Entscheidungsstichwort (Thema)

Entziehung der Kassenarztzulassung Rauschgiftsucht

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Regelung, daß ein Arzt, der innerhalb der letzten 5 Jahre vor seiner Bewerbung rauschgiftsüchtig war, für die Ausübung der Kassenpraxis ungeeignet ist (ZO-Ärzte § 21) gilt sinngemäß auch für die Entziehung der Zulassung. Ein Kassenarzt verliert demnach auf die Dauer von 5 Jahren nach seiner Suchterkrankung die Eignung für die Ausübung der Kassenpraxis.

Diese Regelung ist mit GG Art 12 vereinbar.

2. Fehlt einem Kassenarzt die Eignung zur Ausübung der Kassenpraxis, so ist das Ermessen der Zulassungsinstanzen (RVO § 368a Abs 6) regelmäßig dahin eingeschränkt, daß die Zulassung entzogen werden muß.

 

Leitsatz (redaktionell)

Dem Entzug der Zulassung steht nicht entgegen, daß die Verwaltungsbehörde dem Kassenarzt die Berufsausübung nicht untersagt hat.

 

Normenkette

GG Art. 12 Fassung: 1956-03-19; RVO § 368a Abs. 6 Fassung: 1955-08-17; ZO-Ärzte § 21 Fassung: 1957-05-28

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. Oktober 1967 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger ist seit 1949 als Kassenarzt zugelassen. Er ist Facharzt für Chirurgie und war als Belegarzt beim St. E-Krankenhaus in L (Niederrhein) tätig.

Im November 1964 stellte der Amtsarzt der Stadt K beim Kläger eine schwere Betäubungsmittelsucht fest, die sich in den letzten zwei Jahren in zunehmendem Maße verschlimmert hatte. Die Betäubungsmittel hatte sich der Kläger zum großen Teil auf Kassenrezepte und als Praxisbedarf beschafft. Aus der am 19. November 1964 im Rheinischen Landeskrankenhaus S angetretenen Entziehungskur wurde der Kläger in Anbetracht günstiger Entwicklung vorzeitig am 29. Januar 1965 entlassen. Im Entlassungsbericht wird u.a. ausgeführt: Im Laufe der Entziehungsbehandlung sei eine sehr gute körperliche Erholung eingetreten, gegen die vom Kläger beabsichtigte Wiederaufnahme der Krankenhaustätigkeit bestünden keine Bedenken; mit einer laufenden nachgehenden Kontrolle sei der Kläger einverstanden; die Prognose werde für günstig gehalten. Der Amtsarzt der Stadt K hatte ebenfalls keine Bedenken, daß der Kläger seinen Arztberuf wieder ausübe. Auf Grund dieser Stellungnahmen sah sich der zuständige Regierungspräsident außerstande, gegen den Kläger Maßnahmen nach der Bundesärzteordnung zu ergreifen.

Entsprechend den Anträgen des beigeladenen Verbandes der Ortskrankenkassen Rheinland und der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KÄV) entzog der Zulassungsausschuß für Ärzte in D dem Kläger die Zulassung zu den RVO-Kassen durch Beschluß vom 17. März 1965, weil er wegen Vorliegens einer Rauschgiftmittelsucht als Kassenarzt nicht geeignet sei und durch die Beschaffung der Betäubungsmittel auf Kosten der Krankenkassen seine kassenärztlichen Pflichten gröblich verletzt habe.

Der vom Kläger hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos. Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 29. April 1966 den Entziehungsbescheid und den entsprechenden Widerspruchsbescheid aufgehoben. Die Berufung des beklagten Berufungsausschusses für Kassenarztzulassungen und des Verbandes der Ortskrankenkassen hatte Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts - LSG - vom 17. Oktober 1967). Das Urteil des SG wurde aufgehoben und die Klage abgewiesen. Das LSG hat ausgeführt, dem Kläger sei die Zulassung zur kassenärztlichen Tätigkeit mit Recht entzogen worden, weil die Voraussetzungen für eine Zulassung bei ihm nicht mehr vorlägen. Der Kläger sei für die Ausübung der Kassenpraxis ungeeignet; denn er sei innerhalb der letzten fünf Jahre vor der Entziehung der Zulassung etwa zwei Jahre lang, nämlich bis Anfang 1965, rauschgiftsüchtig gewesen. Die derzeitige Ungeeignetheit des Klägers für die kassenärztliche Tätigkeit infolge der Rauschgiftmittelsucht brauche nicht konkret und tatsächlich festgestellt zu werden (§ 21 der Zulassungsordnung für Kassenärzte - ZOÄ -), sie gelte auch für die Entziehung der Zulassung eines Kassenarztes; denn § 368 a Abs. 6 der Reichsversicherungsordnung (RVO) mache diese von dem Nicht- bzw. Nicht-mehr-Bestehen der Zulassungsvoraussetzungen abhängig. Statt "Bewerbung" in § 23 ZOÄ sei im Entziehungsverfahren "Entziehung" zu lesen. Der Grundsatz des § 21 ZOÄ enthalte beim Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen eine unwiderlegliche Vermutung für die Ungeeignetheit des sich bewerbenden bzw. des zugelassenen Arztes zur Ausübung der kassenärztlichen Tätigkeit für die Dauer von fünf Jahren nach Ausheilung der Suchterkrankung. Diese Regelung sei auch nicht verfassungswidrig, da nicht offensichtlich fehlsam oder mit der Wertordnung des Grundgesetzes (GG) unvereinbar. Selbst wenn § 368 a Abs. 6 RVO eine Ermächtigung zur Ausübung von Ermessen enthalten solle, müßten die Zulassungsinstanzen die Zulassung entziehen, wenn sich ein Arzt infolge geistiger oder sonstiger in seiner Person liegenden schwerwiegenden Mängel oder infolge der unwiderleglichen Vermutung des § 21 ZOÄ als ungeeignet erweise.

Der Kläger hat die - zugelassene - Revision eingelegt und wie folgt begründet:

Das LSG habe übersehen, daß § 21 ZOÄ zwar die Zulassung zwingend verbiete, die Entziehung jedoch nach § 27 ZOÄ in das Ermessen der Zulassungsinstanzen gestellt werde. Daraus, daß § 368 a Abs. 6 RVO ein Ermessen einräume, folge, daß der Gesetzgeber den Grundsatz des § 21 ZOÄ nicht als unwiderlegliche Vermutung verstanden wissen wolle. Sonst wäre es auch nicht begreiflich, daß der zuständige Regierungspräsident auf Grund der Stellungnahme des Amtsarztes der Stadt K davon abgesehen habe, gegen ihn Maßnahmen nach der Bundesärzteordnung zu ergreifen.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils nach dem Klageantrag zu erkennen.

Die beklagte KÄV und der beigeladene Verband der Ortskrankenkassen Rheinland beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die Revision ist nicht begründet.

Nach § 368 a Abs. 6 RVO kann die Zulassung u.a. entzogen werden, wenn ihre Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Die Voraussetzungen für die Zulassung sind in der gemäß §§ 368 Abs. 1, 368 c Abs. 1 RVO erlassenen ZOÄ vom 28. Mai 1957 (RGBl I 572) geregelt, die - entsprechend § 368 c Abs. 2 Nr. 10 RVO - auch Bestimmungen über die Voraussetzung für die Zulassung hinsichtlich der Eignung zur kassenärztlichen Tätigkeit enthält. Dies ist in § 21 ZOÄ geschehen. Dort heißt es u.a.: "Ungeeignet für die Ausübung der Kassenpraxis ist insbesondere ein Arzt, der innerhalb der letzten fünf Jahre vor seiner Bewerbung rauschgiftsüchtig war". Daraus folgt, daß Voraussetzung für die Zulassung eines Arztes zur Kassenpraxis der Umstand ist, daß bei ihm fünf Jahre vor der Bewerbung keine Rauschgiftsucht vorlag. Der Kläger war aber in den letzten fünf Jahren rauschgiftsüchtig; denn diese Sucht ist noch 1964 bei ihm festgestellt worden. Der Kläger würde deshalb, wenn er sich um die Zulassung bewerben würde, diese mangels Eignung nicht erhalten.

Wird nun ein Kassenarzt rauschgiftsüchtig, so liegt eine Voraussetzung für seine Zulassung nicht mehr vor. Es ist daher zulässig, ihm die Zulassung zur Kassenpraxis zu entziehen. Dem steht nicht entgegen, daß § 21 ZOÄ lediglich von "Bewerbung" spricht. Diese Bestimmung kann auch auf das Entziehungsverfahren angewendet werden. Das folgt aus der "Transmissionswirkung" des § 368 a Abs. 6 RVO. Hiernach genügt es für die Kassenarzteigenschaft nicht, daß einmal die Voraussetzungen für diese Tätigkeit erfüllt sind, sondern sie müssen für die gesamte Dauer der Zulassung bestehen ("... wenn ihre Voraussetzungen ... nicht mehr vorliegen"). Es ist auch kein Grund ersichtlich, dem Begriff der Eignung bzw. Ungeeignetheit für die Ausübung der kassenärztlichen Tätigkeit einen anderen Inhalt zu geben und einer anderen Beurteilung zu unterwerfen je nachdem, ob über die Bewerbung eines nicht zugelassenen Arztes oder über die Entziehung seiner Zulassung zu entscheiden ist. § 21 ZOÄ hat seiner Zielsetzung nach den Sinn, mit Rücksicht auf die Eigenart der dort genannten Suchterkrankungen zu verhindern, daß Kassenpatienten bei der Behandlung ernsthaften Gefahren ausgesetzt werden. Diese Zwecksetzung gebietet es aber auch, die in § 21 ZOÄ genannte Fünfjahresfrist bei der Frage der Entziehung der Zulassung anzuwenden. Erst nach dieser Frist kann nach Auffassung des Verordnungsgebers endgültig beurteilt werden, ob der süchtig gewesene Arzt ohne Gefahr eines baldigen Rezidivs als von dieser Sucht geheilt angesehen werden kann. Demnach ist ein Arzt auf die Dauer von fünf Jahren nach dem Abklingen der akuten Erscheinungen einer Rauschgiftsucht für die Ausübung der Kassenpraxis ungeeignet.

Diese für das Kassenarztrecht festgelegte strenge Voraussetzung der Eignung ist unabhängig von der Beurteilung, die die Suchterkrankung eines Arztes und die damit zusammenhängende Frage, wann die Gefahr eines Rezidivs als beseitigt angesehen werden kann, im ärztlichen Berufsrecht oder gar in der Praxis der für berufsrechtliche Maßnahmen zuständigen Stellen findet. Daher ist es für die Rechtmäßigkeit der Entziehung der kassenärztlichen Zulassung unerheblich, daß der zuständige Regierungspräsident auf Grund der Stellungnahme des Amtsarztes, es bestünden keine Bedenken, daß der Kläger seinen Arztberuf wieder ausübe, dem Kläger die ärztliche Berufsausübung nicht untersagt hat.

Die Eignungsregelung des § 21 ZOÄ ist nicht verfassungswidrig. Ohne Unterschied, ob die Bewerbung eines Arztes für die Ausübung der kassenärztlichen Tätigkeit abgelehnt oder ob eine ausgesprochene Zulassung wieder entzogen wird, handelt es sich in jedem Falle um eine Einschränkung der Berufsfreiheit, die in ihrer Wirkung, nämlich durch Ausschluß von weiterer Berufstätigkeit, einer Beschränkung der Berufswahl i.S. des Artikels 12 Abs. 1 GG gleichgeachtet werden muß (BSG 15, 177, 182; BSG SozR Nr. 24 zu § 368 a RVO unter Hinweis auf BVerfG 13, 97 Leitsatz 2) und nur "zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter" gerechtfertigt ist (BSG aaO unter Hinweis auf BVerfG 7, 377 Leitsatz 6 b und BVerfG in NJW 1961, 2011). Ob letzteres vorliegt, ist von den Gerichten nur daraufhin zu prüfen, ob die öffentlichen Interessen, deren Schutz die gesetzliche Regelung dient, überhaupt Gemeinschaftswerte von so hohem Rang darstellen können, daß sie eine Einschränkung der freien Berufswahl rechtfertigen; den Anschauungen des Gesetzgebers darf der Richter die Anerkennung nur versagen, wenn sie offensichtlich fehlsam oder mit der Wertordnung des GG unvereinbar sind (BSG 15, 177, 182).

Daß diese Voraussetzungen hier vorliegen, ist nicht ersichtlich. Wie oben bereits hervorgehoben, gefährdet die Rauschgiftsucht mit ihren körperlich-seelischen Folgeerscheinungen und dem Verlust der Selbstkontrolle das verantwortungsbewußte ärztliche Handeln in einem solchen Maße, daß es im Interesse der Sozialversicherten gerechtfertigt erscheint, einem suchterkrankten Arzt die Ausübung der Tätigkeit als Kassenarzt nicht mehr zu gestatten. Dabei muß es dem Verordnungsgeber angesichts der häufigen Rückfälle in das alte Leiden, die gerade bei Suchterkrankungen bei anscheinend Geheilten festzustellen sind, überlassen bleiben, die Zeitspanne für das Vorliegen einer ernstlichen Wiederholungsgefahr auch unter Berücksichtigung der Schwere des Eingriffs in eine aufgebaute Kassenpraxis vorsichtig zu bemessen und in erlaubter Verallgemeinerung schematisch festzulegen.

Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß die Entziehung der Kassenarztzulassung dem Ermessen der Zulassungsinstanzen obliege (BSG 7, 129, 138; 10, 292, 295; 15, 177, 180; BSG vom 28. Februar 1963 in SozR Nr. 24 zu § 368 a RVO). An dieser Auffassung hält der Senat auch weiterhin fest. Indessen kann die Tragweite einer Ermächtigung an eine Behörde, nach ihrem Ermessen zu entscheiden, nur aus ihrer Zweckbestimmung erschlossen werden (BSG 14, 104, 108 unter Hinweis für den ähnlichen Fall des § 1293 Abs. 2 RVO aF sowie BSG 9, 199, 203 f und BVerfG 7, 129, 154). Das hat zur Folge, daß das Ermessen durch den der Ermächtigung zugrunde liegenden Zweck so eingeschränkt sein kann, daß praktisch nur noch eine Entscheidung eine richtige Ermessensausübung darstellt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn jede andere Entscheidung - und sei es auch zugunsten des antragstellenden Staatsbürgers - einen Ermessensfehlgebrauch darstellen würde (BSG 9, 232, 239) und somit rechtswidrig wäre. Das liegt nicht nur dann vor, wenn dem Arzt die Approbation entzogen worden ist, sondern ist auch hier gegeben. Fehlende Eignung ist ein Hinderungsgrund für die kassenärztliche Tätigkeit, der regelmäßig zur Entziehung der Zulassung zwingt. Anderenfalls wäre es den KÄVn nicht möglich, die den Krankenkassen nach § 182 RVO obliegende ärztliche Versorgung der Versicherten sicherzustellen und den Krankenkassen und ihren Verbänden gegenüber die Gewähr dafür zu übernehmen, daß die kassenärztliche Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht (§ 368 a Abs. 1 Satz 1 RVO).

Nach den Feststellungen des LSG mußte der Kläger noch Ende 1964 wegen seiner Rauschgiftsucht behandelt werden. Von diesem Zeitpunkt an lief die für die Wiedergewinnung der Eignung maßgebliche Fünfjahresfrist des § 21 ZOÄ. Sie war sowohl bei der Entscheidung des beklagten Berufungsausschusses als auch bei der des LSG nicht abgelaufen, so daß der Senat nicht auf die in BSG 7, 129 behandelte Frage einzugehen braucht, inwieweit nachträgliche Änderungen der Sachlage von den Gerichten bei ihrer Entscheidung zu berücksichtigen sind. Demnach ist die Entziehung der Zulassung des Klägers rechtmäßig. Seine Revision war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 80

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