Leitsatz (redaktionell)
Die Befreiung von der Angestelltenversicherungspflicht nach AnVNG Art 2 § 1 idF des FinÄndG 1967 setzt grundsätzlich voraus, daß der Angestellte bis zum 1967-12-31 wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze versicherungsfrei war und aufgrund des FinändG 1967 vom 1968-01-01 an versicherungspflichtig wurde; eine Befreiung kommt allerdings auch dann in Betracht, wenn das Gehalt des Angestellten im Monat Dezember 1967 die Jahresarbeitsverdienstgrenze überschritt und unter Berücksichtigung des AVG § 5 Abs 2 aF mit Ablauf dieses Monats Versicherungsfreiheit eingetreten wäre.
Normenkette
AnVNG Art. 2 § 1 Fassung: 1967-12-21; AVG § 5 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. Mai 1970 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte den Kläger auf dessen Antrag gemäß Art. 2 § 1 Abs. 1 Buchst. b) des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) idF des Gesetzes zur Verwirklichung der mehrjährigen Finanzplanung des Bundes, 2. Teil - Finanzänderungsgesetz 1967 (FinÄndG 1967) - (BGBl. I S. 1259) von der Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung (AnV) zu befreien hat.
Der 1936 geborene Kläger bezog als Angestellter ein Gehalt, das bis einschließlich November 1967 unter und vom 1. Dezember 1967 an über der damaligen Jahresarbeitsverdienstgrenze in der AnV lag, so daß er, falls die Vorschriften in § 4 Abs. 1 Nr. 1 und § 5 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aF nach Ablauf des Monats Dezember 1967 in Kraft geblieben wären, danach versicherungsfrei geworden wäre. Der Kläger hatte rechtzeitig ausreichende Lebensversicherungsverträge geschlossen. Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers ab, ihn nach Art. 2 § 1 AnVNG idF des FinÄndG 1967 von der Versicherungspflicht zu befreien, weil er bis zum 31. Dezember 1967 versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei (Bescheid vom 5. September 1968; Widerspruchsbescheid vom 11. November 1968). Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides in der Gestalt des Widerspruchsbescheides für verpflichtet erklärt, den Kläger ab 1. Januar 1968 von der Versicherungspflicht zu befreien (Urteil vom 19. Mai 1969). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 26. Mai 1970).
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung des Art. 2 § 1 AnVNG idF des FinÄndG 1967.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 26. Mai 1970 und des SG Mannheim vom 19. Mai 1969 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 5. September 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. November 1968 abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Das LSG hat im Ergebnis zutreffend den Antrag des Klägers, ihn nach Art. 2 § 1 Abs. 1 Buchst. b) AnVNG idF des FinÄndG 1967 von der Versicherungspflicht in der AnV zu befreien, für berechtigt erklärt. Eine solche Befreiung hat die Beklagte auszusprechen, wenn bestimmte, im Gesetz näher bezeichnete Voraussetzungen vorliegen. Mit Recht hat das Berufungsgericht sein Augenmerk auf den alleinigen Streitpunkt gerichtet, ob der Kläger vor dem 1. Januar 1968 nicht versicherungspflichtig gewesen ist und ob er aufgrund des FinÄndG 1967 wieder versicherungspflichtig geworden ist. Es hat den ihm nicht eindeutig erscheinenden Wortlaut des Art. 2 § 1 Abs. 1 Buchst. b) AnVNG idF des FinÄndG 1967 auf mindestens zweifache Weise für auslegungsfähig gehalten und deshalb zwischen einer zeitlichen und rechtslogischen Betrachtungsweise unterschieden. Mit der letzteren hat es seine Entscheidung begründet, nicht aber mit der zeitlichen, zu der es folgendes erwogen hat.
Nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 Abs. 2 Satz 1 AVG in der bis 31. Dezember 1967 geltenden Fassung wurde der Versicherte, der die Versicherungspflichtgrenze überschritt, mit Ablauf des Monats des Überschreitens versicherungsfrei. Der Kläger wäre danach zwar mit Ablauf des 31. Dezember 1967 für die spätere Zeit versicherungsfrei geworden, jedoch schloß sich unmittelbar daran wegen des Wegfalls der Versicherungspflichtgrenze wieder die Versicherungspflicht an, so daß - rein zeitlich gesehen - die Versicherungspflicht ununterbrochen bestanden hat und aus dieser Sicht der Befreiungsantrag hätte erfolglos bleiben müssen. Diese Betrachtungsweise hat das LSG indes vor einer anderen, die es die "rechtslogische" genannt hat, zurücktreten lassen, wobei es mit darauf abgehoben hat, daß zwar die Versicherungspflicht in der AnV erst "im letzten Augenblick" des 31. Dezember 1967 entfiel, aber "die Versicherungsfreiheit bereits im nächsten Augenblick aufgrund des neuen Rechtszustandes neu begründet wurde". Dies führte das LSG zu dem Schluß, "rechtslogisch" sei die Versicherungspflicht vor dem 1. Januar 1968 entfallen.
Die Beklagte möchte mit der Revision diese Auslegung und vornehmlich das Ergebnis, daß sie den Kläger von der Versicherungspflicht zu befreien habe, verworfen wissen. Dem von der Beklagten erstrebten Ergebnis steht aber folgendes entgegen: Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom selben Tage - 12/11 RA 156/70 - unter Hinweis auf Wortlaut, Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck von Art. 2 § 1 Abs. 1 Buchst. a) AnVNG idF des FinÄndG 1967 ausgeführt hat, erfordert diese Befreiungsart von der Versicherungspflicht zweierlei: Der Angestellte muß im Dezember 1967 versicherungsfrei gewesen sein, weil er die Jahresarbeitsverdienstgrenze überschritt, zum anderen muß er aufgrund des FinÄndG 1967 ab 1. Januar 1968 versicherungspflichtig geworden sein. Dasselbe gilt für die Befreiungsmöglichkeit nach Buchst. b) des Art. 2 § 1 Abs. 1 AnVNG idF des FinÄndG 1967. Die zweite der genannten Voraussetzungen - der Angestellte muß aufgrund des FinÄndG 1967 ab 1. Januar 1968 versicherungspflichtig geworden sein - hat der Kläger zweifelsfrei erfüllt. Die erste Voraussetzung, wonach der Angestellte im Dezember 1967 versicherungsfrei gewesen sein muß, scheint, wie gerade mit der oben angeführten Betrachtung aus zeitlicher Sicht belegt werden kann, zu fehlen. Jedoch würde man damit dem Umstand nicht genügend Rechnung tragen, daß bei der früheren Regelung des § 4 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 Abs. 2 Satz 1 AVG in der bis 31. Dezember 1967 geltenden Fassung deutlich zwischen dem Eintritt neuer Tatsachen - höheres Einkommen des Versicherten und darauf beruhendes Überschreiten der Versicherungspflichtgrenze - und der daran geknüpften, aber zeitlich verzögerten Rechtsfolge der Versicherungsfreiheit unterschieden worden ist. Zutreffend weist das LSG in den Gründen seines Urteils auf die Ungereimtheit des Ergebnisses hin, zu dem es käme, wenn man diejenigen, welche die Voraussetzungen für den Wegfall der Versicherungspflicht schon im Dezember 1967 erfüllt hatten, aber wegen § 5 Abs. 2 AVG aF erst mit dem Ablauf des 31. Dezember 1967 versicherungsfrei geworden wären, hinsichtlich der Möglichkeit ihrer Befreiung von der AnV-Pflicht anders behandeln wollte als diejenigen, die diese Voraussetzungen bereits längere Zeit vor dem 1. Januar 1968 erfüllt hatten. Auch nach der Auffassung des erkennenden Senats liegt es daher im Rahmen einer zulässigen Auslegung des Art. 2 § 1 Abs. 1 Buchst. b) AnVNG idF des FinÄndG 1967, wenn es zur Erfüllung der ersten Voraussetzung dieser Vorschrift - der Angestellte muß im Dezember 1967 versicherungsfrei gewesen sein - ausreicht, daß er im Dezember 1967 die tatsächlichen Voraussetzungen für den Eintritt der Versicherungsfreiheit bereits erfüllt hatte. Das war beim Kläger der Fall, da sein Gehalt vom 1. Dezember 1967 an die damalige Jahresarbeitsverdienstgrenze in der AnV überstieg.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen