Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit. Verweisbarkeit einer Posthalterin II. rechtliches Gehör. Gerichtskunde
Orientierungssatz
1. Besteht nicht die Möglichkeit, sich zu den Anforderungen zu äußern, welche die vom Gericht erst im angefochtenen Urteil konkret benannten Verweisungstätigkeiten für den Arbeitnehmer in körperlicher und geistiger Hinsicht bedeuten, ist die Möglichkeit genommen, aus den festgestellten Beeinträchtigungen des Leistungsvermögens die Unzumutbarkeit dieser Verweisungstätigkeiten herzuleiten. Damit ist der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (vgl BSG 1982-07-15 5b RJ 86/81 = SozR 1500 § 62 Nr 11), weil der Arbeitnehmer nicht auf die vorhandene Gerichtskunde von den Anforderungen der Verweisungstätigkeiten an das Leistungsvermögen hingewiesen worden ist (vgl BSG 1978-10-31 4 BJ 149/78 = SozR 1500 § 128 SGG).
2. In der Tätigkeit der Posthalterin II handelt es sich um eine Facharbeitertätigkeit iS des von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts entwickelten Vierstufenschemas der Leitberufe.
Normenkette
SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs 2 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1246 Abs 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 11.06.1982; Aktenzeichen L 6 J 141/81) |
SG Speyer (Entscheidung vom 28.04.1981; Aktenzeichen S 7 J 494/80) |
Tatbestand
Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeitsrente. Die Klägerin hat keinen Beruf erlernt, von 1939 bis 1944 als Hausgehilfin und Verkäuferin gearbeitet und ist schließlich von 1961 an unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf als Posthalterin II tätig gewesen. Sie wurde zunächst nach der Besoldungsgruppe A 3 und ab 1. Juni 1966 nach der Besoldungsgruppe A 4 des Bundesbesoldungsgesetzes entlohnt, und es wurden Versicherungsbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung für sie entrichtet. Mit Ablauf des 31. Dezember 1980 wurde ihr Dienstverhältnis wegen Dienstunfähigkeit widerrufen. Gestützt auf die medizinische Begutachtung, nach der die Klägerin noch vollschichtig leichte bis kurzfristig mittelschwere körperliche Arbeiten im Gehen, Stehen oder Sitzen verrichten kann, sofern Akkord- und Schichtarbeit sowie Tätigkeiten, die mit Verletzungs- und Absturzgefahr oder mit Zwangshaltungen des Kopfes verbunden seien, vermieden würden und eine regelmäßige Nahrungseinnahme gewährleistet sei, lehnte die Beklagte den von der Klägerin im Februar 1980 gestellten Rentenantrag durch den angefochtenen Bescheid vom 23. Juli 1980 ab.
Die Klage ist erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts -SG- Speyer vom 28. April 1981). Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat die Berufung der Klägerin nach weiterer medizinischer Begutachtung durch Urteil vom 11. Juni 1982 zurückgewiesen. Es hat der Klägerin zwar den Berufsschutz eines Facharbeiters zugebilligt, sie aber auf - ihr nach kurzfristiger, drei Monate nicht übersteigender Anleitung mögliche - Tätigkeiten verwiesen. Zumutbar seien ihr die Tätigkeiten als Arbeiterin im Briefeingang, in Fernmelderechnungsstellen, in Buchungsstellen für Fernmeldegebühren und Lochkartenstellen, in der Versendung zugesprochener und und zugeschriebener Telegramme und als Saalbote.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verletzung der §§ 62 und 128 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie des § 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Sie beantragt, die Urteile der Vorinstanzen und den Bescheid der Beklagten vom 23. Juli 1980 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. März 1980 Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit, mindestens aber wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren; hilfsweise, die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Rheinland-Pfalz zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise, nach dem Hilfsantrag der Klägerin zu erkennen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.
Wie die Revision mit Recht beanstandet, ist der Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör iS der §§ 62, 128 Abs 2 SGG verletzt worden. Das LSG hat der Klägerin zwar Gelegenheit gegeben, sich zu den medizinischen Gutachten zu äußern, die es über die ihr verbliebene gesundheitliche Leistungsfähigkeit eingeholt hat. Es hat der Klägerin auch mitgeteilt, daß es ihre Verweisung auf die Tätigkeiten des gehobenen Pförtners oder einfachere Arbeiten im Büro-, Registratur-, Kassen-, Buchhalterei-, Kanzlei- oder sonstigen Innendienst sowie in Büchereien, Archiven, Museen, wissenschaftlichen Anstalten und im Magazindienst in Betracht ziehe. Die Klägerin hatte also Gelegenheit, sich hierzu zu äußern. Dagegen hat das LSG der Klägerin nicht die Möglichkeit eröffnet, sich zu den Anforderungen zu äußern, welche die vom LSG erst im angefochtenen Urteil konkret benannten Verweisungstätigkeiten nach der vom LSG offenbar angenommenen Kenntnis für den Arbeitnehmer in körperlicher und geistiger Hinsicht bedeuten. Insoweit ist der Klägerin die Möglichkeit genommen worden, aus den bei ihr festgestellten Beeinträchtigungen des Leistungsvermögens die Unzumutbarkeit dieser Verweisungstätigkeiten herzuleiten. Damit ist, wie der erkennende Senat bereits mit Urteil vom 15. Juli 1982 (SozR 1500 § 62 Nr 11) entschieden hat, der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, weil die Klägerin nicht auf die vorhandene Gerichtskunde von den Anforderungen der Verweisungstätigkeiten an das Leistungsvermögen hingewiesen worden ist (vgl hierzu auch SozR 1500 § 128 Nrn 4, 6, 15 sowie 2200 § 1246 Nr 98).
Die Feststellungen des LSG zur Fähigkeit der Klägerin, die genannten Verweisungstätigkeiten in dem erforderlichen Umfang zu verrichten, vermögen deshalb das Berufungsurteil nicht zu tragen. Mangels in der Sache ausreichender und für das Revisionsgericht bindender Feststellungen zur Verweisbarkeit der Klägerin auf die vom LSG genannten Tätigkeiten hat der Senat gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen. Auf die materielle Revisionsrüge einer Verletzung des § 1246 Abs 2 RVO hatte es daher für die Entscheidung des Senats nicht mehr anzukommen.
Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das LSG sowohl von seinen Feststellungen zum Leistungsvermögen der Klägerin - falls insoweit Änderungen nicht geltend gemacht werden - als auch davon ausgehen können, daß es sich in der Tätigkeit der Posthalterin um eine Facharbeitertätigkeit iS des von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) entwickelten Vierstufenschemas der Leitberufe (BSGE 43, 243 = SozR 2200 § 1246 Nr 16) handelt, weil die insoweit von der Revision nicht beanstandeten Feststellungen des LSG hinreichende Anhaltspunkte für die tarifliche Gleichstellung der Posthalterin II mit Facharbeitertätigkeiten, nicht aber für ihre tarifliche Gleichstellung mit dem Leitberuf des Facharbeiters mit Vorgesetztenfunktion bieten. Dagegen wird das LSG hinsichtlich der in Betracht zu ziehenden Verweisungstätigkeiten zunächst einmal feststellen müssen, ob es sich dabei um Tätigkeiten der Gruppe mit dem Leitberuf des sonstigen Ausbildungsberufs iS des erwähnten Vierstufenschemas handelt, auf die auch ein Facharbeiter zumutbar verwiesen werden kann (vgl hierzu die zur Veröffentlichung bestimmten Urteile des Senats vom 1. 12. 1983 - 5b RJ 114/82 und 1. 2. 1984 - 5b RJ 80/83 mwN).
Erst wenn dies in bezug auf bestimmte Berufe feststeht, kommen diese als Verweisungstätigkeiten für die Klägerin in dem Sinne in Betracht, daß nunmehr die körperlichen und geistigen Anforderungen dieser Tätigkeiten geprüft, der Klägerin mit der Möglichkeit zur Äußerung zur Kenntnis gegeben und sodann mit den ihr verbliebenen Kräften und Fähigkeiten verglichen werden. Vom Ergebnis dieses Vergleichs hängt die Entscheidung ab, ob die Klägerin den geltend gemachten Rentenanspruch hat oder sich auf eine ihr zumutbare Tätigkeit verweisen lassen muß.
Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen