Entscheidungsstichwort (Thema)
Beitragsnachentrichtung. Fristversäumnis. Beratungspflicht
Orientierungssatz
1. Voraussetzung für eine Nachsichtgewährung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben wegen Versäumung der Frist für den Antrag nach § 10a WGSVG ist auch bei ungenügenden Informationsmöglichkeiten im Wohnsitzland (hier: Kolumbien), daß der Betreffende keine oder nur unzureichende Verbindungen mit seinem Herkunftsland hatte.
2. Allein aus der Tatsache früherer Nachentrichtungsanträge ergeben sich weder eine besondere Beratungspflicht noch eine konkrete Pflicht zu Hinweisen auf die später eingeführte Nachentrichtungsmöglichkeit, wenn diese Anträge bereits vorher endgültig verbeschieden waren.
Normenkette
WGSVG § 10 Fassung: 1970-12-22, § 10a Abs 2 Fassung: 1975-04-28; SGB 1 § 14
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger berechtigt ist, Beiträge gemäß § 10a des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) idF des Achtzehnten Rentenanpassungsgesetzes (18. RAG) vom 28. April 1975 nachzuentrichten.
Der am 14. August 1921 geborene Kläger ist Verfolgter iS des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Im Jahre 1939 wanderte er nach Kolumbien aus. Mit Bescheid vom 13. März 1973 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. November 1973 - bestätigt durch rechtskräftiges Urteil des Sozialgerichts (SG) Berlin vom 6. Mai 1974 - lehnte die Beklagte seinen Antrag vom 9. Januar 1973 auf Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG mangels anrechnungsfähiger Versicherungszeiten ab. Einem Antrag vom Oktober 1974 auf Nachentrichtung von Beiträgen gemäß Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) gab sie mit Bescheid vom 18. Februar 1975 statt. Mit einem Schreiben an die Beklagte vom 29. März 1979 wies der Kläger darauf hin, daß seine Ausbildung durch die Verfolgung unterbrochen worden sei. Dies faßte die Beklagte als einen Antrag auf Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10a WGSVG auf, lehnte ihn jedoch mit Bescheid vom 30. Mai 1979 und Widerspruchsbescheid vom 11. September 1979 wegen Versäumung der mit dem 31. Dezember 1975 abgelaufenen Antragsfrist ab. Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Urteile des SG Berlin vom 10. März 1980 und des Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 29. Oktober 1980). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe mit seinem Antrag auf Nachentrichtung nach § 10a WGSVG die vorgeschriebene Antragsfrist nicht eingehalten. Der schon im Jahre 1973 gestellte Antrag auf Nachentrichtung nach den Vorschriften des WGSVG habe sich nicht auf die damals noch nicht erlassene Vorschrift des § 10a WGSVG beziehen können. Auch der Antrag vom Oktober 1974 nach Art 2 § 49a AnVNG könne nicht als Antrag nach § 10a WGSVG angesehen werden. Eine Umdeutung oder Ausdehnung sei zudem schon deshalb nicht möglich, weil auch dieser Antrag bereits vor der Einfügung des § 10a WGSVG erledigt und verbraucht gewesen sei. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der materiellen Ausschlußfrist hat das LSG für unzulässig gehalten. Die Voraussetzungen für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch hat es ebenfalls verneint.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger eine unrichtige Anwendung der Fristbestimmung in § 10a WGSVG. Das LSG habe übersehen, daß er seit seiner verfolgungsbedingten Auswanderung in Kolumbien wohne und gar nicht die Möglichkeit gehabt habe, rechtzeitig den streitigen Antrag zu stellen. Aus den bisherigen Anträgen hätte die Beklagte entnehmen können, daß er auch einen Antrag nach § 10a WGSVG habe stellen wollen. Zumindest hätte sie ihn auf diese Möglichkeit hinweisen müssen. Sie habe das Nachentrichtungsrecht generell für ihn anerkannt. Bei dieser Sachlage hätte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt werden müssen. Die Ansicht des LSG, er sei in der fraglichen Zeit durch einen Rentenberater vertreten gewesen, sei unrichtig. Dieser habe schon vor Erlaß des 18. RAG sein Mandat niedergelegt. Aufgrund der jahrelangen Korrespondenz und der Anerkennung des Nachentrichtungsrechts habe die Beklagte die Pflicht gehabt, ihn auf die "naheliegenden Gestaltungsmöglichkeiten" seines Nachentrichtungsbegehrens hinzuweisen, zumal sie von seinen Informationsschwierigkeiten gewußt habe. Im übrigen diene eine Vorschrift über eine Antragsfrist nicht dazu, die Durchsetzung berechtigter Ansprüche zu erschweren.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des SG und des LSG sowie den Bescheid
der Beklagten vom 30. Mai 1979 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 11. September 1979
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm das
Recht auf Nachentrichtung gemäß § 10a WGSVG einzuräumen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der Kläger nicht berechtigt ist, Beiträge gemäß § 10a WGSVG nachzuentrichten, weil er die in § 10a Abs 4 iVm § 10 Abs 1 Satz 4 WGSVG vorgeschriebene Antragsfrist (bis zum 31. Dezember 1975) nicht eingehalten hat. Die durch das 18. RAG mit Wirkung vom 4. Mai 1975 gleichzeitig mit der Vorschrift des § 10a WGSVG eingeführte Antragsfrist ist eine materiell-rechtliche Ausschlußfrist; nur bei deren Einhaltung - durch eine auf eine bestimmte Rechtsgestaltung gerichtete Willenserklärung - kommt das Nachentrichtungsrecht rechtswirksam zur Entstehung (vgl die Urteile des Senats vom 13. September 1979 - 12 RK 60/78 = SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 30 -, vom 30. Januar 1980 - 12 RK 16/79 = SozR 5070 § 10a Nr 3 und vom 22. Februar 1980 - 12 RK 12/79 = BSGE 50, 16, 17). Eine auf Nachentrichtung nach § 10a WGSVG gerichtete Willenserklärung hat der Kläger aber erst mit seinem Schreiben vom 29. März 1979 gegenüber der Beklagten abgegeben.
Mit dem LSG ist der erkennende Senat auch der Auffassung, daß den Anträgen des Klägers aus den Jahren 1973 und 1974 auf eine Beitragsnachentrichtung nach den Vorschriften des § 10 WGSVG und des Art 2 § 49a AnVNG kein zusätzliches oder alternatives Begehren auf Nachentrichtung nach § 10a WGSVG entnommen werden kann. Dem steht, wie das LSG zutreffend hervorgehoben hat, schon die Tatsache entgegen, daß diese Vorschrift bei der endgültigen Erledigung der Anträge noch nicht erlassen war.
Gegen die Versäumung der materiell-rechtlichen Ausschlußfrist kann dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden. Das hier noch anzuwendende Recht sah hierfür eine Wiedereinsetzungsmöglichkeit nicht vor. Die Anwendung von § 27 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches -Verwaltungsverfahren- (SGB X) scheidet aus, weil diese Vorschrift erst 1981 in Kraft getreten ist. Sie ist auch nicht nur als eine gesetzliche Konkretisierung schon vorher anerkannter Rechtsgrundsätze anzusehen; vielmehr handelt es sich um eine Neuregelung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die - soweit sie materiell-rechtliche Ausschlußfristen betreffen sollte - nicht lediglich eine gefestigte Rechtsauffassung festschreibt, sondern eine bisher überwiegend anders beantwortete Rechtsfrage neu und abweichend regelt (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 1. Februar 1979 - 12 RK 33/77 = BSGE 48, 12, 16).
Auch eine Nachsichtgewährung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben kann nicht in Betracht kommen. Wie der Senat schon wiederholt entschieden hat, ist eine solche Nachsichtgewährung, von sonstigen Voraussetzungen abgesehen, regelmäßig nur möglich, wenn die versäumte Rechtshandlung innerhalb eines Jahres nachgeholt worden ist (vgl Urteile vom 28. Oktober 1981 - 12 RK 67/79 - und vom 9. Dezember 1981 - 12 RK 38/80 -, jeweils mit näherer Begründung). Die Umstände des vorliegenden Falles geben keine Veranlassung, ausnahmsweise Nachsicht auch noch bei einer Fristüberschreitung von über drei Jahren zu gewähren. Hierzu berechtigt auch nicht die Tatsache, daß der Kläger seinen Hauptwohnsitz in Kolumbien hat. Es mag zwar zutreffen, daß einem vor Jahrzehnten nach Übersee Ausgewanderten Informationen über deutsche Rechtsvorschriften nur schwer zugänglich sind und daß deshalb die Nichteinhaltung einer - hier noch dazu verhältnismäßig kurz bemessenen - Antragsfrist verständlich erscheinen könnte (vgl Urteil des Senats vom 28. Oktober 1981 - 12 RK 61/80 - bei Wohnsitz des Verfolgten in Namibia). Voraussetzung für eine aus diesen Gründen gewährte Nachsicht wäre aber in jedem Falle, dh auch bei ungenügenden Informationsmöglichkeiten im Wohnsitzland (hier: Kolumbien), daß der Betreffende keine oder nur unzureichende Verbindungen mit seinem Herkunftsland hatte. Das trifft aber beim Kläger nicht zu. Aus den vom LSG bei der Urteilsfindung mitverwerteten Akten der Beklagten ist ersichtlich, daß er nicht nur eine ständige Postadresse (Norderstedt) in der Bundesrepublik Deutschland unterhielt, sondern von Norderstedt aus auch seinen gesamten Schriftwechsel mit der Beklagten führte, sich also in den Jahren 1975, 1976 und 1977 wiederholt dort aufgehalten hatte. Ihm standen demnach seit dem Inkrafttreten des § 10a WGSVG im wesentlichen die gleichen Informationsmöglichkeiten wie einem im Inland wohnenden Versicherten zur Verfügung, so daß er hinsichtlich der Fristversäumnis nicht anders wie ein Inländer behandelt werden kann. Daran würde sich auch dann nichts ändern, wenn der Kläger sich, ohne selbst Kolumbien verlassen zu haben, bei der Absendung seiner in Norderstedt zur Post gegebenen Schriftstücke eines Bekannten bedient hätte, wie sein Bevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat. Auch in einem solchen Falle war er nicht von ausreichenden Informationsmöglichkeiten in Deutschland abgeschnitten.
Zu Recht hat das LSG auch einen Herstellungsanspruch verneint. Das Verwaltungshandeln der Beklagten läßt keine Umstände erkennen, die zu einem durch einen Herstellungsanspruch auszugleichenden Rechtsnachteil des Klägers hätten führen können.
Allein aus der Tatsache früherer Nachentrichtungsanträge ergeben sich weder eine besondere Beratungspflicht noch eine konkrete Pflicht zu Hinweisen auf die später eingeführte Nachentrichtungsmöglichkeit, wann diese Anträge bereits vorher endgültig verbeschieden waren.
Bei einer Massenverwaltung, wie sie die Sozialversicherung ist, wäre es mit den Erfordernissen eines geordneten und zügigen Geschäftsablaufs auch nicht vereinbar, wenn der Versicherungsträger von sich aus alle bereits früher abgelehnten Nachentrichtungsanträge immer wieder darauf überprüfen müßte, ob die Antragsteller aufgrund nachfolgend eingeführter gesetzlicher Tatbestände nunmehr nachentrichtungsberechtigt sein könnten. Für die Entstehung einer individuellen Beratungspflicht der Beklagten fehlte es hier an einem entsprechenden Beratungsersuchen des Klägers. Sie folgt auch nicht aus dem Sachzusammenhang der früheren Nachentrichtungsanträge und der dazu getroffenen Entscheidungen der Beklagten. Der Akteninhalt ließ keineswegs die Möglichkeit eines Nachentrichtungsanspruchs nach § 10a WGSVG so offen zutage treten, daß sich die Beklagte hätte gedrängt fühlen müssen, den Kläger hierüber zu belehren. Zu einer individuellen Beratung brauchte sich die Beklagte zudem schon deshalb nicht veranlaßt zu sehen, weil sie dem Schreiben des Klägers vom 15. Oktober 1975 entnehmen konnte, daß sich dieser im Falle spezieller Probleme an seinen Rentenberater - von dessen Mandatsniederlegung in diesem Schreiben nichts erwähnt ist - wenden werde (vgl hierzu Urteile des Senats vom 12. Oktober 1979 - 12 RK 47/77 - BSGE 49, 76 = SozR 2200 § 1418 Nr 6, vom 7. Juni 1979 - 12 RK 33/78 = DAngVers 1980, 138 - und vom 29. Januar 1981 - 12 RK 19/80 = SozR 1200 § 14 Nr 11).
Die Revision des Klägers kann sonach keinen Erfolg haben und ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen