Leitsatz (amtlich)
Ist im Falle der Wiedererkrankung an Unfallfolgen (RVO § 562 Abs 2) das Verletztengeld nach dem JAV zu berechnen (RVO § 561 Abs 3 aF), sind ausschließlich die Verhältnisse des Jahres vor dem Beginn der erneuten Arbeitsunfähigkeit zugrunde zu legen (RVO § 574). Eine Ausfüllung von Zeiten, in denen der Verletzte im Jahr vor dem Beginn der erneuten Arbeitsunfähigkeit kein Arbeitseinkommen bezog, durch Arbeitseinkommen, das der letzten Tätigkeit des Verletzten vor diesen Zeiten entspricht (RVO § 571 Abs 1 S 2), findet nicht statt.
Normenkette
RVO § 560 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 561 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 562 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 571 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1963-04-30, § 574 Fassung: 1963-04-30, § 575 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 577 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 19.11.1974; Aktenzeichen L 5 U 91/74) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 18.09.1973; Aktenzeichen S 17 U 128/72) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. November 1974 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des dem Kläger wegen Wiedererkrankung an Unfallfolgen für die Zeit vom 30. Juli 1973 bis zum 8. April 1974 gezahlten Verletztengeldes streitig.
Die Beklagte gewährt dem Kläger aus Anlaß des am 16. Oktober 1970 erlittenen Arbeitsunfalls seit dem 27. Dezember 1971 Rente, gegenwärtig nach einer Minderung der Erwerbstätigkeit (MdE) von 40 vH. Der Rentenberechnung ist ein Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 36.000,- DM zugrunde gelegt worden.
In der Zeit vom 29. Dezember 1971 bis zum 22. März 1972 war der Kläger arbeitslos und bezog Arbeitslosengeld. Danach war er bis zum 10. November 1972 wegen der Unfallfolgen arbeitsunfähig und erhielt Verletztengeld. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld war mit dem 15. Mai 1973 erschöpft. Seit dem 30. Juli 1973 war der Kläger wegen der Unfallfolgen erneut arbeitsunfähig. Durch Bescheid vom 18. September 1973 gewährte die Beklagte dem Kläger deswegen vom 30. Juli 1973 an bis auf weiteres Verletztengeld in Höhe von 35,- DM kalendertäglich. Der Berechnung des Verletztengeldes legte sie als JAV das Dreihundertfache des Ortslohnes zugrunde, der zur Zeit des Beginns der erneuten Arbeitsunfähigkeit festgesetzt war (300 mal 29,50 = 8.850,- DM). Das sich daraus ergebende Verletztengeld von kalendertäglich 18,44 DM für die ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit (75 % des 360. Teils des JAV) und von kalendertäglich 20,89 DM vom Beginn der siebenten Woche der Arbeitsunfähigkeit an (85 % des 360. Teils des JAV) erhöhte sie im Rahmen einer besonderen Unterstützung (§ 563 Reichsversicherungsordnung - RVO - aF) auf kalendertäglich 35,- DM.
Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat die Beklagte verurteilt, das Verletztengeld nach einem JAV von 36.000,- DM zu berechnen (Urteil vom 27. März 1974). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen das erstinstanzliche Urteil geändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. November 1974). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Im Falle des Klägers sei der Berechnung des Verletztengeldes nach § 561 Abs 3 RVO der 360. Teil des JAV zugrunde zu legen, wobei nach § 571 RVO iVm § 574 RVO die Verhältnisse des Jahres vor Beginn der erneuten Arbeitsunfähigkeit maßgebend seien. Da der Kläger im Jahr vor der Wiedererkrankung (30. Juli 1972 bis zum 29. Juli 1973) arbeitsunfähig oder arbeitslos gewesen sei und kein Arbeitseinkommen bezogen habe, lägen jedoch die Voraussetzungen des § 571 Abs 1 Satz 1 bis 3 RVO nicht vor. Der JAV betrage daher nach § 575 RVO das Dreihundertfache des Ortslohnes. Die Erhöhung des Verletztengeldes gemäß § 563 RVO auf den Betrag des Arbeitslosengeldes sei ebenfalls nicht zu beanstanden. Dieses Ergebnis entspreche der Lohnersatzfunktion des Verletztengeldes und des Arbeitslosengeldes.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und wie folgt begründet: Es entspreche nicht nur der Billigkeit, sondern auch dem Willen des Gesetzgebers, daß sich die Höhe des Verletztengeldes bei Wiedererkrankung an Unfallfolgen, ohne daß der Verletzte inzwischen einen Erwerb gefunden habe, nach der Höhe des vor dem Unfall erzielten Verdienstes richte. In § 574 RVO werde zweifelsfrei vorausgesetzt, daß der Verletzte in der Zeit vor der Wiedererkrankung einen normalen, nicht jedoch einen durch Unfallfolgen verminderten oder überhaupt keinen Verdienst gehabt habe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. November 1974 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Duisburg vom 27. März 1974 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die Revision des Klägers ist nicht begründet.
Da der Anspruch des Klägers auf Verletztengeld nur bis zum 8. April 1974 streitig ist, finden hier noch die Vorschriften der RVO in der Fassung vor dem am 1. Oktober 1974 erfolgten Inkrafttreten des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation - Reha-AnglG- vom 7. August 1974 (BGBl I 1881) Anwendung (RVO aF).
Nach § 562 Abs 2 RVO aF iVm § 560 Abs 1 RVO aF erhält der Verletzte Verletztengeld, solange er infolge des Arbeitsunfalls arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung ist und soweit er Arbeitsentgelt nicht erhält. Das Verletztengeld wird von dem Tage an gewährt, an dem die Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt ist. Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung liegt begrifflich nicht nur vor, wenn der Versicherte eine Erwerbstätigkeit aufgeben mußte, sondern auch Arbeitslose können arbeitsunfähig sein (vgl BSGE 35, 65; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl. S. 562 l und m und die dort zitierte weitere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG -). Da der Kläger vom Beginn der Arbeitsunfähigkeit an kein Arbeitsentgelt erhielt, hatte er somit dem Grunde nach Anspruch auf Verletztengeld.
Das Verletztengeld entspricht grundsätzlich dem aus der gesetzlichen Krankenversicherung im Falle der Arbeitsunfähigkeit zu gewährenden Krankengeld. Auf die für die Höhe und Berechnung des Krankengeldes maßgebenden Vorschriften nehmen die §§ 560 Abs 2, 561 Abs 1 und 2 RVO aF Bezug. Sie gelten bei Wiedererkrankung an Unfallfolgen entsprechend (§ 562 Abs 2 RVO aF). Abweichend davon ist bei Verletzten, für die eine Berechnung des Verletztengeldes nach den für die Krankenversicherung geltenden Vorschriften nicht in Betracht kommt - zu ihnen gehört der im Zeitpunkt der Wiedererkrankung nicht krankenversicherte Kläger - nach § 561 Abs 3 RVO aF der 360. Teil des JAV der Berechnung des Verletztengeldes zugrunde zu legen. Dabei sind nach § 574 RVO die Verhältnisse des Jahres vor dem Beginn der erneuten Arbeitsunfähigkeit maßgebend. Diese Vorschrift stellt sicher, daß Verletzte, deren Verletztengeld im Falle der Wiedererkrankung nach dem JAV bemessen wird, nicht anders als Verletzte behandelt werden, deren Verletztengeld gemäß § 561 Abs 1 und 2 RVO aF nach den Vorschriften der Krankenversicherung zu berechnen ist (vgl Bundestags-Drucks IV/120 S. 57). Unter Beachtung dieser gesetzgeberischen Zielvorstellung gelten im übrigen dieselben Vorschriften, die für die Berechnung des JAV im Jahr vor dem Arbeitsunfall anzuwenden sind (vgl Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl. Anm 2 a zu § 574). Demnach gilt gemäß § 571 Abs 1 Satz 1 RVO iVm § 574 RVO als JAV das Arbeitseinkommen des Verletzten im Jahr vor Beginn der erneuten Arbeitsunfähigkeit. In dieser Zeit - das ist vom 30. Juli 1972 bis zum 29. Juli 1973 - war der Kläger teils arbeitsunfähig und teils arbeitslos; Arbeitseinkommen hat er nicht erzielt.
Er bezog lediglich Krankengeld (Verletztengeld) oder Arbeitslosengeld. Diese Leistungen haben zwar Lohnersatzfunktion, stellen jedoch kein Arbeitseinkommen dar (vgl BSGE 5, 283, 288; 35, 65, 68; Hennig/Kühl/Heuer, Arbeitsförderungsgesetz, Anm 1 zu § 117; Brackmann aaO S 562 y). Nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO wird bei der Rentenberechnung für Zeiten, in denen der Verletzte kein Arbeitseinkommen bezogen hat, das Arbeitseinkommen zugrunde gelegt, das durch eine Tätigkeit erzielt wird, die der letzten Tätigkeit des Verletzten vor diesen Zeiten entspricht. Bei der Berechnung des Verletztengeldes aufgrund des JAV kommt jedoch eine solche Ausfüllung von Zeiten ohne Arbeitseinkommen innerhalb des Jahres vor dem Beginn der erneuten Arbeitsunfähigkeit durch Arbeitseinkommen entsprechend einer Tätigkeit des Verletzten in früheren Zeiten nicht in Betracht. Das im Falle der Wiedererkrankung nach den Vorschriften der Krankenversicherung zu berechnende Verletztengeld (§ 561 Abs 1 und 2 RVO aF) richtet sich nach dem Entgelt, das der Verletzte in einem der Arbeitsunfähigkeit unmittelbar vorausgehenden Zeitraum (Lohnabrechnungszeitraum) erzielt hat (Regellohn, Grundlohn). Das entspricht dem Zweck des Verletztengeldes, durch das der Verdienst ausgeglichen werden soll, den der Verletzte mit der nach dem Unfall noch verbliebenen Erwerbsfähigkeit im Zeitpunkt der Wiedererkrankung zu erzielen in der Lage war. Für den Teil der Erwerbsfähigkeit, der infolge des Unfalls weggefallen ist, erhält der Verletzte eine Rente, die auch während der erneuten Arbeitsunfähigkeit ungekürzt weitergewährt wird. Mit der gesetzgeberischen Zielvorstellung, Verletzte, deren Verletztengeld nach dem JAV bemessen wird, nicht anders als Verletzte zu behandeln, deren Verletztengeld nach den Vorschriften der Krankenversicherung zu berechnen ist, würde es nicht zu vereinbaren sein, bei der Zugrundelegung des JAV Zeiten ohne Arbeitseinkommen innerhalb des Jahres vor dem Beginn der erneuten Arbeitsunfähigkeit gemäß § 571 Abs 1 Satz 2 RVO durch Entgelte auszufüllen, die Tätigkeiten des Verletzten in weit zurückliegenden Zeiten, etwa vor dem Arbeitsunfall, entsprechen. Dies würde dazu führen, daß bei Verletzten, deren Verletztengeld nach den Vorschriften der Krankenversicherung zu berechnen ist, das durch die unfallbedingte verminderte Erwerbsfähigkeit erzielte Einkommen die Höhe des Verletztengeldes bestimmt, während bei Verletzten, deren Verletztengeld der JAV zugrunde zu legen ist, die Höhe des Verletztengeldes teilweise oder ganz auf Arbeitseinkommen beruhen kann, das durch Tätigkeiten erzielt wird, die der Verletzte bei voller Erwerbsfähigkeit -uU lange Zeit vor dem Unfall - ausgeübt hat. Im vorliegenden Fall scheidet daher ein Rückgriff auf das Arbeitseinkommen des Klägers im Jahr vor dem Arbeitsunfall aus. Der für die Bemessung des Verletztengeldes maßgebende JAV kann aber auch nicht nach § 571 Abs 1 Satz 3 RVO berechnet werden. Diese Vorschrift regelt den Fall, daß der Verletzte früher nicht tätig gewesen ist. Dann ist die Tätigkeit maßgebend, die der Verletzte zur Zeit der Wiedererkrankung an Unfallfolgen ausgeübt hat. Da der Kläger aber zur Zeit der Wiedererkrankung an Unfallfolgen arbeitslos war, kommt eine Berechnung des JAV auch nach dieser Vorschrift nicht in Betracht.
Von den sonstigen, für die Berechnung des JAV maßgebenden Vorschriften ist allein § 575 RVO anwendbar, in dem das Dreihundertfache des Ortslohnes als Mindestgrenze des JAV bestimmt ist. Diesen Betrag hat die Beklagte zutreffend der Berechnung des Verletztengeldes zugrunde gelegt und das Verletztengeld zum Ausgleich einer unbilligen Härte gemäß § 563 RVO aF auf das Arbeitslosengeld angehoben. Bereits dem Urteil des 8. Senats des BSG vom 29. November 1972 (BSGE 35, 65, 69) kann entnommen werden, daß das Verletztengeld bei Arbeitslosen auf die Höhe des Arbeitslosengeldes begrenzt ist, sofern der Verletzte in dem für die Berechnung des Verletztengeldes maßgebenden Zeitraum kein Arbeitseinkommen erzielt hat (vgl Brackmann aaO S 564 q). Dies entspricht der Regelung durch das seit dem 1. Oktober 1974 geltenden Recht. Bezieher von Arbeitslosengeld, die arbeitsunfähig werden, erhalten nach § 561 Abs 2 RVO Übergangsgeld in Höhe des in § 158 Abs 1 und 2 des Arbeitsförderungsgesetzes bestimmten Betrages, nämlich des Krankengeldes, das wiederum dem Arbeitslosengeld entspricht.
Die Revision des Klägers mußte daher als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen