Entscheidungsstichwort (Thema)

Entziehung der Zulassung als Kassenarzt

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ändert sich die Sach- oder Rechtslage zwischen der Entscheidung des Zulassungsausschusses und der Widerspruchsentscheidung des Berufungsausschusses, so hat dieser bei seiner Entscheidung die Änderung zu berücksichtigen.

2. Ist einem Kassenarzt die Zulassung zur Kassenpraxis wegen einer Medikamentensucht entzogen, die Vollziehung dieser Entscheidung vom Berufungsausschuß angeordnet (RVO § 368b Abs 5) und die angeordnete Vollziehung während des gerichtlichen Verfahrens nicht ausgesetzt worden (SGG § 97 Abs 3), so ist die Rechtmäßigkeit der Entziehung nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsausschusses zu beurteilen (Ergänzung zu BSG 1958-03-28 6 RKa 1/57 = BSGE 7, 129).

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Für die Eignung eines Arztes als Kassenarzt ist allein die Tatsache, nicht die Entstehung einer Sucht von Bedeutung; auch eine Arzneimittelsucht nach zunächst medizinisch begründeter Tabletteneinnahme kann eine Entziehung der Zulassung nach ZO-Ärzte § 21 rechtfertigen.

2. Das SG hat bei der Überprüfung einer Entscheidung des Berufungsausschusses grundsätzlich von derselben Sach- und Rechtslage auszugehen, die bei Erlaß der Entscheidung vorgelegen hat; eine nachträgliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse kann insbesondere dann nicht berücksichtigt werden, wenn die sofortige Vollziehung angeordnet war.

3. Wer bei der Entscheidung im Verwaltungsverfahren mitgewirkt hat, ist für den nachfolgenden Rechtsstreit als Richter ausgeschlossen.

 

Normenkette

SGG § 54 Fassung: 1953-09-03, § 97 Abs. 3 Fassung: 1955-08-17; RVO § 368a Fassung: 1955-08-17, § 368b Abs. 5 Fassung: 1955-08-17

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 1. März 1967 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger, 1902 geboren und seit 1937 gemeinsam mit seiner Ehefrau in einer allgemeinärztlichen Praxis in W, einem kleinen Ort bei C, tätig, wendet sich gegen die Entziehung seiner Kassenzulassung.

Im Jahre 1952 wurde bei ihm im Anschluß an eine Lebererkrankung (Hepatitis) zum ersten Mal eine übermäßige Einnahme von Betäubungsmitteln festgestellt. Er befand sich deswegen um die Jahreswende 1952/53 mehrere Wochen im Landeskrankenhaus G. Die Entlassungsdiagnose lautete: Medikamentenabusus bei endogenen Stimmungsschwankungen. Im Frühjahr 1956 wurde er nach einem Rückfall erneut stationär behandelt (vom 8. Februar bis 9. Mai 1956 in den W Krankenanstalten in I bei H). Nach dem Krankenblatt bestand eine polyvalente Medikamentensucht bei nihilistisch-neurotischer Grundhaltung.

In den folgenden Jahren stieg der Medikamentenverbrauch des Klägers wiederum so erheblich, daß er 1961 bei einer Apotheke Schulden von ca. 4.000 DM hatte. Etwa von Herbst 1960 an verschrieb er die von ihm benötigten Mittel zum Teil auch auf Kassenrezepten, verbrauchte sie aber für sich. Ein deswegen eingeleitetes Ermittlungsverfahren stellte die Staatsanwaltschaft ein, weil seine strafrechtliche Verantwortlichkeit verneint wurde (§ 51 Abs. 1 StGB). Inzwischen war er am 6. April 1961 auf Grund eines Gutachtens des Gesundheitsamts C durch Beschluß des Amtsgerichts C in das Landeskrankenhaus L eingewiesen worden; dort wurde er bis zum 20. Oktober 1961 wegen einer symptomatischen Psychose paranoider Färbung auf dem Boden einer chronischen Arzneimittelintoxikation behandelt. Eine ähnliche Diagnose hatte der Amtsarzt in C vor der Krankenhauseinweisung gestellt. Daraufhin hatte am 15. Mai 1961 der Regierungspräsident in H das Ruhen der Befugnis zur Ausübung des ärztlichen Berufs angeordnet. Diese Anordnung wurde am 20. Februar 1962 auf Grund eines neuen amtsärztlichen Gutachtens vom November 1961 wieder aufgehoben.

Nachdem der Zulassungsausschuß Kenntnis von der Ruhensanordnung erhalten hatte, entzog er mit Beschluß vom 11. August 1961 auch die Zulassung zur kassenärztlichen Tätigkeit: mit einer Wiederaufnahme der ruhenden Praxis sei nicht zu rechnen.

Auf den Widerspruch des Klägers holte der beklagte Berufungsausschuß ein nervenfachärztliches Gutachten von Dr. med. habil. W, Privatdozent an der Universitäts-Nervenklinik in G, ein. Der Gutachter stellte nach stationärer Untersuchung Ende März 1962 schwerwiegende Denkstörungen fest. Das Schwergewicht der Veränderungen liege auf dem Sektor der Persönlichkeit, während man im Bereich der Intelligenz allenfalls von ersten Zeichen einer beginnenden Demenz sprechen könne. Der Kläger sei in eine süchtige Abhängigkeit von Medikamenten geraten; als Folge des langjährigen Mißbrauchs sei es zu einer symptomatischen Psychose vom Typus des organischen Paranoids gekommen. Bei einem zwölfjährigen Krankheitsprozeß mit wiederholten süchtigen und psychotischen Krisen bestehe im Augenblick noch nicht die geringste Gewähr dafür, daß der Prozeß der Süchtigkeit wirklich zum Abschluß gekommen sei, zumal sich bei einer am Tage der stationären Aufnahme durchgeführten Harnuntersuchung Abbauprodukte des Pyramidons und des Luminals und mehrere basische Substanzen gezeigt hätten, die nicht näher hätten definiert werden können. Daher müsse angenommen werden, daß der Untersuchte auch weiterhin Medikamente in unbekanntem Umfang zu sich nehme. Der Kläger sei bis 1961 medikamentensüchtig gewesen; diese Sucht habe eine organische Wesensänderung und eine erhöhte Anfälligkeit für einen Medikamentenmißbrauch verursacht. - Der Berufungsausschuß folgte diesem Gutachten und wies mit Beschluß vom 6. Juni 1962 den Widerspruch zurück; außerdem ordnete er die Vollziehung seiner Entscheidung an: Die Medikamentensucht habe eine so starke Wesensveränderung und Suchtanfälligkeit zur Folge gehabt, daß der Kläger an schwerwiegenden persönlichen Mängeln leide; die Zulassung zur kassenärztlichen Tätigkeit müsse ihm daher entzogen werden.

Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Hannover nach mündlicher Anhörung eines Sachverständigen und Einholung eines weiteren - ebenfalls auf stationärer Beobachtung beruhenden - Gutachtens der Universitäts-Nervenklinik K als unbegründet abgewiesen (Urteil vom 13. Mai 1964). Die Gutachter (Prof. Dr. S und Prof. Dr. V) hatten als "geistigen Mangel oder Gebrechen" eine mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit fortbestehende Suchttendenz angenommen, die Gefahr eines Rückfalls sei grundsätzlich als groß zu bezeichnen.

Auch die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Nach Ansicht des LSG ergibt sich aus dem überzeugenden Gutachten von Dr. W, daß der Kläger in dem Zeitpunkt, der für die Prüfung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Entziehungsbeschlusses maßgebend sei, nämlich zur Zeit des Erlasses der Entscheidung des Berufungsausschusses, "noch nicht die geringste Gewähr dafür geboten" habe, daß der Prozeß der Süchtigkeit bei ihm wirklich zum Abschluß gekommen sei; die Zulassung sei ihm daher zu Recht entzogen worden (Urteil vom 1. März 1967).

Mit der zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, das LSG hätte bei seiner Entscheidung von dem Sachstand zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung ausgehen müssen, zumal die Entziehung praktisch nicht vollzogen worden sei: Er habe seine Kassenpraxis unter stillschweigender Duldung der Beklagten formell unter dem Namen seiner Ehefrau weiter ausgeübt. Außerdem habe bei ihm keine echte Sucht vorgelegen, er habe die Tabletten nur zur Schmerzbekämpfung genommen. Der Kläger beantragt,

die Urteile des LSG Niedersachsens vom 1. März 1967 und des SG Hannover vom 13. Mai 1964 sowie die Beschlüsse des Zulassungsausschusses H vom 11. August 1961 und des beklagten Berufungsausschusses vom 6. Juni 1962 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Bei der Entscheidung des Senats hat Bundessozialrichter S mitgewirkt, obwohl an sich Bundessozialrichter N an der Reihe gewesen wäre. Dieser war jedoch nach § 60 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen, weil er an einer Sitzung des beklagten Berufungsausschusses teilgenommen hat, in der beschlossen worden ist, den Kläger nervenärztlich untersuchen zu lassen. Wie der Senat schon früher entschieden hat, ist nach Wortlaut und Zweck des § 60 Abs. 2 SGG jeder, der - wie Bundessozialrichter N. - bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren in mehr als nur formaler Weise mitgewirkt hat, für den nachfolgenden Rechtsstreit vom Richteramt ausgeschlossen (SozR SGG § 60 Nr. 7).

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Die vom Zulassungsausschuß am 11. August 1961 beschlossene und vom beklagten Berufungsausschuß am 6. Juni 1962 bestätigte Entziehung der Kassenzulassung des Klägers ist rechtmäßig, wie die Vorinstanzen zutreffend entschieden haben.

Da hier ein Vorverfahren stattgefunden hat - das Verfahren vor dem Berufungsausschuß gilt als Vorverfahren (§ 368 b Abs. 7 RVO) -, ist Gegenstand des Rechtsstreits der Entziehungsbeschluß des Zulassungsausschusses in der Gestalt, die er durch die Entscheidung des Berufungsausschusses erhalten hat (§ 95 SGG).

Daß der Berufungsausschuß bei seiner Entscheidung auch Änderungen der Sach- oder Rechtslage zu berücksichtigen hat, die nach Erlaß der Entscheidung des Zulassungsausschusses eingetreten sind, hat der Senat in anderem Zusammenhang - für die früher häufigen Auswahlstreitigkeiten unter mehreren Bewerbern um die Zulassung für einen ausgeschriebenen Kassenarztsitz - schon entschieden (vgl. BSG 11, 119 Leitsatz 2). Nichts anderes kann indessen für Streitigkeiten über die Entziehung der Kassenzulassung gelten. Im Falle des Klägers hatte der Berufungsausschuß somit zu beachten, daß die am 15. Mai 1961 ergangene und bei Erlaß der Entscheidung des Zulassungsausschusses noch wirksame Anordnung über das Ruhen der Bestallung des Klägers inzwischen (am 20. Februar 1962) wieder aufgehoben worden war. Entgegen der Ansicht des Klägers brauchte der Berufungsausschuß deswegen jedoch das Verwaltungsverfahren nicht wieder an den Zulassungsausschuß zurückzugeben, sondern konnte - als zweite Verwaltungsinstanz - selbst über die Entziehung der Kassenzulassung des Klägers auf Grund des bei Erlaß seiner Entscheidung vorliegenden Sachverhalts befinden.

Daß auch die Gerichte bei Nachprüfung der Entscheidung des Berufungsausschusses grundsätzlich von den gleichen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen auszugehen haben, die der Berufungsausschuß seiner Entscheidung zugrundegelegt hat, ist ebenfalls schon in dem genannten Urteil des Senats geklärt worden (vgl. ferner BSG 7, 8 Leitsatz 5, 13; 14, 71, 76; SozR VerwVG § 47 Nr. 11).

Eine Ausnahme hat dabei der Senat allerdings für den Fall gemacht, daß einem Kassenarzt die Zulassung zur Kassenpraxis wegen Rauschgiftsucht entzogen worden ist, die Entziehung aber bisher nicht wirksam geworden ist, weil dagegen Anfechtungsklage erhoben und die sofortige Vollziehung nicht angeordnet ist: In einem solchen Fall hätten die Gerichte des ersten und zweiten Rechtszuges bei der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der - noch nicht vollzogenen - Zulassungsentziehung eine Änderung der Sachlage, namentlich eine im Laufe des Rechtsstreits eingetretene Heilung von der Sucht, regelmäßig zu berücksichtigen (BSG 7, 129; vgl. dazu auch Heinemann/Liebold, Kassenarztrecht 4. Auflage, § 368 a Anm. 11, S. I 7 g). Die Voraussetzungen für die Anwendung dieser - im wesentlichen mit Billigkeitserwägungen begründeten (BSG 7, 137) - Rechtsprechung des Senats sind jedoch im vorliegenden Fall nicht erfüllt, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat. Der beklagte Berufungsausschuß hat hier im öffentlichen Interesse den sofortigen Vollzug seiner Entscheidung angeordnet. Die Entziehung ist daher mit Zustellung der Entscheidung wirksam geworden (vgl. BSG 15, 177), hat also das Kassenarztverhältnis des Klägers - vorbehaltlich einer anderen Entscheidung der Gerichte - abschließend gestaltet; neue Tatsachen haben deshalb die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Berufungsausschusses nicht mehr beeinflussen können (vgl. auch BVerwG in DVBl 1968, 153 f). Dabei ist es entgegen dem Vorbringen des Klägers unerheblich, daß seine als Kassenärztin zugelassene Ehefrau die Praxis des Klägers bisher mitversorgt hat und der Kläger ihr dabei, nachdem das Ruhen seiner Bestallung wieder aufgehoben worden war, möglicherweise geholfen hat. Diese besonderen tatsächlichen Umstände des Einzelfalles ändern nichts daran, daß mit der Zustellung der Entscheidung des Berufungsausschusses die Entziehung der Kassenzulassung des Klägers rechtswirksam geworden ist, neue Tatsachen also nicht mehr berücksichtigt werden können. Die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung ist somit nach den Verhältnissen im Zeitpunkt ihres Erlasses (Juni 1962) zu beurteilen.

Zu dieser Zeit lag die mehr als halbjährige stationäre Behandlung des Klägers im Landeskrankenhaus Lüneburg erst 8 Monate zurück. Bei seiner Untersuchung durch Dr. Wieser Ende März 1962 waren noch deutliche Spuren eines fortgesetzten Medikamentenverbrauchs unbekannten Umfangs gefunden worden. Der Berufungsausschuß hat deshalb auf Grund des Gutachtens von Dr. W unbedenklich annehmen dürfen, daß der Kläger angesichts der Krankheitsvorgeschichte noch keinerlei Gewähr dafür bot, daß er sich von seiner Sucht freigemacht hatte. Ob es sich 1961 um eine eigentliche Rauschgiftsucht wie in den früheren Jahren gehandelt hat, haben die Vorinstanzen mit Recht unentschieden gelassen. Auch wenn der Kläger in der hier fraglichen Zeit keine spezifischen Rauschgifte (Betäubungsmittel) zu sich genommen haben sollte, so hat er nach den von ihm nicht angegriffenen Feststellungen des LSG mindestens Medikamente in solcher Menge verbraucht, daß er bis Juni 1962 als stark suchtgefährdet anzusprechen war. Bei ihm bestand deshalb bis zu dieser Zeit ein schwerwiegender persönlicher Mangel im Sinne des § 21 der Zulassungsordnung für Kassenärzte, der ihn für die weitere Ausübung der Kassenpraxis zunächst ungeeignet machte und die Entziehung der Zulassung rechtfertigte. Dabei kommt es nicht darauf an, welche Ursachen der 1952 erstmals und in den Jahren 1956 und 1961 erneut festgestellten Medikamentensucht des Klägers zugrundeliegen, ob er insbesondere, wie er vorträgt, die Tabletten ursprünglich zur Schmerzbekämpfung genommen hat. Für die Eignung eines Arztes als Kassenarzt ist allein die Tatsache, nicht die Genese einer Sucht von Bedeutung. Auch eine Arzneimittelsucht, die auf einer zunächst medizinisch begründeten Tabletteneinnahme beruht, gefährdet die Patienten des Arztes und kann bei den Versicherungsträgern Zweifel an seiner Vertrauenswürdigkeit begründen. Sie macht ihn deshalb als Kassenarzt solange ungeeignet, als er sich nicht von seiner Sucht endgültig befreit hat. Da dies beim Kläger jedenfalls zur Zeit des Erlasses der angefochtenen Entscheidung noch nicht der Fall war, haben die Vorinstanzen seine Klage mit Recht als unbegründet abgewiesen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

DVBl. 1969, 281

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