Leitsatz (redaktionell)
1. Der Bezug einer Hinterbliebenenrente der geschiedenen Frau eines Versicherten setzt voraus, daß der Versicherte für das ganze Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat.
2. Die Voraussetzungen der letzten Alternative des RKG § 65 S 1 (= RVO § 1265) sind in der Regel nur erfüllt, wenn sich die Unterhaltszahlungen des Versicherten an seine frühere Ehefrau auf den vollen Jahreszeitraum vor dem Tode des Versicherten erstreckt haben.
Ein Anspruch auf die Geschiedenenwitwenrente ist auch dann nicht gegeben, wenn der Versicherte seiner geschiedenen Frau nur deshalb nicht während des ganzen Jahres vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat, weil er zeitweise in Haft war und im übrigen in beengten wirtschaftlichen Verhältnissen lebte.
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Alt. 3 Fassung: 1957-02-23; RKG § 65 S. 1 Alt. 3 Fassung: 1957-05-21
Tenor
1) Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. Oktober 1966 aufgehoben.
2) Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 8. Februar 1966 wird zurückgewiesen.
3) Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt eine Hinterbliebenenrente nach § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG).
Ihre Ehe mit dem versicherten H S (geb. 15. Dezember 1919) wurde am 11. September 1962 aus dessen Verschulden geschieden, das Urteil wurde am 28. Oktober 1962 rechtskräftig. In einem Vergleich vom 3. September 1962 hat die Klägerin für sich auf jeden Unterhalt durch den Versicherten verzichtet. Sie verdiente im Jahre 1963 als Telefonistin brutto 8161,- DM.
Der Versicherte befand sich im Winter 1962/1963 in Strafhaft, aus der er am 1. April 1963 entlassen wurde. Vom 15. Mai 1963 an war er wieder beschäftigt. Im Juli 1963 schloß er mit der Beigeladenen eine neue Ehe. Am 30. Januar 1964 starb er.
Die Beklagte bewilligte der Beigeladenen durch Bescheid vom 9. Juni 1964 eine Witwenrente. Den von der Klägerin im März 1964 gestellten Antrag auf Hinterbliebenenrente lehnte sie dagegen durch Bescheid vom 3. Februar 1965 ab, weil die Voraussetzungen des § 42 AVG nicht erfüllt seien.
Die Klägerin hält die Voraussetzungen der letzten Alternative des § 42 Satz 1 AVG (i.d.F. des RVÄndG) für gegeben, weil ihr der Versicherte "im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet" habe.
Das Sozialgericht (SG) Duisburg wies die Klage durch Urteil vom 8. Februar 1966 ab. Auf die Berufung der Klägerin hob das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 7. Oktober 1966 die der Klägerin und der Beigeladenen erteilten Bescheide auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin Rente ab 1. März 1964 zu gewähren. Auf Grund der Beweisaufnahme stellte das LSG fest, daß der Versicherte, nachdem er wieder über eine sichere Einnahmequelle verfügt habe, der Klägerin für mindestens 4 Monate - für einen Monat zwischen Juni und November 1963 und für November 1963, Dezember 1963 und Januar 1964 - zur Bestreitung ihres persönlichen Lebensbedarfs jeweils 90,- DM zugewendet habe; er habe regelmäßig Unterhalt zahlen wollen und sei nur durch seinen Tod an weiteren Zahlungen gehindert worden. Diese Feststellungen reichten zur Anspruchsbegründung nach § 42 AVG Satz 1, letzte Alternative aus. Hierfür genüge es, daß im letzten Jahr vor dem Tode überhaupt Unterhalt geleistet worden sei; die Leistungen müßten nicht den gesamten Jahreszeitraum gedeckt haben. In aller Regel könnten zwar nur Unterhaltsleistungen für das ganze Jahr den Anspruch auf die Hinterbliebenenrente begründen; der vorliegende Fall sei jedoch wegen der Inhaftierung des Versicherten und der folgenden beengten wirtschaftlichen Verhältnisse besonders gelagert; die Entscheidung des LSG stehe daher auch mit dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Juni 1966 (BSG 25, 86) im Einklang.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Sie rügt eine Verletzung des § 42 AVG (Satz 1, letzte Alternative). Sie hält es nicht für gerechtfertigt, hier eine Ausnahme von dem Grundsatz zu machen, daß sich die Unterhaltszahlungen des Versicherten auf den vollen Jahreszeitraum vor seinem Tode erstreckt haben müssen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet.
Im vorliegenden Rechtsstreit kommt von den Alternativen, die nach § 42 AVG den Anspruch auf Hinterbliebenenrente begründen können, allenfalls die letzte Alternative in § 42 Satz 1 AVG in Betracht; die anderen Alternativen und auch die Voraussetzungen des § 42 Satz 2 AVG scheiden wegen des Unterhaltsverzichts der Klägerin vom 3. September 1963 von vornherein aus.
Die letzte Alternative des § 42 Satz 1 AVG ist erfüllt, wenn der Versicherte seiner früheren Ehefrau "im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat". Dieser Tatbestand ist nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht gegeben, der gegenteiligen Auffassung des LSG kann der erkennende Senat nicht folgen.
Wie der Senat in BSG 25, 86 bereits entschieden hat, sind die Voraussetzungen der letzten Alternative des § 42 Satz 1 AVG in der Regel nur erfüllt, wenn sich die Unterhaltszahlungen des Versicherten an seine frühere Ehefrau auf den vollen Jahreszeitraum vor dem Tode des Versicherten erstreckt haben. Die Hinterbliebenenrente nach § 42 AVG hat die Aufgabe, die durch den Tod des Versicherten weggefallenen Unterhaltspflichten oder Unterhaltsleistungen gegenüber seiner früheren Frau zu ersetzen; das soll aber nur für solche Unterhaltspflichten und Unterhaltsleistungen gelten, deren Fortdauer bei einer generalisierenden Betrachtungsweise auf Grund der vor dem Tode des Versicherten objektiv gegebenen Verhältnisse zu unterstellen war. Deshalb ist nicht zu prüfen, ob der Versicherte im Falle seines Fortlebens unterhaltsfähig und unterhaltswillig geblieben wäre; ebensowenig kommt es darauf an, ob seinen Zahlungen die Absicht einer regelmäßigen Unterhaltsleistung zugrunde lag. Aus dem dargelegten Sinn und Zweck der Hinterbliebenenrente nach § 42 AVG beantwortet sich auch die Frage, ob sich bei der letzten Alternative des § 42 Satz 1 die Unterhaltszahlungen auf das ganze Jahr vor dem Tode erstreckt haben müssen. Insoweit kann auf Grund der im letzten Jahr vor dem Tode des Versicherten objektiv gegebenen Verhältnisse bei einer generalisierenden Betrachtungsweise nur dann eine Unterhaltszahlung von Dauer unterstellt werden, wenn der Versicherte tatsächlich für das ganze Jahr vor seinem Tode an seine frühere Frau Unterhalt gezahlt hat. Zahlungen nur für einen Teil des Jahres können nicht genügen, weil sie objektiv noch nicht die Annahme rechtfertigen, daß sich die frühere Frau bereits auf einen dauernden Bezug von Unterhalt einstellen durfte. Für diese Auslegung spricht auch die besondere Bedeutung, die der letzten Alternative des § 42 Satz 1 AVG zukommt. Obgleich es bei ihr nicht der Prüfung bedarf, ob die Unterhaltsleistungen freiwillig oder auf Grund einer Unterhaltsverpflichtung erbracht worden sind (BSG 20, 1, 5), kann der Sinn dieser Alternative doch nur darin liegen, die freiwilligen Unterhaltsleistungen mit zu berücksichtigen (BSG 12, 278; vgl. auch § 592 Abs. 1 RVO: "wenigstens während des letzten Jahres ... Unterhalt geleistet hat"). Gerade aber bei freiwilligen Leistungen bedarf der Nachweis eines Dauerzustandes strenger Anforderungen. Aus diesem Grunde liegt es nahe, bei der letzten Alternative des § 42 Satz 1 AVG eine Unterhaltsleistung für das gesamte Jahr vor dem Tode des Versicherten zu verlangen.
In BSG 25, 86, 89 hat der Senat darauf hingewiesen, daß Unterhaltsleistungen für einen Zeitraum von weniger als einem Jahr nach der Rechtsprechung des BSG nur in besonderen Ausnahmefällen den Anspruch auf die Hinterbliebenenrente begründen können. Dabei ist der eine "Ausnahmefall", daß der Versicherte noch vor Ablauf eines Jahres seit der Scheidung verstorben ist, hier ohne Bedeutung; er ist zudem kein echter "Ausnahmefall". Denn die verschiedenen Alternativen des § 42 AVG - einschließlich der letzten - beziehen sich überhaupt nur auf Zeiten zwischen der Scheidung und dem Tode des Versicherten; ist diese Zeit kürzer als ein Jahr, dann muß sich der tatbestandsmäßig maßgebende Zeitraum zwangsläufig entsprechend verkürzen; es bleibt dann aber immer die Frage, wieweit der verkürzte Zeitraum bei der letzten Alternative des § 42 Satz 1 AVG mit Unterhaltszahlungen belegt sein muß. Deshalb kommt allenfalls ein Vergleich mit dem vom 1. Senat in BSG 12, 279 ff anerkannten Ausnahmefall in Betracht. Der dortige Sachverhalt hatte jedoch Besonderheiten (vgl. BSG 25, 89), die hier nicht vorliegen. Er ist auch sonst mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar. Eine Inhaftierung und die ihr folgenden beengten wirtschaftlichen Verhältnisse sind nicht Umstände, die ein Versicherter weder beeinflussen noch beheben kann und die schlechthin jeder Unterhaltszahlung entgegenstehen. Bei der 3. Alternative des § 42 Satz 1 AVG darf es zudem grundsätzlich nur auf die tatsächlichen Zahlungen ankommen, die Gründe für das Unterbleiben von Zahlungen sind unerheblich. Der Sinn und Zweck dieser Alternative des § 42 Satz 1 AVG würde in das Gegenteil verkehrt, wenn auch ein Zahlungsausfall infolge Zahlungsunfähigkeit (insbesondere wegen beengter wirtschaftlicher Verhältnisse) der Anwendung dieser Alternative nicht entgegenstünde.
Auf die Revision der Beklagten ist deshalb das Urteil des LSG aufzuheben. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes. Da die Beigeladene offenbar keine außergerichtlichen Kosten gehabt hat, besteht kein Anlaß, solche Kosten der Klägerin aufzuerlegen.
Fundstellen