Entscheidungsstichwort (Thema)

Lösung vom Beruf bei erzwungenem Berufswechsel. Berufsunfähigkeit

 

Leitsatz (redaktionell)

Verrichtet der Versicherte nach Kündigung seines bisherigen Beschäftigungsverhältnisses lediglich zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit eine Beschäftigung, die gegenüber der früheren Tätigkeit weniger qualifiziert ist, so hat er sich von seinem bisherigen Beruf gelöst, wenn er sich später mit der neuen Berufstätigkeit abgefunden hat. "Das wird in der Regel dann zu bejahen sein, wenn der Versicherte die neue Tätigkeit längere Zeit ausgeübt hat, ohne versucht zu haben, zur früheren Arbeit zurückzukehren, obwohl ein solcher Versuch nicht als von vornherein erfolglos hätte angesehen werden müssen". Der bisherige Versicherungsschutz geht - auch bei Arbeitslosigkeit - aber nicht verloren, solange der Versicherte noch keinen anderen Beruf ausgeübt hat, der für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit maßgebend sein könnte.

 

Orientierungssatz

Zumutbarkeit der Verweisung eines Maurer-Vorarbeiters im Spezialbereich der Denkmalspflege - Lösung vom Beruf.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 24.01.1979; Aktenzeichen L 8 J 110/78)

SG Aachen (Entscheidung vom 06.04.1978; Aktenzeichen S 8 J 110/77)

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.

Der Kläger, der das Maurerhandwerk erlernt und längere Zeit ausgeübt hat, war von August 1970 bis Februar 1976 als Maurer-Vorarbeiter im Spezialbereich der Denkmalspflege beschäftigt. Nach einer kurzen Zeit der Arbeitslosigkeit war er von März 1976 bis Januar 1977 erneut Maurer. Seitdem ist er ohne Arbeit.

Die Beklagte lehnte den am 28. Januar 1977 gestellten Rentenantrag mit Bescheid vom 9. März 1977 ab, weil der Kläger noch nicht berufsunfähig sei.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 6. April 1978 die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG geändert und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 9. März 1977 verurteilt, dem Kläger vom 1. Februar 1977 an Rente wegen BU zu gewähren. Zur Begründung hat das Berufungsgericht im wesentlichen ausgeführt, bei der Beurteilung der BU sei von der Tätigkeit eines Maurer-Vorarbeiters auszugehen. Dem stehe nicht entgegen, daß der Kläger danach zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit kurzfristig die Tätigkeit eines Maurers ausgeübt hat. Dadurch habe er sich nicht von der Tätigkeit eines Maurer-Vorarbeiters gelöst. Als Maurer-Vorarbeiter sei der Kläger der Gruppe der Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion zuzuordnen. Als Vorarbeiter habe der Kläger zusätzlich zu den geforderten Maurerfacharbeiten noch besondere Arbeiten zu erledigen gehabt; zB habe er die Lohnlisten und Tagesberichte geführt, das Material für seine Baustelle beim zuständigen Einkaufssachbearbeiter im Büro bestellt, die Arbeit für die ihm unterstellten Mitarbeiter eingeteilt und beaufsichtigt. Zwar habe die Kolonne nur aus 3 bis 4 Arbeitskräften bestanden, von denen außer dem Kläger nur einer Facharbeiter gewesen sei. Das sei aber durch die besondere Art der Tätigkeit im Spezialbereich der Denkmalspflege bedingt gewesen. Es könne in einem solchen Fall nicht entscheidend auf die Zahl der unterstellten Facharbeiter abgestellt werden, sondern die Tätigkeit sei insgesamt zu würdigen, wobei die tarifliche Einstufung ein wesentliches Gewicht habe. Der Kläger sei wegen der zusätzlich wahrzunehmenden Aufgaben nicht wie ein Maurerfacharbeiter entlohnt worden, sondern er habe den Lohn der Tarifgruppe I des Bundesrahmentarifvertrages für das Baugewerbe vom 1. April 1971 erhalten. Zu dieser Tarifgruppe gehörten die Hilfspoliere, während Fachvorarbeiter der Tarifgruppe II und Facharbeiter der Tarifgruppe III angehörten. Als Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion könne der Kläger nur auf solche Tätigkeiten verwiesen werden, die nach ihrer tariflichen Einstufung in die Gruppe der Facharbeiter gehörten. Solche Tätigkeiten könne er nicht mehr ausüben. Soweit es sich bei den von der Beklagten genannten Tätigkeiten eines Lagerverwalters und Materialausgebers um qualifizierte, wie eine Facharbeitertätigkeit eingestufte Tätigkeit in einem großen Lager handele, könne der Kläger sie nicht ausüben, weil er nicht die notwendigen kaufmännischen Kenntnisse habe und auch nicht innerhalb einer dreimonatigen betrieblichen Einweisungszeit oder Einarbeitungszeit erwerben könne. Eine einfache Verwaltertätigkeit sowie die Tätigkeiten eines Apparatewärters, Schalttafelwärters oder Hausmeisters seien dem Kläger nicht zumutbar.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, bei der Prüfung der BU sei schon deshalb vom einfachen Facharbeiter auszugehen, weil der Kläger sich von der vorher ausgeübten Vorarbeitertätigkeit gelöst habe. Er habe diese Tätigkeit nicht aus betrieblichen Gründen aufgeben müssen, sondern die Kündigung durch den Arbeitgeber maßgeblich beeinflußt. Mindestens hätte das LSG in dieser Richtung noch weitere Ermittlungen anstellen müssen. Darüber hinaus habe der Kläger im Anschluß an die Arbeitslosigkeit die Tätigkeit eines Maurers nicht nur vorübergehend, sondern im Verhältnis zur Dauer der Vorarbeitertätigkeit eine nicht unerhebliche Zeit verrichtet. Selbst wenn man aber von der vorher ausgeübten Vorarbeitertätigkeit ausgehe, müsse der Kläger wie ein einfacher Facharbeiter verwiesen werden. Bei einer so kleinen Arbeitskolonne, wie der Kläger sie beaufsichtigt habe, stehe die praktische Mitarbeit des Vorarbeiters derart im Vordergrund, daß Aufsichtsfunktionen und Weisungsbefugnisse die Arbeit nicht wesentlich anders gestalteten als die Arbeit eines einfachen Facharbeiters. Der Kläger könne daher nur als sogenannter schlichter Vorarbeiter angesehen werden. Im übrigen sei das LSG zu Unrecht davon ausgegangen, daß der Kläger die qualifizierten Tätigkeiten eines Lagerverwalters und Materialausgebers wegen der fehlenden kaufmännischen Kenntnisse nicht verrichten könne. Bei dieser Feststellung habe es unberücksichtigt gelassen, daß der Kläger zehn Jahre lang eine selbständige Erwerbstätigkeit als Gastwirt ausgeübt und auch während der Vorarbeitertätigkeit selbständig Lohnlisten und Tagesberichte geführt sowie Materialbestellungen aufgegeben hat. Es spreche daher eine große Vermutung dafür, daß der Kläger über ausreichende kaufmännische Kenntnisse verfüge. Jedenfalls habe das LSG seine Aufklärungspflicht verletzt und das Recht der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten, wenn es weitere Sachaufklärung zur Prüfung der kaufmännischen Vorkenntnisse des Klägers unterlassen habe.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein- Westfalen vom 24. Januar 1979 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 6. November 1978 zurückzuweisen; hilfsweise, die Streitsache zur weiteren Sachaufklärung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen. Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision der Beklagten führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.

Bei der Beurteilung der BU kann nur dann von der bis Februar 1976 ausgeübten Tätigkeit als Maurer-Vorarbeiter im Spezialbereich der Denkmalspflege ausgegangen werden, wenn der Kläger sich von diesem Beruf nicht gelöst hat. Unabhängig von den Gründen, die zur Aufgabe dieser Tätigkeit geführt haben, hat der Kläger den Versicherungsschutz für die Tätigkeit eines Maurer-Vorarbeiters durch die Kündigung und die spätere Arbeitslosigkeit nicht verloren, weil er bis dahin noch keinen anderen Beruf ausgeübt hat, der für die Beurteilung der BU maßgebend sein könnte. Der Kläger könnte sich daher frühestens mit der Aufnahme der Tätigkeit eines Maurers im März 1976 von der früheren Tätigkeit eines Maurer- Vorarbeiters gelöst haben. Das LSG hat zwar festgestellt, der Kläger habe die Tätigkeit eines Maurers nur zur Vermeidung weiterer Arbeitslosigkeit ausgeübt. Das allein schließt die Möglichkeit einer Lösung jedoch noch nicht aus. Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats ist auch bei erzwungenem Berufswechsel eine Lösung dann anzunehmen, wenn sich der Versicherte später mit der neuen Berufstätigkeit abgefunden hat. Das wird in der Regel dann zu bejahen sein, wenn der Versicherte die neue Tätigkeit längere Zeit ausgeübt hat, ohne versucht zu haben, zur früheren Arbeit zurückzukehren, obwohl ein solcher Versuch nicht als von vornherein erfolglos hätte angesehen werden müssen (vgl BSG SozR 2600 § 45 Nr 22 mwN). Das LSG hat keine Feststellungen zu der Frage getroffen, ob der Kläger irgendwann nach Aufgabe der Tätigkeit eines Maurer-Vorarbeiters versucht hat, zu dieser oder einer ähnlich qualifizierten Tätigkeit zurückzukehren und ob ein solcher Versuch mit Rücksicht auf den Gesundheitszustand des Klägers, das Alter und die Lage auf dem Arbeitsmarkt realisierbar war. Ohne diese erforderlichen Tatsachenfeststellungen läßt sich die Frage nicht abschließend beantworten, ob der Kläger sich mit der Tätigkeit eines gelernten Maurers abgefunden und von der Tätigkeit eines Maurer-Vorarbeiters im Spezialbereich der Denkmalspflege gelöst hat.

Dieser Feststellungen bedürfte es nur dann nicht, wenn die bis Februar 1976 ausgeübte Tätigkeit eines Maurer-Vorarbeiters für die Beurteilung der Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit nach § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO nicht höher zu bewerten wäre als die später ausgeübte Tätigkeit eines gelernten Maurers. Die Tatsachenfeststellungen des LSG lassen eine abschließende Beurteilung der Frage nicht zu, ob die vom Kläger bis Februar 1976 ausgeübte Tätigkeit eines Maurer-Vorarbeiters im Spezialbereich der Denkmalspflege der Gruppe mit dem Leitberuf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion oder aber der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zuzuordnen ist. Der Kläger ist zwar nach der Tarifgruppe I des Bundesrahmentarifvertrages für das Baugewerbe vom 1. April 1971 wie ein Hilfspolier und damit erheblich höher als ein normaler Facharbeiter entlohnt worden. Das allein genügt aber noch nicht, um ihn der Gruppe mit dem Leitberuf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion zuzuordnen, denn er muß auch eine entsprechende Tätigkeit ausgeübt haben. Die tarifliche Einstufung des Versicherten durch den Arbeitgeber ist zwar ein wichtiges Indiz für die Beurteilung der Qualität der ausgeübten Tätigkeit, macht aber die Feststellung nicht entbehrlich, daß auch eine der Entlohnung entsprechende Tätigkeit ausgeübt worden ist. Da es Vorarbeitertätigkeiten mit unterschiedlicher Qualifikation und Qualität gibt, hat die Rechtsprechung zwischen dem sogenannten schlichten Vorarbeiter und dem Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion unterschieden. Dabei kann hinsichtlich der Zumutbarkeit von Verweisungstätigkeiten der schlichte Vorarbeiter allenfalls dem Facharbeiter mit der Folge gleichgestellt werden, daß er auf Tätigkeiten abwärts bis zur Ebene der sonstigen Ausbildungsberufe (Anlernberufe) verwiesen werden kann. Dem Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion sind dagegen nur Tätigkeiten abwärts bis zur Ebene des Facharbeiters zumutbar.

Ob die Tätigkeit des Klägers als Maurer-Vorarbeiter im Spezialbereich der Denkmalspflege eine sogenannte schlichte Vorarbeitertätigkeit oder aber eine Vorarbeitertätigkeit mit Vorgesetztenfunktion war, läßt sich nach den Feststellungen des LSG nicht beurteilen. Nach der Rechtsprechung des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) ist als Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion in der Regel nur ein in der Spitzengruppe der Lohnskala befindlicher Facharbeiter anzusehen, der Weisungsbefugnisse nicht nur gegenüber angelernten und Hilfsarbeitern, sondern gegenüber mehreren anderen Facharbeitern hat und selbst nicht gegenüber einem anderen Beschäftigten im Arbeiterverhältnis weisungsgebunden ist (BSGE 45, 276, 278 = SozR 2200 § 1246 Nr 27; Urteil vom 28. Juni 1979 - 4 RJ 53/78 -; Urteil vom 29. November 1979 - 4 RJ 17/79 -). Der Kläger erfüllt zwar alle anderen Voraussetzungen, jedoch hat er nur eine kleine Gruppe von Arbeitern beaufsichtigt, von denen außer ihm nur einer Facharbeiter war. Das könnte dafür sprechen, daß das Hauptgewicht seiner Tätigkeit weniger in der Beaufsichtigung qualitativ hochwertiger Arbeiten als vielmehr in der Mitarbeit als Facharbeiter bestand. Dazu fehlen aber konkrete Feststellungen des LSG, so daß diese Frage nicht abschließend beantwortet werden kann.

Selbst wenn der Kläger aber überwiegend als "primus inter pares" mitgearbeitet hat, so schließt das seine Zuordnung zur Gruppe mit dem Leitberuf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion nicht ohne weiteres aus. Zu dieser Gruppe gehört nach der Rechtsprechung des BSG auch der hochqualifizierte Facharbeiter, dessen Tätigkeit wegen der die einfache Facharbeitertätigkeit weit überragenden Qualität in die höchste Gruppe der Arbeiterberufe eingestuft ist (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 27, 37). Da die vom Kläger beaufsichtigte Gruppe wegen der speziellen Verhältnisse im Bereich der Denkmalspflege relativ klein war und außer den übrigen Arbeitern mit dem Kläger nur zwei Facharbeiter umfaßte, liegt die Annahme nahe, daß es sich bei der Tätigkeit des Klägers um eine Mischform zwischen der Tätigkeit eines Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion und der eines hochqualifizierten Facharbeiters handelte. Insoweit lassen die Feststellungen des LSG aber keine abschließende Beurteilung zu.

Da danach die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, daß die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit eines Maurer-Vorarbeiters im Spezialbereich der Denkmalspflege der Gruppe der Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion zuzuordnen ist, kommt es auf die Frage an, ob der Kläger sich durch die spätere Tätigkeit als gelernter Maurer von der höherqualifizierten Tätigkeit eines Vorarbeiters gelöst hat.

Der Senat hat auf die danach begründete Revision der Beklagten das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen an das LSG zurückverwiesen. Deshalb kam es auf die Frage nicht an, ob auch die Verfahrensrügen der Beklagten die Zurückverweisung erfordern.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656053

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