Entscheidungsstichwort (Thema)
Teilzahlungsfrist für Beitragsnachentrichtung bei nicht nachweisbarer Bekanntgabe des Bescheides
Orientierungssatz
1. Die bloße Untätigkeit (Schweigen) eines Berechtigten hat allein noch keine Verwirkung seines Rechts (hier: des Nachentrichtungsrechts) zur Folge, auch nicht eine längere, selbst mehrjährige Untätigkeit. Hinzu kommen muß vielmehr bei dem anderen Beteiligten des Rechtsverhältnisses, daß er sich im Vertrauen darauf, daß das Recht nicht mehr geltend gemacht (ausgeübt) werde, in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, daß ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (vgl BSG vom 30.11.1978 - 12 RK 6/76 = BSGE 47, 194).
2. Ein untätiges Zuwarten von vier Jahren läßt sich mit den Anforderungen an die Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten nicht vereinbaren.
Normenkette
ArVNG Art 2 § 51a Abs 3 S 3 Fassung: 1972-10-16
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin berechtigt ist, Beiträge nach Art 2 § 51a des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) nachzuentrichten.
Die am 27. Mai 1940 geborene Klägerin beantragte im August 1975 bei der Beklagten die Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen nach Art 2 § 51a Abs 2 ArVNG für die Zeit von Januar 1956 bis Dezember 1973 mit 216 Beiträgen höchster Klasse mit dem Recht, auch niedrigere Beiträge - in Raten - zahlen zu dürfen. Nach dem Inhalt der Verwaltungsakte erließ die Beklagte am 16. September 1975 einen Bescheid, mit dem sie die beantragte Nachentrichtung mit Teilzahlungen bis zu einem Zeitraum von fünf Jahren bis zum 30. September 1980 zuließ. Die Klägerin, die bestreitet, diesen Bescheid jemals erhalten zu haben, wandte sich erstmalig mit Schreiben ihres damaligen Bevollmächtigten vom 10. Dezember 1981 an die Beklagte und bat um Prüfung der Angelegenheit. Nachdem ihr daraufhin von der Beklagten eine Kopie des Bescheides vom 16. September 1975 zugesandt wurde, teilte sie mit, daß sie erst hierdurch von der Genehmigung der Nachentrichtung erfahren habe. Seinerzeit habe sie nur eine maschinelle Eingangsnachricht vom 30. August 1975 erhalten. Sie bat erneut um Mitteilung, bis wann und in welcher Höhe sie freiwillige Beiträge aufgrund des Nachentrichtungsantrages erbringen könne.
Mit Bescheid vom 30. März 1982 lehnte die Beklagte die Entgegennahme von Nachentrichtungsbeiträgen ab. Die Genehmigung der Nachentrichtung datiere vom 16. September 1975. Die Teilzahlungsfrist von längstens fünf Jahren - bis zum 30. September 1980 - sei verstrichen. Es sei davon auszugehen, daß die Klägerin die Mitteilung vom 16. September 1975 erhalten habe, was dadurch gestützt werde, daß sie - vor dem 10. Dezember 1981 - nie an die Erledigung ihres Antrages vom 13. August 1975 erinnert habe. Sofern sie überhaupt an der Nachentrichtung interessiert gewesen wäre, so hätte sie sich nicht erst nach Ablauf von sechs Jahren gemeldet.
Widerspruch, Klage und Berufung der Klägerin sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 8. September 1982; Urteil des Sozialgerichts -SG- Karlsruhe vom 15. Juni 1984; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Baden-Württemberg vom 19. Dezember 1984). Das LSG hat für den Fall, daß der Bescheid vom 16. September 1975 der Klägerin entgegen ihren Angaben zugegangen sein sollte, die Nachentrichtung wegen Versäumung der mit dem 30. September 1980 abgelaufenen Fünfjahresfrist für unzulässig gehalten und die Voraussetzungen der Nachsichtgewährung verneint, weil die versäumte Rechtshandlung auch nicht innerhalb eines Jahres nach Fristende nachgeholt worden war. Es hat jedoch, da es den Nachweis weder für den Zugang noch für den Nichtzugang des Bescheides für erbracht angesehen hat, seine Entscheidung maßgebend damit begründet, daß die Klägerin sich jedenfalls so behandeln lassen müsse, als habe sie den Bescheid seinerzeit erhalten. Da sie sich über sechs Jahre lang nicht um ihre Nachentrichtungsangelegenheit gekümmert habe - spätestens hätte sie sich nach Abschluß der Beitragsnachentrichtung ihres Ehemannes im August 1979 nach ihrem eigenen Antrag erkundigen müssen -, habe sie das Recht zur Nachentrichtung verwirkt.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision wendet sich die Klägerin gegen die Auffassung des LSG, sie habe den Anspruch auf Nachentrichtung verwirkt. Das LSG habe dies nicht aus der Abwicklung der Nachentrichtungsangelegenheit ihres Ehemannes ableiten dürfen. Im Gegensatz zu ihrem Ehemann habe sie sich nicht der Hilfe und Überwachung eines Rentenberaters bedient. Durch Presse-, Rundfunk- und Fernsehinformationen sei den Bürgern im Sommer und gegen Ende des Jahres 1975 förmlich eingehämmert worden, sie sollten den Nachentrichtungsantrag fürsorglich stellen; mit der Bezahlung könne man sich Zeit lassen. Die Verwaltungspraxis der Beklagten sei dann in der Folgezeit dahin gegangen, den an sie herantretenden Personen mitzuteilen, daß die Möglichkeit bestehe, einen Formblattantrag bis spätestens 31. Dezember 1981 zu ergänzen und einzureichen. Gleichzeitig sei schon ab dem Jahre 1977 darauf hingewiesen worden, daß die Nachentrichtung bzw die Teilzahlung spätestens am 31. Dezember 1981 abgeschlossen sein müsse. Sie, die Klägerin, sei schließlich durch die allgemeine Aufklärung, die Nachentrichtung könnte bis zum 31. Dezember 1981 durchgeführt werden, veranlaßt worden, im Dezember 1981, also immerhin 20 Tage vor Ablauf der propagierten Frist, über den Rentenberater mit der Beklagten in Verbindung zu treten.
Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 30. März 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. September 1982 zu verurteilen, freiwillige Beiträge gemäß Art 2 § 51a ArVNG entgegenzunehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet, soweit ihre Aufhebungsklage in den Vorinstanzen erfolglos geblieben ist. Entgegen der Auffassung des LSG und der Beklagten ist die Klägerin nicht so zu behandeln, als habe sie den Bescheid vom 16. September 1975 seinerzeit erhalten und die Teilzahlungsfrist von fünf Jahren sei bereits am 30. September 1980 abgelaufen. Der auf dieser Annahme beruhende Bescheid vom 30. März 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. September 1982 ist daher rechtswidrig. Andererseits kann die Klägerin mit ihrer Revision nicht durchdringen, soweit sie die Verurteilung der Beklagten zur Annahme nachentrichteter Beiträge beantragt. Dieses Begehren ist derzeit unbegründet, weil noch eine Ermessensentscheidung der Beklagten über die Bemessung der Frist erforderlich ist, in der die Beiträge nachzuentrichten waren.
Daß die Klägerin zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nach Art 2 § 51a Abs 2 ArVNG berechtigt war, steht außer Streit. In dem Bescheid vom 16. September 1975 wollte die Beklagte die von der Klägerin beantragte Nachentrichtung auch zulassen und gleichzeitig gemäß Art 2 § 51a Abs 3 Satz 3 ArVNG die Möglichkeit eröffnen, die Zahlung (Teilzahlungen) innerhalb von fünf Jahren bis zum 30. September 1980 zu erbringen. Nach den nicht mit Verfahrensrügen angefochtenen und daher für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG ist die Bekanntgabe des Bescheides nicht nachweisbar. Damit steht nicht fest, daß der Bescheid vom 16. September 1975 wirksam geworden ist. Infolgedessen kann nicht davon ausgegangen werden, daß die Klägerin im September 1975 zur Nachentrichtung der Beiträge zugelassen und ihr damals eine Zahlungsfrist gesetzt worden ist, die sie nunmehr versäumt hätte.
Entgegen der Auffassung des LSG läßt sich aus dem Verhalten der Klägerin auch nicht ableiten, daß sie das Nachentrichtungsrecht verwirkt hat. Die bloße Untätigkeit (Schweigen) eines Berechtigten hat allein noch keine Verwirkung seines Rechts zur Folge, auch nicht eine längere, selbst mehrjährige Untätigkeit. Hinzu kommen muß vielmehr bei dem anderen Beteiligten des Rechtsverhältnisses, daß er sich im Vertrauen darauf, daß das Recht nicht mehr geltend gemacht (ausgeübt) werde, in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, daß ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (BSGE 47, 194).
Für die Beklagte und damit für die von ihr vertretene Versichertengemeinschaft könnte ein solcher Nachteil nur darin liegen, daß die Beiträge der Klägerin später nachentrichtet werden, als dies bei rechtzeitiger Ausübung des Nachentrichtungsrechts der Fall gewesen wäre. Wie lange hier die Ausübung des Nachentrichtungsrechts durch die Klägerin noch rechtzeitig gewesen wäre, hängt davon ab, eine wie lange Teilzahlungsfrist die Beklagte der Klägerin bei einem noch ordnungsgemäßen Verhalten zugebilligt hätte, bis wann also die Klägerin sich spätestens bei der Beklagten nach dem Schicksal ihres Nachentrichtungsantrags vom August 1975 hätte erkundigen müssen und in welcher Weise die Beklagte darauf im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens bei der Bestimmung der Teilzahlungsfrist reagiert hätte.
Der Ansicht des LSG, die Klägerin hätte sich spätestens nach der letzten Beitragszahlung ihres Ehemannes im August 1979 nach ihrem eigenen Antrag erkundigen müssen, vermag der Senat nicht beizupflichten. Ein untätiges Zuwarten von vier Jahren läßt sich mit den Anforderungen an die Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten nicht vereinbaren. Andererseits muß der Klägerin aber zugebilligt werden, daß sie auf die ordnungsgemäße Behandlung ihres Antrags durch die Beklagte vertrauen und zunächst - da ein dringendes Interesse an einer raschen Entscheidung bei ihr nicht vorhanden sein mußte - abwarten durfte. Nach den Umständen des Falles mußten sich jedoch bei ihr spätestens nach zwei Jahren ernste Zweifel an einer ordnungsgemäßen Erledigung ihres Antrages aufdrängen, so daß sie dann bei der Beklagten hätte nachfragen müssen. Wäre sie demnach spätestens im August 1977 an die Beklagte herangetreten, dann wäre diese gehalten gewesen, über den Antrag vom August 1975 (ungeachtet des bereits im September 1975 erlassenen, mangels Zustellungsnachweises aber als nicht wirksam anzusehenden früheren Bescheides) neu zu entscheiden.
Mit welchem Ergebnis eine solche neue Entscheidung von der Beklagten getroffen worden wäre, vermag der Senat nicht zu beurteilen, weil dies im wesentlichen, nämlich in der Frage der Bemessung einer erneuten Teilzahlungsfrist, dem pflichtgemäßen Ermessen der Beklagten vorbehalten gewesen wäre. Ob die Beklagte bei einer Entscheidung über die Zulassung der Nachentrichtung im August 1977 noch einmal die volle Fünfjahresfrist oder eine kürzere, aber immer noch über den 11. Dezember 1981 - den Eingang des Bereiterklärungsschreiben der Klägerin - hinausreichende Zahlungsfrist zugebilligt hätte oder bei pflichtgemäßer Ermessensausübung hätte zubilligen müssen, wird davon abhängen, wie die Beklagte damals in ähnlichen Fällen verfuhr.
Da in dem ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 30. März 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. September 1982 diese Umstände nicht berücksichtigt worden sind, war er als rechtswidrig aufzuheben. Sonach steht eine den Besonderheiten des vorliegenden Falles Rechnung tragende Ermessensentscheidung der Beklagten nach Art 2 § 51a Abs 3 Satz 3 ArVNG über den Lauf der Zahlungsfrist, insbesondere über deren Ende, noch aus. Da sie vom Senat nicht ersetzt werden kann, ist die von der Klägerin erstrebte Verurteilung der Beklagten zur Annahme der Beiträge derzeit unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen