Entscheidungsstichwort (Thema)

Deutscher Eisenbahntarif revisibles Recht. Zuständigkeit des Versorgungsamtes für die Anwendung des Vergünstigungsmerkmals "1. Klasse". Fahrpreisvergünstigung Sonderleistung des sozialen Entschädigungsrechts. Eingliederungsgedanke im Schwerbehindertenrecht und in der Kriegsopferfürsorge. Wohlfahrtspflege. Kausalitätsnorm bei Sondervergünstigung. Auslegung des Begriffs "erfordern"

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den gesundheitlichen Voraussetzungen für das Schwerkriegsbeschädigten-Vergünstigungsmerkmal "1. Klasse".

 

Orientierungssatz

1. Der Deutsche Eisenbahn-, Personen-, Gepäck- und Expressguttarif (DPT), der in Teil II Nr 12 Buchst b die Voraussetzungen für das Vergünstigungsmerkmal, die 1. Wagenklasse der Deutschen Bundesbahn mit Fahrausweisen der 2. Klasse zu benutzen, regelt, ist als revisibles Recht iS des § 162 SGG anzuwenden (vgl BSG vom 1962-02-13 3 RK 13/58 = BSGE 16, 165, 168).

2. Die Versorgungsbehörde ist zuständig, über die gesundheitlichen Voraussetzungen des Vergünstigungsmerkmals "1. Klasse" zu entscheiden. Insoweit gilt die Rechtsauffassung des erkennenden Senats zur Entscheidungskompetenz bei der Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht entsprechend (vgl ua BSG vom 1982-03-17 9a/9 RVs 6/81 = SozR 3870 § 3 Nr 15).

3. Die Fahrpreisvergünstigung wird zusätzlich zur Grundrente als Sonderleistung der sozialen Entschädigung gewährt und ist gegenüber den anderen rentenberechtigten Kriegsbeschädigten, die sie nicht erhalten, nur dann gerechtfertigt, wenn besondere Bedürfnisse das Reisen in der ersten Wagenklasse gebieten. Dieser Personenkreis ist noch enger begrenzt als derjenige der Schwerstbeschädigten, denen "wirksame Sonderfürsorge" aus der Kriegsopferfürsorge zu gewähren ist (§ 27e BVG).

4. Zur Fahrpreisvergünstigung unter dem Gesichtspunkt der Eingliederung im Schwerbehindertenrecht und in der Kriegsopferfürsorge und zum Begriff der Wohlfahrt bzw Wohlfahrtspflege.

5. Die Fahrpreisvergünstigung wird allein Kriegsbeschädigten gewährt. Daher müssen die anerkannten Schädigungsfolgen die ausschließliche Ursache der Beschwerden sein, die das Benutzen der 1. Klasse erfordern. Insoweit gilt nicht die allgemeine versorgungsrechtliche Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung, die auch Mitbedingungen berücksichtigen läßt, wenn sie nicht bedeutsamer sind als die Schädigungsfolgen.

6. Zur Bedeutung des Begriffs "erfordern" in der auszulegenden Tarifbestimmung.

 

Normenkette

SGG § 162; SchwbG § 3 Abs 1 S 1, § 3 Abs 4, § 3 Abs 5 S 1, § 45 Abs 1; SGB 1 § 24 Abs 1 Nr 2; BVG §§ 27e, 25 Abs 2; EVO § 11 Abs 4, § 6 Abs 1, § 6 Abs 5

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 17.02.1983; Aktenzeichen L 7 V 93/82)

SG Detmold (Entscheidung vom 07.04.1982; Aktenzeichen S 18 V 87/81)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung, daß bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Benutzung der 1. Wagenklasse mit einem Fahrausweis der 2. Klasse bei Eisenbahnfahrten - "1. Kl." - gegeben sind.

Das Versorgungsamt (VA) hat bei dem Kläger als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG):

"Verlust des ganzen linken Armes ohne freien Stumpf mit Verdacht auf Stumpfneurom, nicht mehr ausgleichbare S-förmige Verbiegung der Hals- und Brustwirbelsäule mit sec. spondylarthrotischen Veränderungen"

anerkannt und die dadurch bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 90 vH bewertet (Neufeststellungsbescheid vom 5. Oktober 1979).

1979 beantragte der Kläger, das Vergünstigungsmerkmal "Benutzung der 1. Wagenklasse" in seinen Schwerkriegsbeschädigtenausweis aufzunehmen. Das VA lehnte diesen Antrag nach Einholung versorgungsärztlicher Stellungnahmen ab (Bescheid vom 9. September 1980, Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 1981).

Die hiergegen erhobene Klage hatte Erfolg (Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 7. April 1982 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 17. Februar 1983). Das LSG hat die Auffassung vertreten, daß bei dem Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen des Vergünstigungsmerkmals "Benutzung der 1. Wagenklasse" gegeben seien. Nach den Tarifbestimmungen der Deutschen Bundesbahn (DB) seien Schwerkriegsbeschädigte mit einer MdE von mindestens 70 vH zur Benutzung der 1. Wagenklasse berechtigt, wenn ihr körperlicher Zustand bei Reisen ständig die Unterbringung in der 1. Wagenklasse "erfordert". Entsprechend dem Sinn und Zweck der Tarifregelung, nämlich besonders betroffenen Schwerkriegsbeschädigten das Reisen allgemein zu erleichtern, komme es nur darauf an, ob dem Schwerkriegsbeschädigten im Hinblick auf seine Schädigungsfolgen durch die Benutzung der 1. Wagenklasse eine besondere Erleichterung verschafft werde. Davon ausgehend könne dies bei sinnvoller Anwendung der Tarifregelung nur bedeuten, daß es aus medizinischen Gründen - nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalles - sinnvoll und geboten erscheinen müsse, bestimmte Schwerkriegsbeschädigte nicht unter Inanspruchnahme der 2., sondern der 1. Wagenklasse reisen zu lassen. Aufgrund der medizinischen Beweiserhebung stehe zur Überzeugung des Senats fest, daß bei dem Kläger die Beweglichkeit der Hals- und auch der Brustwirbelsäule mit einer erheblichen Verspannung der Muskulatur schmerzhaft eingeschränkt sei und der Kläger zusätzlich unter einem unter der Amputationsnarbe liegenden druckschmerzhaften Tumor, einem Neurom, leide. Im Hinblick auf die erheblichen von dem anerkannten Wirbelsäulenleiden ausgehenden Schmerzen und das zusätzlich bestehende Neurom sei es geboten, dem Kläger den Anspruch auf die Benutzung der 1. Wagenklasse mit dem Fahrausweis der 2. Wagenklasse zuzuerkennen. Denn die Wirbelsäulenbeschwerden des Klägers könnten - wie der Kläger selbst glaubhaft vorgetragen habe und die medizinische Beweiserhebung im ersten Rechtszug ergeben habe - erheblich verringert werden, wenn der Kläger in die Lage versetzt werde, seine Sitzposition ständig zu verändern und den Komfort eines gut gepolsterten Sitzes auszunutzen. Dies sei ihm erst ausreichend möglich durch die Inanspruchnahme der 1. Wagenklasse wegen der dort regelmäßig vorhandenen wesentlich größeren Abstände der gegenüberliegenden Sitze, der besseren Polsterung der Sitze und der geringeren Besetzung der Wagenabteile. Unter Berücksichtigung der bei dem Kläger anerkannten Schädigungsfolgen, insbesondere auch des druckschmerzhaften Neuroms, sei er unbedingt darauf angewiesen, einem bei starker Besetzung der Wagenabteile schwer vermeidbaren Gedränge, Geschiebe und Anstoßen mit anderen Personen auszuweichen.

Der Beklagte rügt mit der - vom BSG zugelassenen - Revision eine Verletzung der Tarifbestimmung der DB. Das LSG habe das in dieser Tarifbestimmung enthaltene Tatbestandsmerkmal "erfordert" unzutreffend ausgelegt. Denn das Gericht habe es als ausreichend angesehen, daß dem Kläger im Hinblick auf seine Schädigungsfolgen Eisenbahnfahrten durch die Benutzung der 1. Wagenklasse "erleichtert" werden. Das Tatbestandsmerkmal "erfordert" stelle jedoch höhere Anforderungen. Es verlange zumindest, daß dem Schwerkriegsbeschädigten aufgrund seiner anerkannten Schädigungsfolgen die Benutzung der 2. Wagenklasse nicht mehr "zumutbar" sei. Diese Auslegung finde eine Stütze in den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und dem Schwerbehindertengesetz - 1983 -. Soweit hiernach beispielsweise bei Kriegsblinden die streitige Vergünstigungsvoraussetzung unterstellt werde, sei diesem Personenkreis zwar nicht unmöglich, jedoch unzumutbar, in der 2. Wagenklasse zu reisen. Gerade dieser beispielhaft aufgeführte Personenkreis zeige, daß nach dem Sinn und Zweck der Tarifvergünstigung nicht noch so geringe schädigungsbedingte Nachteile ausgeglichen werden sollten, sondern nur unter Anlegung eines strengen Maßstabes die Tarifvergünstigung gewährt werden solle. Dabei sei nicht auf den Gesamtleidenszustand des Schwerkriegsbeschädigten, sondern nur auf die anerkannten Schädigungsfolgen abzustellen.

Der Beklagte beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 17. Februar 1983 und des Sozialgerichts Detmold vom 7. April 1982 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des LSG für sachlich zutreffend. Denn Ziel der tariflichen Vergünstigung sei es, dem Schwerkriegsbeschädigten das Reisen allgemein zu erleichtern. Von dieser Zielsetzung her - die auch die Beigeladene ausdrücklich bestätigt habe - habe das LSG das Tatbestandsmerkmal "erfordert" überzeugend ausgelegt. Zusätzlich müsse berücksichtigt werden, daß Voraussetzung und Gegenstand des sozialen Entschädigungsrechts ein Gesundheitsschaden sei, für dessen Folgen die staatliche Gemeinschaft in Abgeltung eines besonderen Opfers nach versorgungsrechtlichen Grundsätzen einzustehen habe.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist zulässig und hat Erfolg. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben, und der Rechtsstreit ist an das LSG zurückzuverweisen.

Die Voraussetzungen des umstrittenen Vergünstigungsmerkmals, die 1. Wagenklasse der DB mit Fahrausweisen der 2. Klasse zu benutzen, sind im Teil II Nr VII Buchst b des Deutschen Eisenbahn-, Personen-, Gepäck- und Expreßguttarifs (DPT II) geregelt. Das ist als revisibles Recht iS des § 162 Sozialgerichtsgesetz (SGG) anzuwenden (vgl dazu BSGE 16, 165, 168). Denn die Tarifbestimmung gilt bundesweit und beruht auf Bundesrecht, und zwar auf § 11 Abs 4 und auf § 6 Abs 1 und 5 der Eisenbahn-Verkehrsordnung -EVO- vom 8. September 1938 (BGBl III Sachgebiet 9 Nrn 934-1), die ihre Ermächtigungsgrundlage in § 458 Handelsgesetzbuch (HGB) und in § 3 Abs 1 Buchstabe b des Allgemeinen Eisenbahngesetzes vom 29. März 1951 (BGBl I 225) hat (vgl Schlegelberger/Geßler, Kommentar zum Handelsgesetzbuch, 5. Aufl 1977, Bd IV, Anm 1 zu § 458; Text der EVO im Anhang §§ 453 bis 460; Brüggemann in: Staub, Großkommentar zum Handelsgesetzbuch, 3. Aufl 1982, Bd V/2, Anm 3 vor § 453).

Die Vorinstanzen haben zutreffend die Versorgungsbehörden für zuständig gehalten, über die gesundheitlichen Voraussetzungen des Vergünstigungsmerkmals "1. Klasse" zu entscheiden (§ 3 Abs 4 iVm Abs 1 Satz 1 Schwerbehindertengesetz -SchwbG- in der Fassung vom 8. Oktober 1979 - BGBl I 1649 -, Gesetz vom 22. Dezember 1981 - BGBl I 1523 -, Gesetz vom 22. Dezember 1983 - BGBl I 1532 -). Insoweit gilt die Rechtsauffassung des erkennenden Senats zur Entscheidungskompetenz bei der Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht entsprechend (BSGE 52, 168, 170 f = SozR 3870 § 3 Nr 13; SozR 3870 § 3 Nr 15). Die vom Kläger begehrte Feststellung, daß er die gesundheitlichen Bedingungen für die Benutzung der 1. Wagenklasse mit einem Fahrausweis der 2. Klasse erfüllt, wird für eine entsprechende Eintragung im Schwerbehindertenausweis für Kriegsbeschädigte benötigt (§ 3 Abs 5 Satz 1 SchwbG iVm §§ 1, 2 Abs 1, § 3 Abs 1 Nr 5 der Vierten Verordnung zur Durchführung des SchwbG vom 15. Mai 1981 - BGBl I 431 -; vorher IV Abs 8 der Richtlinien über Ausweise für Schwerbeschädigte und Schwerbehinderte vom 11. Oktober 1965 - GMBl Nr 37 S 402 - in der Fassung von 1977 - Beilage zum BVBl 1977/Heft 3/4).

Das Berufungsgericht hat sich nicht von zutreffenden rechtlichen Überlegungen leiten lassen und hat infolgedessen für seine Entscheidung über den Klageanspruch nicht alle rechtserheblichen Tatsachen festgestellt.

"Berechtigte" sind nach der hier maßgebenden Tarifbestimmung "Schwerkriegsbeschädigte, deren Erwerbsfähigkeit mindestens um 70% gemindert ist, wenn ihr körperlicher Zustand bei Reisen ständig die Unterbringung in der 1. Wagenklasse erfordert". Was in diesem Sinne erforderlich ist, richtet sich nach dem Rechtsgrund und dem Zweck der Fahrpreisermäßigung. Im gegenwärtigen Fall müßten die Schädigungsfolgen die Benutzung der der 1. Wagenklasse eigentümlichen Bequemlichkeiten deshalb gebieten, weil diese im Unterschied zur andersartigen Beschaffenheit der Abteile der 2. Klasse den Behinderungen in besonderer Weise gerecht werden. Die Fahrpreisermäßigung wird als Sonderleistung der sozialen Entschädigung für Kriegsopfer gewährt (§ 5 Satz 1, § 24 Abs 1, Art II § 1 Nr 11 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - -SGB I- vom 11. Dezember 1975 - BGBl I 3015 -; § 1 Abs 1 BVG), und zwar außerhalb des gesetzlichen Kataloges der Versorgungsleistungen (§ 9 BVG). Diese finanzielle Vergünstigung zusätzlich zur Grundrente (§ 30 Abs 1 und 2, § 31 Abs 1 und 2 BVG) ist gegenüber den anderen rentenberechtigten Kriegsbeschädigten, die sie nicht erhalten, nur dann gerechtfertigt, wenn besondere Bedürfnisse das Reisen in der ersten Wagenklasse gebieten. Das gilt im Vergleich mit den Ansprüchen sowohl aller Kriegsbeschädigten mit einer MdE von mindestens 70 vH als auch der weniger Betroffenen, die aber wegen der Eigenart ihrer Schädigungsfolgen auf besonders günstige Sitzverhältnisse bei Bahnfahrten angewiesen sind.

In diesem Sinn ist der "strenge Maßstab" zu verstehen, der nach den vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem SchwbG, 1983, S 132 (früher Anhaltspunkte für die ärztliche Begutachtung Behinderter nach dem SchwbG, 1977 S 21) für die Beurteilung der hier umstrittenen Voraussetzung maßgebend sein soll. Diese Richtlinie soll die Verwaltungspraxis im ganzen Bundesgebiet vereinheitlichen. Sie hat außerdem ein Leitbild durch einige begünstigte Personengruppen festgelegt, die ausdrücklich genannt werden. Danach ist für die Empfänger der drei höchsten von fünf Pflegezulagestufen (wegen außergewöhnlicher Pflege - § 35 Abs 1 BVG -), für Kriegsblinde, für kriegsbeschädigte Ohnhänder und für kriegsbeschädigte Querschnittsgelähmte, zu unterstellen, daß ihr Zustand das Reisen in der 1. Wagenklasse erfordert. Dieser Personenkreis ist sogar noch enger begrenzt als derjenige der Schwerstbeschädigten, denen "wirksame Sonderfürsorge" aus der Kriegsopferfürsorge zu gewähren ist (§ 27e BVG). Von jener Leitgruppe ausgehend, kann anderen Kriegsbeschädigten mit einer MdE von wenigstens 70 vH diese Vergünstigung nur dann gewährt werden, wenn sie an annähernd schweren Funktionsbehinderungen leiden. Diese Funktionsbehinderungen müssen allerdings - im Unterschied zur Unterstellung in jenen Fällen - tatsächlich den Kriegsbeschädigten wegen ihres ähnlichen Ausmaßes, nicht notwendig wegen ähnlicher Art, gerade auf die regelmäßig allein in der 1. Wagenklasse gebotene Ausstattung angewiesen sein lassen. Es genügt nicht, daß geringfügige körperliche Empfindlichkeiten oder Beschwerden das Fahren in der 1. Klasse angenehmer als in der 2. Klasse sein lassen.

Der Unterschied zur Heilbehandlung (§ 11 BVG) bestätigt, daß nicht jegliche Erleichterung der Schädigungsfolgen für die Fahrpreisermäßigung genügt. Die Heilbehandlung wird nach § 10 Abs 1 Satz 1 BVG selbst zur geringsten Besserung, Verhütung einer Verschlimmerung oder Erleichterung gewährt, und zwar schon bei wenig ausgeprägten Gesundheitsstörungen. Sie setzt nicht einmal eine MdE um wenigstens 25 vH voraus, von der ein Rentenanspruch abhängt (§ 31 Abs 1 und 2 BVG). Das entspricht dem weiten Maßstab für die medizinischen Hilfen zur Eingliederung der Behinderten, die diese auch in anderen sozialrechtlichen Bereichen erhalten können (§ 10 Nr 1, § 29 Abs 1 Nr 1 SGB I).

Unter dem Gesichtspunkt der Eingliederung, der die umstrittene Entschädigung speziell bestimmt, ergibt sich keine andere Auslegung der zitierten Tarifbestimmung. Eine finanzielle Vergünstigung beim Reisen wie die vom Kläger angestrebte wird zur Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft gewährt (zur Eingliederung: § 29 SGB I, § 10 Abs 1 Satz 1, § 26 Abs 1 Satz 1 BVG und volle amtliche Überschrift des SchwbG). Nach § 6 Abs 5 EVO ist sie ua für "Wohlfahrtszwecke" bestimmt. Unter "Wohlfahrt" oder "Wohlfahrtspflege" verstand die Rechtssprache früher ein mehrgliedriges System zum Ausgleich besonderer Benachteiligungen einzelner Personen, wozu heute ua die Kriegsopferfürsorge und das Recht der Schwerbehinderten gehören (Dünner - Hg-, Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege, 2. Aufl 1929; Tilch, Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge 1921/22, 7 ff; jetzt: §§ 5, 10, 20, 24 Abs 1 Nr 2, §§ 28, 29, Art II § 1 Nrn 3 und 11 SGB I, §§ 25-27i BVG, SchwbG). In diesen Gebieten ist der Eingliederungsgedanke beherrschend. Er läßt in der Kriegsopferfürsorge bereits jegliche Milderung der Schädigungsfolgen als Leistungsgrund genügen (§ 25 Abs 2 BVG). Die vom Kläger angestrebte Leistung, die gegenüber den nicht kriegsbedingt Behinderten durch den Entschädigungsgrundsatz gerechtfertigt wird, setzt unter dem Gesichtspunkt der Eingliederung deshalb eine besondere gesundheitliche Betroffenheit voraus, weil bestimmten Gruppen von außerordentlich schwer Behinderten, die eine unentgeltliche Beförderung mit öffentlichen Verkehrsmitteln, neuerdings bei geringer Eigenbeteiligung beanspruchen können, beim Benutzen von Zügen der DB selbst ungeachtet schwerster Behinderungen lediglich die 2. Wagenklasse zugänglich gemacht wird (§§ 57-59 SchwbG idF des Gesetzes über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr vom 9. Juli 1979 - BGBl I 989 - / Bekanntmachung vom 8. Oktober 1979 - BGBl I 1649 - / Art 20 und 21 des Gesetzes vom 22. Dezember 1983 - BGBl 1516 -); für die 1. Klasse müssen sie den normalen Fahrpreis zahlen. Das gilt auch für Kriegsbeschädigte. Ihnen kann im Vergleich mit dieser Rechtslage das Reisen in der 1. Klasse ohne Fahrpreisaufschlag nach der Tarifbestimmung der DB nur unter Voraussetzungen eröffnet werden, die dieser außergewöhnlichen Entschädigungshilfe entsprechen.

Diese Schwerkriegsbeschädigten brauchen allerdings ohne diesen Vorteil nicht schädigungsbedingt von der Benutzung der Eisenbahn völlig ausgeschlossen zu sein. Eine entsprechend strenge Voraussetzung wird hingegen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht verlangt; sie erhält als Ausgleich nur, wer ständig und allgemein an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen kann (Urteile des erkennenden Senats in BSGE 53, 175, 177 ff = SozR 3870 § 3 Nr 15 und vom 2. März 1983 - 9a RV 4/82 -). Für verbilligte Bahnfahrten ist dagegen ein Vergleich mit Reisen in der 2. Wagenklasse maßgebend. Allgemein müssen nach § 45 Abs 1 SchwbG die Regelungen besonderer Vergünstigungen für Schwerbehinderte der Art und Schwere der Behinderung im Einzelfall Rechnung tragen. Dieser Grundsatz beherrscht das ganze Sozialrecht (§ 33 Satz 1 SGB I) und ebenfalls speziell die Kriegsopferfürsorge (§ 25b Abs 5 Satz 1 und 2 BVG). Dementsprechend muß der kriegsbedingte Funktionsausfall bei Schwerkriegsbeschädigten notwendig machen, Abteile der 1. Klasse deshalb zu benutzen, weil deren technische Vorzüge, die allgemein die 2. Klasse nicht bietet, geeignet sind, nennenswerte Beschwerden zu verhindern oder beträchtlich zu mildern. Bei diesem Vergleich kommt es allerdings nicht schlechthin darauf an, daß das Benutzen der 2. Klasse unzumutbar ist. Vielmehr muß die Ausstattung der 1. Klasse im Unterschied zu derjenigen der 2. Klasse funktionsgerecht gerade im Hinblick auf die Schädigungsfolgen ansehnliche gesundheitliche Vorteile bieten. Daß der Schwerkriegsbeschädigte wegen der Art seiner Behinderung gerade auf die Sonderausstattung der 1. Klasse angewiesen sein muß, folgt aus der Bedeutung, die der Begriff "erfordern" in der hier auszulegenden Tarifbestimmung hat. Die besondere Vergünstigung, der ein angemessenes Verhältnis von Behinderung und besseren Reisebedingungen entsprechen muß, ist allein dann gerechtfertigt, wenn das Reisen in der 1. Klasse notwendig ist, um nennenswerte Belastungen, die beim Benutzen von Abteilen der 2. Klasse aufträten, zu verhindern oder erheblich zu mildern.

Der erkennende Senat hat bereits für andere Vergünstigungen, die allgemein Schwerbehinderten unabhängig von der Ursache ihrer Behinderung zukommen, und zwar für Parkerleichterungen und für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht, grundsätzlich ausgeprägte Beeinträchtigungen gefordert, die die Annahme der entsprechenden Voraussetzung rechtfertigen, und zwar einer "außergewöhnlichen Gehbehinderung" oder einer Unfähigkeit zur Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen (BSG SozR 3870 § 3 Nr 11; BSGE 53, 175). Diese Anforderungen beruhen ebenfalls auf dem Eingliederungsgedanken.

Falls beim Eisenbahnfahren auch andere Gesundheitsstörungen des Klägers, die nicht als Schädigungsfolgen anerkannt sind, Beschwerden verursachen und diese durch eine Sonderausstattung der 1. Klasse verhindert oder nennenswert gemildert werden können, ist in rechtlicher Hinsicht folgendes zu beachten. Da die vom Kläger erstrebte Vergünstigung allein Kriegsbeschädigten gewährt wird, müssen die anerkannten Schädigungsfolgen die ausschließliche Ursache der Beschwerden sein, die das Benutzen der 1. Klasse erfordern. Insoweit gilt nicht die allgemeine versorgungsrechtliche Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung, die auch Mitbedingungen berücksichtigen läßt, wenn sie nicht bedeutsamer sind als die Schädigungsfolgen. Dieser Zurechnungsmaßstab wird bei der Anerkennung von Schädigungsfolgen angewendet und mag auch bei der Entscheidung über einzelne versorgungsrechtliche Leistungen nach dem BVG bedeutsam sein. Das erstreckt sich aber nicht auf Sondervergünstigungen, die außerhalb der gesetzlichen Entschädigung liegen und eher zur Kriegsopferfürsorge zu rechnen sind, mögen sie auch unabhängig vom Einkommen und Vermögen gewährt werden. Gleiches hat der erkennende Senat bereits für bestimmte Sonderregelungen der Pflegezulage, einer gesetzlichen Versorgungsleistung, entschieden (BSGE 48, 248, 251 = SozR 3100 § 35 Nr 11; SozR 3100 § 35 Nrn 10 und 12; Urteil vom 28. Oktober 1980 - 9/10 RV 65/77). Dementsprechend hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) für die unentgeltliche Beförderung Schwerbeschädigter entschieden, daß ausschließlich solche Gesundheitsstörungen, die im früheren Recht als Voraussetzungen genannt wurden, einen Anspruch begründeten (BVerwG, Zeitschrift für Kriegsopferfürsorge und Schwerbeschädigtenrecht 1971, 18; BVerwGE 44, 289, 293 f).

Nach den Feststellungen des LSG unterscheiden sich alle Abteile der 1. Wagenklasse der DB von denjenigen der 2. Klasse durch einen wesentlich größeren Abstand zwischen den gegenüberliegenden Sitzen. Das Berufungsgericht hat jedoch nicht eindeutig allein und zureichend darauf abgehoben. Nach der Urteilsbegründung machen nicht etwa die Schädigungsfolgen - eine schmerzhafte Einschränkung der Beweglichkeit der Hals- und Brustwirbelsäule mit Muskelverspannungen sowie ein möglicherweise bestehendes, druckschmerzhaftes Neurom unter der Amputationsnarbe - ein ständiges Verändern der Sitzhaltung, das allein in den längeren Abteilen der 1. Klasse möglich ist, notwendig, um beträchtliche Schmerzen in nennenswertem Ausmaß zu mildern. Ob ein solcher funktioneller Zusammenhang zwischen schädigungsbedingten Beschwerden und dem bezeichneten Vorzug der 1. Wagenklasse besteht, muß noch medizinisch geklärt werden. Die schädigungsbedingt erforderliche Lageänderung müßte gerade durch das Ausstrecken der Beine herbeizuführen sein. Dabei wird auch zu berücksichtigen sein, ob der Kläger, der nach seinen Angaben einen Pkw besitzt, beim Autofahren ebenfalls auf solche Sitzmöglichkeiten angewiesen ist und ob er sie sich im Kraftfahrzeug verschaffen kann. Dem begutachtenden Facharzt sollten die ergonometrischen Erkenntnisse zugänglich gemacht werden, nach denen die DB allgemein die Sitze in den Zügen gestalten läßt.

Ob der Kläger außerdem zur Vermeidung von Druckschmerzen im Hals- und Brustwirbelbereich auf die in der 1. Wagenklasse stets vorhandene Polsterung angewiesen ist, kann beim gegenwärtigen Erkenntnisstand noch nicht entschieden werden. Nach der einschlägigen Vorschrift muß der Kriegsbeschädigte wegen seiner schädigungsbedingten Behinderung "ständig" auf die Benutzung der 1. Klasse angewiesen sein. Das ist in zweifacher Hinsicht bedeutsam. Erstens müßten dauernd anhaltende oder wiederkehrende Beschwerden das Reisen in der 1. Klasse erfordern. Zweitens muß bei allen oder mindestens bei den meisten Eisenbahnfahrten eine besondere, von der 2. Klasse wesentlich unterschiedliche Ausstattung der 1. Klasse gegeben sein, die allein geeignet ist, nennenswerte Beschwerden zu verhindern oder beträchtlich zu mildern. Die im Berufungsurteil wiedergegebenen Auskünfte der Beigeladenen und ihres vom LSG gehörten Beamten lassen indes annehmen, daß nur einzelnen Wagentypen der 2. Klasse, wie auch allgemein bekannt ist, eine weniger weiche Polsterung als die Wagen der 1. Klasse und als die Abteile der 2. Klasse in vielen anderen Wagen haben. Das Zahlenverhältnis muß noch genauer geklärt werden. Nur dann, wenn die Züge, die der Kläger regelmäßig und ganz überwiegend zu benutzen pflegt, weitaus überwiegend mit sehr verschiedenartigen Sitzpolstern in der 1. und in der 2. Klasse ausgerüstet sind, bleibt medizinisch zu ermitteln, ob gerade die Polsterung in der 1. Klasse erheblich günstiger für die Beschwerden des Klägers als diejenige der 2. Klasse ist. Maßgebend ist die Ausstattung der vom Kläger üblicherweise benutzten Züge. Das folgt einerseits aus dem schon erwähnten Individualisierungsgrundsatz des Sozialrechts und andererseits aus dem Maßstab des "ständigen" Angewiesenseins. Sollte ein Funktionszusammenhang in dem zuvor geforderten Ausmaß nicht bestehen, so würde ein gelegentliches Benutzen ungünstiger ausgestatteter 2. Klasse-Abteile nicht der Anspruchsvoraussetzung genügen. Der Kläger müßte dann die Annehmlichkeiten des Reisens in der 1. Klasse, falls ihm daran gelegen ist, aus seiner Grundrente bezahlen, die entsprechend einer MdE um 90 vH bemessen wird. Gerade für solche schädigungsbedingten Mehraufwendungen, die mangels Typizität nicht anderweitig durch Sondervergünstigungen ausgeglichen werden, ist ein beträchtlicher Anteil der Grundrente bestimmt (Urteil des erkennenden Senats vom 27. Oktober 1982 - 9a RV 14/82).

Das LSG hat schließlich als weiteren Grund dafür, daß kriegsbedingte Beschwerden des Klägers das Reisen in der 1. Wagenklasse erforderten, eine stärkere Besetzung der 2. als der 1. Klasse berücksichtigt. Auf das gesundheitlich begründete Bedürfnis, einem Menschengedränge und -geschiebe sowie einem Anstoßen durch andere auszuweichen, kann aber der umstrittene Anspruch grundsätzlich nicht gestützt werden. Nach den Feststellungen im Berufungsurteil sind im Fernreiseverkehr durchschnittlich die Abteile der 1. Klasse bloß etwa zu einem Fünftel und diejenigen der 2. Klasse bloß etwa zu einem Drittel besetzt. Bei dieser geringen Auslastung kommt es, was allgemeiner Lebenserfahrung entspricht, in der 2. Klasse im Unterschied zur 1. nur selten zu Menschenansammlungen, denen der Kläger eigentlich wegen seiner Schädigungsfolgen ausweichen müßte. Damit fehlt es am "ständigen" Angewiesensein auf die 1. Wagenklasse aus diesem Grund.

Falls dem Kläger bei einzelnen Reisen die 2. Klasse zu stark besetzt erscheint, ist ihm zuzumuten, den Übergang in die 1. Klasse aus seiner Grundrente zu finanzieren. Nur dann, wenn der Kläger regelmäßig, zB bei Berufsfahrten oder bei Fahrten zu oder von seinem Arbeitsplatz, Nahverkehrszüge mit ständig überfüllten Abteilen der 2. Klasse benutzen müßte, wäre dies zu seinen Gunsten für einen Anspruch auf Benutzung der 1. Klasse mit einem Fahrausweis der 2. Klasse zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang wäre dann allerdings bei der Aufklärung auch zu prüfen, ob sich zwischenzeitlich tatsächlich der im Bescheid anerkannte "Verdacht auf Stumpfneurom" zu einem bestehenden Neurom erhärtet hat, worauf die Feststellungen des LSG hinweisen.

Das LSG hat nun in der gebotenen Weise die Sache weiter aufzuklären und auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

BSGE, 238

Breith. 1984, 978

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