Entscheidungsstichwort (Thema)
Anrechnungsfähige Versicherungsjahre bei Beiträgen während Ausfallzeit
Orientierungssatz
Die während einer nachgewiesenen Ausfallzeit entrichteten Beiträge sind bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre iS des § 1258 Abs 1 RVO als Versicherungszeit zu berücksichtigen, wenn nicht die nachgewiesene, sondern eine längere pauschale Ausfallzeit anzurechnen ist (Festhaltung an BSG vom 1981-06-30 - 5b/5 RJ 126/79 = SozR 2200 § 1258 Nr 1 und BSG vom 1982-09-09 - 5b RJ 60/81 = SozR 2200 § 1258 Nr 2).
Normenkette
RVO § 1254 Abs 1, § 1255 Abs 7 S 2 Fassung: 1971-12-22, § 1258 Abs 1 Fassung: 1971-12-22; ArVNG Art 2 § 14 Abs 1 Fassung: 1981-12-01
Verfahrensgang
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 07.12.1982; Aktenzeichen S 5 J 273/82) |
Tatbestand
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 9. Februar 1982 bewilligte die Beklagte dem Kläger Altersruhegeld. Dabei brachte sie die streitigen sieben Beiträge, welche der Kläger nach § 10 des Gesetzes über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Juli 1935 (Handelsschulbesuch) nachentrichtet hatte, zwar bei der Berechnung der pauschalen Ausfallzeit als Versicherungszeit in Ansatz, nicht aber bei Berechnung der Anzahl der Versicherungsjahre nach § 1258 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO), weil die Beiträge während einer anzurechnenden Ausfallzeit (§ 1259 Abs 1 Nr 4 Buchst b RVO) entrichtet worden seien.
Auf den Widerspruch des Klägers, den die Widerspruchsstelle der Beklagten gemäß § 85 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) mit Zustimmung des Klägers dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf als Klage zuleitete, hat das SG die Beklagte am 7. Dezember 1982 in Abänderung des angefochtenen Bescheides verurteilt, die für Januar bis Juli 1935 nachentrichteten Monatsbeiträge bei der Berechnung der Anzahl der Versicherungsjahre zu berücksichtigen und höheres Altersruhegeld zu zahlen. Das SG hat sich zur Begründung im wesentlichen dem Urteil des erkennenden Senats vom 30. Juni 1981 (SozR 2200 § 1258 Nr 1) angeschlossen und die Sprungrevision zugelassen.
Zur Begründung der mit Zustimmung des Klägers eingelegten Sprungrevision macht die Beklagte geltend, eine Neuberechnung des Altersruhegeldes des Klägers sei nicht erforderlich, weil § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO die Berücksichtigung gemäß § 10 WGSVG nachentrichteter Beiträge für denselben Zeitraum ausschließe. Sie verweist hierzu auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO. Deshalb stelle das vom SG zitierte Urteil des erkennenden Senats keine gesicherte höchstrichterliche Rechtsprechung zur Frage der Anwendung des § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO in Fällen der Nachentrichtung von Beiträgen gemäß § 10 WGSVG dar. Insbesondere sei kein überzeugender Grund dafür erkennbar, daß bei Ermittlung der persönlichen Bemessungsgrundlage die pauschale Ausfallzeit und die Beiträge als auf denselben Zeitraum entfallend angesehen würden, nicht aber bei Ermittlung der Versicherungsjahre.
Die Beklagte beantragt, die Klage in Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision der Beklagten ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Frage, ob bei Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre Ausfallzeiten mit den auf die Wartezeit anzurechnenden Versicherungszeiten zusammenzurechnen sind, nicht in § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO, sondern in § 1258 Abs 1 RVO geregelt. Beide Bestimmungen betreffen voneinander verschiedene Bemessungsfaktoren des hier der Höhe nach streitigen Altersruhegeldes. Dessen Jahresbetrag ergibt sich nach § 1254 Abs 1 RVO aus der Vervielfältigung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre (§ 1258 RVO) mit 1,5 vH der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage (§ 1255 RVO). Der Rechtsstreit betrifft nicht die für den Versicherten maßgebende Rentenbemessungsgrundlage. Es kommt folglich auch auf die Rechtsprechung des BSG zu § 1255 Abs 7 RVO hier nicht an. Das hat der erkennende Senat in seinem Urteil vom 30. Juni 1981 (SozR 2200 § 1258 Nr 1) bereits deutlich hervorgehoben.
Entgegen dem Vorbringen in der Revisionsbegründung ist die Beklagte durch das angefochtene Urteil auch nicht verpflichtet worden, das Altersruhegeld des Klägers "unter Berücksichtigung der für die Monate Januar bis Juli 1935 gemäß § 10 WGSVG nachentrichteten Beiträge neu zu berechnen".
Streitig ist vielmehr wie in dem vom erkennenden Senat bereits entschiedenen Fall (ebenso im Urteil vom 9. September 1982 aaO Nr 2) lediglich, ob diese Beiträge bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre iS von § 1258 Abs 1 RVO zu berücksichtigen sind. Diese Bestimmung sieht seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter (1. Januar 1957) die Zusammenrechnung der auf die Wartezeit anzurechnenden Versicherungszeiten mit den Ausfallzeiten und den Zurechnungszeiten bei Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre vor, soweit sie nicht auf dieselbe Zeit entfallen. Gleichzeitig mit dieser Bestimmung trat aber auch die Regelung des Art 2 § 14 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) in Kraft, welche für die Zeit vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes bei Berechnung der Rente die Anrechnung eines Zehntels der bis dahin mit Pflichtbeiträgen belegten Zeit als Ausfallzeit vorschrieb, wenn der Versicherte nicht längere Ausfallzeiten nachwies. Die Besonderheit der pauschalen Ausfallzeit war und ist es, daß sie ohne konkrete Festlegung auf bestimmte Zeiträume eine pauschale Verlängerung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre iS des § 1258 Abs 1 RVO bewirkt. Die ursprüngliche Regelung des Art 2 § 14 ArVNG ist mit Wirkung ab 1. Januar 1966 durch die nunmehr gültige Fassung in Art 2 § 1 Nr 4 des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 (BGBl I, 476) ersetzt worden. An der Besonderheit der pauschalen Ausfallzeit, daß sie eine zeitlich nicht fixierte Vermehrung der Versicherungsjahre vor dem 1. Januar 1957 bedeutet, ist dabei jedoch nichts geändert worden. Auch das Urteil des erkennenden Senats vom 30. Juni 1981 - bestätigt durch das weitere Urteil vom 9. September 1982 - hat dem Gesetzgeber bislang keinen Anlaß gegeben, an der erwähnten Besonderheit der pauschalen Ausfallzeit eine Änderung vorzunehmen.
Zutreffend geht die Beklagte davon aus, daß bei der Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre zunächst die auf die Wartezeit anzurechnenden Versicherungszeiten festzustellen sind. Ausfallzeiten und Zurechnungszeiten werden damit nur zusammengerechnet, soweit sie nicht auf dieselbe Zeit entfallen oder mit einer hier nicht in Betracht kommenden Zeit nach § 56 Abs 1a des Reichsknappschaftsgesetzes zusammentreffen. Zutreffend hat die Beklagte die vom Kläger für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Juli 1935 nachentrichteten sieben Monatsbeiträge als Versicherungszeiten gewertet und sie deshalb bei Anwendung des Art 2 § 14 Abs 1 Satz 4 von der Gesamtzeit abgezogen. Das bedeutete einerseits eine Verminderung der nach Abzug der Versicherungszeit von der Gesamtzeit verbleibenden Zeit iS von Art 2 § 14 Abs 1 Satz 5 ArVNG. Andererseits bewirkte dies aber auch eine Erweiterung der Versicherungszeit und somit auch des Viertels dieser Versicherungszeit, bis zu dessen Höhe die verbleibende Zeit bei Ermittlung der pauschalen Ausfallzeit nach der eben genannten Bestimmung zu berücksichtigen ist. Von dieser Regelung geht somit auf die Versicherten, denen eine pauschale Ausfallzeit anzurechnen ist, sowohl eine für sie nachteilige Wirkung - durch Verkürzung der verbleibenden Zeit - als auch eine ihnen günstige Wirkung - Erweiterung der Berücksichtigungsgrenze des Viertels der Versicherungszeit - aus. Darauf weisen Zweng/Buschmann/Scheerer, Handbuch der Rentenversicherung, Bd 1 Stand: 1. Oktober 1983 in Anm II 2 Fb zu § 1255 auf S 36 zutreffend hin. Es muß jedoch Bedenken begegnen, wenn daraus bei Berücksichtigung der Regelung des § 1260a RVO eine doppelte Begünstigung der Versicherten hergeleitet wird. Im Verhältnis zu der sie voll treffenden nachteiligen Wirkung der Verkürzung der verbleibenden Zeit wird nämlich die Erweiterung der Berücksichtigungsgrenze nicht voll, sondern nur zu 1/4 wirksam. Aber selbst wenn mit dieser Einschränkung von einer "doppelten Begünstigung" gesprochen werden kann, hat sie der Gesetzgeber in Kauf genommen. Er hat nämlich das nur für identische Zeiten geltende Prinzip des Vorrangs der Versicherungszeiten vor Ausfallzeiten und Zurechnungszeiten in § 1258 Abs 1 RVO nicht auf die pauschale Ausfallzeit nach Art 2 § 14 ArVNG erstreckt. Zu diesem Ergebnis führt sowohl die wörtliche Auslegung des § 1258 Abs 1 wie auch der systematische Zusammenhang mit Art 2 § 14 ArVNG.
Wollte man in der Frage, ob eine Ausfallzeit auf dieselbe Zeit entfällt wie eine Versicherungszeit, vom einzigen bei der pauschalen Ausfallzeit verwertbaren zeitlichen Anhalt ausgehen, daß sie zur Berechnung der Rente für die Zeit vor dem 1. Januar 1957 bestimmt ist, dann müßte dem das zeitlich in gleichem Maße unbestimmte Merkmal gegenübergestellt werden, daß auf die Wartezeit anzurechnende Versicherungszeiten aus der Zeit vor dem 1. Januar 1957 vorliegen. Würde man darin ein "auf dieselbe Zeit entfallen" erblicken, so käme eine pauschale Ausfallzeit praktisch nie in Betracht. Soll das vermieden werden, bleibt nur übrig, von der Zeit vor dem 1. Januar 1957 die zeitlich konkret bezeichneten Versicherungszeiten abzuziehen und die Ausfallzeit nach dem verbleibenden Rest zu bemessen, ohne sie dabei jedoch zeitlich genau festzulegen. Dies sieht die Regelung des Art 2 § 14 Abs 1 Satz 4 ArVNG vor. Sie ist somit - im Gegensatz zu einer nachgewiesenen Ausfallzeit - nicht auf einen konkreten Zeitraum fixierbar, so daß nicht gesagt werden kann, sie entfalle iS des § 1258 Abs 1 RVO auf dieselbe Zeit wie eine Versicherungszeit.
Das in § 1258 Abs 1 RVO nur für identische Zeiten geltende Prinzip des Vorrangs der Versicherungszeiten vor Ausfallzeiten und Zurechnungszeiten kann deshalb nicht dazu führen, die während einer nachgewiesenen Ausfallzeit entrichteten - nach § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO nicht anrechenbaren - Beiträge auch nach § 1258 Abs 1 RVO unberücksichtigt zu lassen, wenn nicht die nachgewiesene, sondern die zeitlich nicht genau fixierbare pauschale Ausfallzeit anzurechnen ist. Das Vorbringen der Beklagten ist nicht geeignet, diese bisherige Rechtsprechung des Senats aufzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen