindest die Hälfte des Körperschadens nicht mit dem Arbeitsunfall in Zusammenhang zu bringen sei.
Die Beklagte beantragt,die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin und der beigeladene Landschaftsverband beantragen,die Revision zurückzuweisen.
Sie halten das angefochtene Urteil des LSG für zutreffend.
II
Der Senat hat den Bund, der gemäß § 653 Abs 1 Nr 1 RVO für Versicherte in seinem Unternehmen "Deutsche Bundespost" passiv legitimierter Träger der Versicherung ist und gemäß § 766 Abs 1 Satz 1 RVO von der Bundespost-Ausführungsbehörde für Unfallversicherung nur gesetzlich vertreten wird (BSG SozR Nr 1 zu § 653 RVO), klarstellend in das Urteilsrubrum mit aufgenommen.
Die Revision ist unbegründet.
Zu Recht haben das SG und das LSG mit eingehender und überzeugender Begründung die Verpflichtung der Beklagten erkannt, der Klägerin einen neuen Bescheid über die Höhe des bewilligten Pflegegeldes zu erteilen. Mit der angefochtenen Ermessensentscheidung hat die Beklagte bei der Bemessung der Höhe des Pflegegeldes rechtsfehlerhaft die Hälfte der in vollem Umfang durch den Arbeitsunfall von 1938 verursachten Hilflosigkeit des Verletzten unberücksichtigt gelassen. Bei der neuen Entscheidung wird sie die Höhe des Pflegegeldes unter anderem nach dem Gesamtzustand der Hilflosigkeit durch praktische Blindheit zu bemessen haben.
Zwar trifft es zu, daß die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung nur für einen Schaden gewährt werden, der von einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit verursacht worden ist (s Brackmann, Handbuch der Unfallversicherung, 1. bis 11. Aufl., Band III S 557 mwN). Das gilt auch für die Heilbehandlung, die die Gewährung von Pflege umfaßt (§ 557 Abs 1 Nr 6 RVO). Dem entspricht es, daß nach § 558 Abs 1 RVO Pflege zu gewähren ist, solange der Verletzte infolge des Arbeitsunfalls so hilflos ist, daß er nicht ohne Wartung und Pflege sein kann. Die danach uneingeschränkt auf die Person des Verletzten bezogene Hilflosigkeit muß also Unfallfolge sein, wie jede andere Krankheit oder Behinderung, für die Heilbehandlung zu gewähren ist. Das ist nach der Ursachenlehre der wesentlichen Bedingung zu beurteilen, die es zur Anerkennung als volle Unfallfolge ausreichen läßt, daß der Arbeitsunfall für den Eintritt des Erfolgs eine wesentliche, zumindest annähernd gleichwertige Mitbedingung neben der Gesamtheit anderer, unfallunabhängiger Mitursachen ist. Im vorliegenden Rechtsstreit ist der Arbeitsunfall des Verletzten danach wesentliche Mitbedingung seiner praktischen Blindheit gewesen. Seine Hilflosigkeit als Gesamtzustand ist dementsprechend im Rechtsinne voll durch den Arbeitsunfall verursacht worden, sie ist in vollem Umfang Unfallfolge (BSGE 25, 49, 50; Brackmann aaO S 580n; darin stimmen für die soziale Entschädigung auch BSGE 30, 45, 47 und BSGE 41, 80, 83 überein). Das hat die Beklagte durch die Bewilligung von Pflege gemäß § 558 Abs 1 Satz 1 RVO bereits anerkannt; es ist auch in diesem Rechtsstreit nicht umstritten. Desgleichen hat die Beklagte die weitere Ermessensentscheidung bereits dahin getroffen, daß sie dem Verletzten gemäß § 558 Abs 3 Satz 1 RVO statt der Pflege ein Pflegegeld gewährt hat. Auch das ist hier nicht umstritten. Gegenstand des Rechtsstreits ist vielmehr die abschließende Ermessensentscheidung (s das Urteil des Senats vom 25. August 1970 - 2 RU 166/67 -), mit der die Beklagte nach dem Rahmen des § 558 Abs 3 Satz 2 RVO die Höhe des Pflegegeldes zur Entschädigung der Hilflosigkeit festgesetzt hat. Dabei war ihr von vornherein eine grundsätzliche Grenze gesetzt, die aus § 558 Abs 1 Satz 1 RVO folgt. Bei allen denkbaren Umständen des Einzelfalles, die sich, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, auf die durch die Hilflosigkeit entstandene Bedarfslage des Versicherten und auch die besonderen Anforderungen beziehen müssen, denen der Helfende bei der Pflege ausgesetzt ist (s Brackmann, aaO, S 560s), darf der Versicherungsträger grundsätzlich nicht eine Unfallfolge unberücksichtigt lassen.
Dies entspricht den Grundsätzen der gesetzlichen Unfallversicherung (UV), die auch bei den in das Ermessen des Unfallversicherungsträgers gestellten Leistungen zu beachten sind. Einerseits wird bei den sog gemischten Tätigkeiten, die wesentlich sowohl der versicherten Tätigkeit als auch privaten Interessen des Versicherten dienen, die gesamte Verrichtung als versicherte Tätigkeit angesehen. Bei einem durch sie verursachten Unfall werden weder die Kosten für die Heilbehandlung noch die Verletztenrente im Verhältnis der für die Tätigkeit maßgebenden Interessen aufgeteilt. Andererseits wird bei den Tätigkeiten, die zwar auch betrieblichen, wesentlich aber nur eigenwirtschaftlichen Interessen dienen, der Versicherungsschutz in der UV und damit eine Entschädigung aus der UV in vollem Umfang verneint und noch nicht einmal eine teilweise Entschädigung entsprechend dem Anteil der - nicht wesentlichen - betrieblichen Belange gewährt.
Aufgrund der Ursachenlehre von der wesentlichen Bedingung in der UV ist es - weil es nämlich einen Widerspruch in sich selbst bedeutete - nach der Anerkennung eines konkreten Gesamtschadens als Unfallfolge ausgeschlossen, die Entschädigung des Schadens nur deshalb zur Hälfte vorzunehmen, weil seine andere Hälfte unfallunabhängig entstanden ist. Es ist deshalb dem Unfallversicherungsträger auch bei der Gewährung von Pflege von vornherein verwehrt, aus einem unfallbedingten Gesamtschaden einen Teil auszuschließen und zur Bemessung der Höhe des - worauf das LSG ebenfalls zutreffend hinweist - an die Stelle der ebenfalls nicht "teilbaren" Pflege tretenden Pflegegeldes nur den Rest zu berücksichtigen (Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 4. Aufl, § 558 RdNr 4; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 4. Aufl, Kennziff 345 S 3; s auch Gitter SGB-Sozialversicherung-Gesamtkommentar § 558 Anm 6 - letzter Absatz; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 558 Anm 6 unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Sitzung des Ausschusses Rehabilitation der BAGUV vom 10./11. November 1976). Gerade dieser Ermessensfehler ist der Beklagten unterlaufen. Sie hat die Entschädigungsleistung nicht nach dem gesamten Schaden als Unfallfolge, nämlich der Hilflosigkeit, sondern nur nach deren Hälfte bemessen. Das ist rechtswidrig, weil es die Grenzen der Ermessensausübung verletzt. Deshalb ist die Beklagte verpflichtet, der Klägerin einen neuen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu erteilen.
Dabei wird zu beachten sein, daß sie Pflegeleistungen anderer Sozialleistungsträger jedenfalls dann nicht berücksichtigen darf, wenn die fremde Pflegeleistung neben dem Pflegegeld aus der UV aus Gründen der Subsidiarität nicht erbracht werden darf.
Auf die - im übrigen unsubstantiiert vorgetragene (s BSGE 41, 229, 236) - Verfahrensrüge der Beklagten bezüglich der Diabeteserkrankung des rechten Auges kommt es nicht an. Sie betrifft zum einen - wie bereits dargelegt - einen entscheidungsunerheblichen Punkt, weil sie sich unbeschadet der gesamten Hilflosigkeit als Unfallfolge auf eine unfallunabhängige Mitbedingung der Hilflosigkeit bezieht. Soweit die Beklagte sich zum anderen darauf bezieht, daß das linke Auge auch ohne den Unfall durch die spätere Diabeteserkrankung die Sehkraft verloren hätte, widerspricht dies - entgegen der Auffassung der Beklagten - wiederum einem in der UV seit Anbeginn an geltenden Grundsatz. Eine Unfallfolge verliert nicht deshalb für die Entschädigung aus der UV die rechtliche Relevanz, weil die als Folge des Arbeitsunfalls festgestellte Erkrankung - hier die Erblindung des durch den Arbeitsunfall verlorenen Auges - später auch aus anderen Gründen eingetreten wäre. So erhalten zB die Hinterbliebenen eines bei einem Arbeitsunfall tödlich verunglückten Versicherten die Hinterbliebenenrente auch dann nicht nur zeitlich begrenzt, wenn der Versicherte mit Sicherheit wenige Monate später einem Krebsleiden erlegen wäre (s BSGE 62, 220, 224; Brackmann, aaO, S 489g ff). Ebenso wird die Verletztenrente für den unfallbedingten Verlust eines Beins nicht gemindert oder entzogen, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Verletzte nunmehr auch durch ein Gefäßleiden dieses Bein verloren hätte. Gegen diese Grundsätze darf auch im Rahmen einer Ermessensentscheidung, wie hier über die Höhe des Pflegegeldes, nicht verstoßen werden.
Die Kostenentscheidung erfolgt aus § 193 SGG.BUNDESSOZIALGERICHT
Fundstellen