Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit. Facharbeiter. Zumutbarkeit. tarifliche Bewertung des Lagerarbeiters

 

Orientierungssatz

1. In der tariflichen Einstufung kommt am zuverlässigsten zum Ausdruck, welchen qualitativen Wert die am Berufsleben teilnehmenden Bevölkerungskreise, dh die Tarifpartner einer bestimmten Berufstätigkeit zumessen. Aus der tatsächlichen Einstufung einer Tätigkeit läßt sich nichts für oder gegen deren Zumutbarkeit herleiten, denn gewisse Fertigkeiten erfordern unter Umständen auch andere ungelernte Tätigkeiten, die nicht auf der Ebene der sonstigen Ausbildungsberufe stehen.

2. Eine tatsächlich ausgeübte Tätigkeit eines Facharbeiters als Lagerarbeiter ist nicht zumutbar, wenn sie unterhalb des Anlernbereichs liegt. Ist der Versicherte jedoch auf der untersten Stufe des Anlernbereichs tätig, dann wäre ihm die Tätigkeit als Lagerarbeiter nach RVO § 1246 Abs 2 S 2 zuzumuten.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 22.05.1979; Aktenzeichen L 6 J 787/77)

SG Marburg (Entscheidung vom 13.07.1977; Aktenzeichen S 4 J 100/76)

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Rente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.

Der Kläger, der die Berufe eines Stellmachers und Zimmermanns erlernt hat, war von 1950 vis 1960 als selbständiger Stellmacher und anschließend bis 1974 als Zimmermann tätig. Seit dem 21. April 1975 arbeitet er nach Vermittlung des Arbeitsamtes als Lagerarbeiter in einem Kaufhaus. Zu seinen Aufgaben gehört die Annahme sämtlicher Lieferungen, Überprüfung und Erfassung der eingehenden Waren und deren Transport in die betreffenden Abteilungen sowie zusätzlich laufende Arbeiten, die im Bereich der Warenannahme und auf dem Hof anfallen, wie ua Mülltransport, Bedienung der Müllpresse und Säuberung des Hofes. In sein Aufgabengebiet wurde der Kläger aufgrund eines Einarbeitungsplanes vier Monate lang eingearbeitet. Die Tätigkeit ist in die Gruppe IIa des Tarifvertrages für den Hessischen Einzelhandel eingestuft.

Die Beklagte lehnte den im Januar 1976 gestellten Rentenantrag mit Bescheid vom 4. Oktober 1976 ab. In der Zeit vom 17. März 1977 bis zum 21. April 1977 wurde auf Kosten der Beklagten ein Heilverfahren durchgeführt.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte am 13. Juli 1977 zur Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente für die Zeit vom 1. Februar 1976 an verurteilt. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 22. Mai 1979 die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Rente unter Beachtung des § 1251b RVO zu gewähren ist. Zur Begründung hat das Berufungsgericht im wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei berufsunfähig, denn er könne weder die von ihm ausgeübte Facharbeitertätigkeit eines Zimmermannes noch andere zumutbare Tätigkeiten verrichten. Insbesondere sei die von ihm ausgeübte Tätigkeit eines Lagerarbeiters nicht zumutbar. Die Lohngruppe II sei vierfach unterteilt. Sie gelte für gelernte Arbeiter, für Arbeiter mit Berufserfahrung in qualifizierten Tätigkeiten sowie für Arbeiten mit gewissen Fertigkeiten. In der Lohngruppe IIa, der auch der Kläger angehöre, seien ua die Arbeiter für Hof, Platz, Keller und Lager aufgeführt. Weiter gehörten dazu der Beifahrer mit Teilverantwortung für Ware und Zustellung, Gardinennäherinnen mit einfachen Arbeiten, Packer, Fahrstuhlführer und Elektrokarrenfahrer. Die Lohngruppe I umfasse ua die Hilfsarbeiter im Hof, Platz, Keller und Lager sowie Nachtwächter und Wagenpfleger. Der Lagerarbeiter brauche keine berufsspezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern lediglich eine schlichte innerbetriebliche Einarbeitung. Daraus ergebe sich, daß der Kläger als Lagerarbeiter allenfalls auf der untersten Stufe des Anlernbereiches tätig sei. Andere Verweisungsmöglichkeiten seien nicht erkennbar.

Die Beklagte hat dieses Urteil - mit der vom erkennenden Senat zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, dem Kläger sei die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit eines Lagerarbeiters zumutbar. Es handele sich um eine Tätigkeit, die sich aus dem Kreis der übrigen ungelernten Tätigkeiten deutlich hervorhebe, so daß ein Facharbeiter darauf verwiesen werden könne. Das gehe insbesondere daraus hervor, daß der Kläger vier Monate lang eingearbeitet worden sei, wobei die Beklagte einen Einarbeitungszuschuß in Höhe von 50 vH zum tariflichen Bruttoarbeitsentgelt gewährt habe. Die Tätigkeit sei dem Kläger auch nach § 1246 Abs 2 Satz 3 RVO zumutbar, weil er hierfür durch Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden sei.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts sowie das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet. Zusätzlich trägt er vor, die ausgeübte Tätigkeit eines Lagerarbeiters sei auch nicht nach § 1246 Abs 2 Satz 3 RVO zumutbar. Bei der Einarbeitung in diese Tätigkeit habe es sich nicht um eine Ausbildung oder Umschulung im Sinne dieser Vorschrift gehandelt. Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision der Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.

Das Berufungsgericht ist bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit zutreffend von der Tätigkeit eines Zimmermanns ausgegangen, die zur Gruppe mit dem Leitberuf eines Facharbeiters gehört. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sind ihm daher nur solche ungelernten Tätigkeiten iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zumutbar, die sich von den sonstigen ungelernten Tätigkeiten qualitativ so sehr unterscheiden, daß sie wie sonstige Ausbildungsberufe (angelernte Tätigkeiten) bewertet werden (vgl hierzu BSG SozR 2200 Nrn 23, 29, 36, 38 mwN). Ob die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit dazu gehört, steht nicht fest.

Zwar spricht die Dauer und die Planmäßigkeit der Einarbeitung und Einweisung dafür, daß es sich um eine den sonstigen Ausbildungsberufen (angelernten Tätigkeiten) qualitativ gleichwertige Tätigkeit handelt. Es kann in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, ob die Einarbeitung und Einweisung als eine Ausbildung oder Umschulung zu werten ist. Den sonstigen Ausbildungsberufen können auch solche Tätigkeiten qualitativ gleichwertig sein, deren Kenntnisse und Fähigkeiten lediglich durch einen Zuwachs an berufsspezifischen Erfahrungen und Fertigkeiten am Arbeitsplatz erworben werden. Wesentlich ist nicht die Art und Weise des Erwerbs der notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern ihre Qualität. Das LSG hat allerdings keine eindeutige Feststellung zu der Frage getroffen, wie die Tätigkeit des Klägers tariflich bewertet wird.

Nach der zitierten Rechtsprechung des BSG kommt in der tariflichen Einstufung am zuverlässigsten zum Ausdruck, welchen qualitativen Wert die am Berufsleben teilnehmenden Bevölkerungskreise, dh die Tarifpartner einer bestimmten Berufstätigkeit zumessen. Aus der tatsächlichen Einstufung der Tätigkeit des Klägers in die Lohngruppe IIa, für die "gewisse Fertigkeiten" erforderlich sind, läßt sich nichts für oder gegen die Zumutbarkeit herleiten, denn gewisse Fertigkeiten erfordern uU auch andere ungelernte Tätigkeiten, die nicht auf der Ebene der sonstigen Ausbildungsberufe stehen. Auch aus dem in der Urteilsbegründung enthaltenen Satz, der Kläger sei als Lagerarbeiter allenfalls auf der untersten Stufe des Anlernbereichs tätig, ist kein eindeutiger Schluß auf tarifliche Bewertung und die Qualität der Tätigkeit des Klägers zu ziehen. Dieser Satz läßt die Möglichkeit offen, daß der Kläger unterhalb der Stufe des Anlernbereichs tätig ist; in diesem Falle wäre die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit als Lagerarbeiter nicht zumutbar. Andererseits ist es danach aber möglich, daß der Kläger auf der untersten Stufe des Anlernbereichs tätig ist. In diesem Falle wäre ihm die Tätigkeit als Lagerarbeiter nach § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zuzumuten.

Innerhalb der einzelnen Gruppen des von der Rechtsprechung gebildeten Mehrstufenschemas mag es durchaus Qualitätsunterschiede geben. Diese Unterschiede können jedoch nicht zu einer verschiedenen Beurteilung der Zumutbarkeit innerhalb der einzelnen Gruppen führen. Das Mehrstufenschema ist ein Hilfsmittel, den § 1246 Abs 2 RVO auf der Grundlage der vom Gesetz vorgegebenen Leitlinien auch für die Massenverwaltung der gesetzlichen Rentenversicherung sinnvoll handhabbar zu machen und dabei zugleich den Ansprüchen an Rechtssicherheit und gleichmäßige Sachbehandlung zu genügen (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 11). Dem würde es widersprechen, wollte man die Zumutbarkeit der Verweisungstätigkeit danach beurteilen, ob sie sich an der oberen oder unteren Grenze einer Gruppe befindet. Damit würde man zu einer individuellen Beurteilung der Zumutbarkeit zurückkehren und das Mehrstufenschema ad absurdum führen. Es kann daher nicht offen bleiben, ob die Tätigkeit des Klägers als Lagerarbeiter tariflich wie ein sonstiger Ausbildungsberuf oder wie andere ungelernte Tätigkeiten bewertet wird.

Der Senat hat auf die danach begründete Revision der Beklagten das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen zurückverwiesen. Sollte das LSG dabei zu dem Ergebnis kommen, daß es sich bei der Tätigkeit des Klägers um eine den sonstigen Ausbildungsberufen qualitativ nicht gleichwertige Tätigkeit handelt, so daß sie ihm unzumutbar ist, wird es unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG (SozR 2200 § 1246 Nr 25) zu prüfen haben, ob die Tätigkeit des Klägers als Lagerarbeiter nach § 1246 Abs 2 Satz 3 RVO zumutbar ist, ob der Kläger also durch eine Maßnahme zur Erhaltung, Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit mit Erfolg für diese Tätigkeit ausgebildet oder umgeschult worden ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657061

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