Entscheidungsstichwort (Thema)

Wartezeitfiktion. Ausbildung

 

Orientierungssatz

Ausbildung iS des § 1252 Abs 2 RVO ist nur eine solche, die die Zeit und Arbeitskraft des Versicherten ausschließlich oder überwiegend in Anspruch nimmt (vgl BSG vom 27.9.1979 4 RJ 115/78 = SozR 2200 § 1252 Nr 1). Dies kann für einen lediglich acht Stunden in der Woche umfassenden Berufsschulbesuch nicht angenommen werden.

 

Normenkette

RVO § 1252 Abs 2

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 27.01.1988; Aktenzeichen L 5 Ar 581/86)

SG Landshut (Entscheidung vom 19.06.1986; Aktenzeichen S 10 Ar 295/85)

 

Tatbestand

Die Kläger begehren Waisenrente aus der Versicherung ihrer 1984 verstorbenen Mutter.

Die 1963 geborene Versicherte war vom Juli 1978 bis November 1984 insgesamt 57 Monate als Hausgehilfin, Küchenhilfe und Köchin versicherungspflichtig beschäftigt. Die Kläger wurden im Mai 1981 und September 1982 geboren. Am 2. November 1984 verstarb die Versicherte infolge eines Autounfalles.

Den Antrag auf Waisenrente lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 22. April 1985). Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, den Klägern Halbwaisenrente ab 2. November 1984 zu gewähren (Urteil vom 19. Juni 1986). Auch beim Besuch der Berufsschule handele es sich um Ausbildung iS des § 1252 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO). Die einschränkende Auslegung dieses Begriffs, daß sie Zeit und Arbeitskraft des Versicherten überwiegend in Anspruch genommen haben müsse, sei unzulässig. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Januar 1988). Es hat im wesentlichen ausgeführt: Die Ausbildung müsse Zeit und Arbeitskraft des Versicherten überwiegend in Anspruch genommen haben. Der Besuch der Hauptschule, der als Ausbildung gelten könne, sei im Juni 1978 beendet gewesen und habe damit beim Tode der Versicherten am 2. November 1984 mehr als 6 Jahre zurückgelegen. Der Berufsschulbesuch vom September 1978 bis Juli 1981 falle zwar in die 6-Jahresfrist, sei aber - entgegen der Auffassung des SG - keine Ausbildung iS des § 1252 Abs 2 RVO. Ein Schulbesuch, der nur nebenher absolviert werde und eine gleichzeitige versicherungspflichtige Beschäftigung zulasse, sei nicht rechtserheblich. So aber verhalte es sich hier. Die Versicherte habe in der Zeit vom September 1978 bis Juli 1981 die Staatliche Berufsschule, Abteilung Hauswirtschaft, besucht. Bei der Berufsschule handele es sich um die 3-jährige Teilzeitpflichtschule für alle nicht mehr versicherungspflichtigen Jugendlichen, soweit sie keine weiterführende allgemeinbildende oder berufsbildende Vollzeitschule mit mindestens 24 Stunden wöchentlichem Unterricht besuchten. Der Unterricht finde als Tagesunterricht im Rahmen der gesetzlich geregelten Arbeitszeit der Schüler statt. In der Regel seien 8 Unterrichtsstunden in der Woche Pflicht. Zeit und Arbeitskraft der Versicherten seien nicht überwiegend von der Berufsschule, sondern von ihrer gleichzeitig ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigung in Anspruch genommen worden.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügen die Kläger eine Verletzung des § 1252 Abs 2 RVO.

Sie beantragen sinngemäß,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 19. Juni 1986 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision der Kläger ist unbegründet.

Sie haben keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Halbwaisenrente. Nach § 1263 Abs 2 RVO werden Hinterbliebenenrenten gewährt, wenn dem Verstorbenen zur Zeit seines Todes Versichertenrente zustand oder wenn zu diesem Zeitpunkt die Wartezeit für die Rente wegen Berufsunfähigkeit von ihm erfüllt war oder nach § 1252 RVO als erfüllt gilt. Die Wartezeit für die Rente wegen Berufsunfähigkeit beträgt 60 Monate (§ 1246 Abs 3 RVO). Die Versicherte hatte jedoch nur eine Versicherungszeit von 57 Monaten zurückgelegt, als sie starb. Aus diesem Grund hatte sie auch keinen Anspruch auf Versichertenrente. Eine Anrechnung von Erziehungszeiten (§ 1251a RVO) ist nicht möglich. Denn gemäß § 1251a Abs 2 Satz 4 RVO werden Erziehungszeiten vor 1986 insgesamt dem Vater angerechnet, wenn die Mutter vor dem 1. Januar 1986 gestorben ist. Im übrigen werden Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 ohnehin nur bei Versicherungsfällen nach dem 30. Dezember 1985 berücksichtigt (Art 2 § 5c Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz). Der Versicherungsfall des Todes der Mutter der Kläger ist aber bereits vor diesem Zeitpunkt eingetreten.

Die Wartezeit gilt auch nicht aufgrund des § 1252 RVO als erfüllt. Nach § 1252 Abs 2 RVO gilt die Wartezeit als erfüllt, wenn der Versicherte vor Ablauf von 6 Jahren nach Beendigung einer Ausbildung infolge eines Unfalles gestorben ist und in den dem Versicherungsfall vorausgegangenen 24 Kalendermonaten mindestens für 6 Kalendermonate Beiträge aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung entrichtet hat. Die Versicherte ist jedoch nicht innerhalb des Zeitraumes von 6 Jahren nach Beendigung ihrer Ausbildung gestorben. Der Besuch der Schule war im Juni 1978 beendet. Der Zeitraum von 6 Jahren war daher schon abgelaufen, als die Versicherte im November 1984 verstarb. Die Berufsschule, die die Versicherte besuchte, vermittelte, wie das LSG zu Recht ausgeführt hat, keine Ausbildung iS des § 1252 Abs 2 RVO. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist Ausbildung iS des § 1252 Abs 2 RVO nur eine solche, die die Zeit und Arbeitskraft des Versicherten ausschließlich oder überwiegend in Anspruch nimmt (BSG SozR § 1252 Nr 1). Der Gesetzgeber geht davon aus, daß Jugendliche nach Vollendung des 16. Lebensjahres in der Regel berufstätig sein und sich selbst unterhalten können. Die Vergünstigung des § 1252 Abs 2 RVO soll daher nur demjenigen Versicherten zugute kommen, der wegen seiner Jugend oder wegen seiner Ausbildung normalerweise bis zum Unfallereignis die Wartezeit von 60 Kalendermonaten noch nicht hat erfüllen können. Auch eine Verhinderung der Wartezeit durch Arbeitslosigkeit ist in diesem Zusammenhang nicht privilegiert.

Während man bisher davon ausgegangen ist, daß eine Schulausbildung nur vorliegt, wenn sie den Schüler mehr als 40 Stunden in der Woche in Anspruch genommen hat, erwägt der 10. Senat des BSG eine Änderung seiner Auffassung dahin, daß dies schon dann gelten soll, wenn die Ausbildung mehr als 28 Stunden wöchentlich beansprucht hat (Beschluß vom 10. August 1988 - 10 RKg 8/86 -). Für den Fall der Kläger hat dies keine Bedeutung. Denn nach den - für das Revisionsgericht gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindenden - Feststellungen des LSG hat der Berufsschulunterricht der Versicherten wöchentlich in der Regel nur 8 Stunden umfaßt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666068

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