Beteiligte
Klägerin und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, ab 1. Januar 1978 die erhöhte Witwenrente der Klägerin (§ 590 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung -RVO-) auf die einfache Witwenrente (§ 590 Abs. 1 RVO) herabzusetzen.
Der im September 1937 geborenen Klägerin war, nachdem ihr Ehemann 1959 an seinem Arbeitsplatz tödlich verunglückt war, Witwenrente durch die Beklagte gewährt worden. Seit Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) um 1. Juli 1963 betrug diese zwei Fünftel des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) des Versicherten, weil die Klägerin zunächst zwei waisenrentenberechtigte Kinder, darunter die im März 1959 geborene Tochter T. erzog. Nach Vollendung des 18. Lebensjahres (14. März 1977) wurde Waisenrente an die Tochter weitergezahlt, weil sie sich noch in Berufsausbildung befand.
Mit Schreiben vom 18. November 1977 teilte die Beklagte der Klägerin ihre Absicht mit, die erhöhte Witwenrente ab 1. Januar 1978 auf drei Zehntel des JAV herabzusetzen, weil ihre Tochter mit Vollendung des 18. Lebensjahres volljährig geworden sei und sie deswegen von der Klägerin nicht mehr erzogen werde. Außerdem teilte die Beklagte der Klägerin mit, es werde ihr gem. § 34 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - SGB 1) zunächst Gelegenheit gegeben, sich innerhalb einer Woche nach Empfang des Schreibens zu den für die Entscheidung maßgeblichen Tatsachen zu äußern. Die Klägerin erhielt dieses Schreiben am 21. November 1977. Sie nahm hierzu in einem Brief vom 26. November 1977 Stellung, der bei der Beklagten am 28. November 1977 einging. Mit einem vom Rentenausschuß bereits am 24. November 1977 beschlossenen, am 25. November 1977 gefertigten Bescheid, der am 28. November 1977 zur Post gegeben wurde und der Klägerin am 29. November 1977 zuging, setzte die Beklagte die Witwenrente ab 1. Januar 1978 auf drei Zehntel des JAV fest. Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid der Beklagten vom 25. November 1977 aufgehoben (Urteil vom 26. September 1978) mit der Begründung, der Bescheid sei schon deswegen rechtswidrig, weil im Rahmen der Anhörung nach § 34 SGB 1 die von der Beklagten selbst gesetzte Äußerungsfrist nicht eingehalten worden sei. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat im wesentlichen ausgeführt:
Eine Anhörung der Klägerin sei rechtlich nicht geboten gewesen. Nach § 34 Abs. 1 SGB 1 sei den Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung nur dann zu geben, wem ein Verwaltungsakt erlassen werden solle, der in die Rechte eines Beteiligten eingreife. Abgesehen von der Auferlegung von Pflichten (z.B. von Beitragspflichten) werde man hierunter im Sozialversicherungsrecht vor allem Regelungen durch Verwaltungsakte zu verstehen haben, die gestaltend in die durch bindend gewordene Bescheide oder anderweitig in begründete Rechtspositionen eingriffen. Ein Verwaltungsakt greife aber nicht in die Rechte eines Beteiligten ein, wenn er eine bereits eingetretene Rechtsfolge nur (deklaratorisch) ausspreche. Dies sei insbesondere der Fall, wenn der Eingriff in die Rechte eines Versicherten schon zuvor durch eine sich unmittelbar auf seine Rechtsposition auswirkende gesetzliche Regelung erfolgt sei. Die auch in diesem Falle denkbare Beschwer werde nicht durch den Verwaltungsakt begründet, sondern liege in der von außen her in das Verhältnis zwischen Leistungsträger und Leistungsberechtigten eingreifenden normativen Regelung. Wenn aber das Gesetz bestimme, daß die erhöhte Witwenrente nur gewährt werde, solange die Witwe ein waisenrentenberechtigtes Kind "erziehe", so entfalle die Rente der Witwe kraft Gesetzes, wenn das Kind keiner Erziehung mehr bedürfe, sondern volljährig sei. Damit entfalle die Möglichkeit, daß eine fehlerfreie Anhörung der Klägerin den angefochtenen Bescheid beeinflußt hätte. Unterstellt, daß bei der Anhörung der Klägerin ein Verfahrensmangel unterlaufen sei, sei er also nicht wesentlich und könne die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides nicht begründen (Urteil vom 25. Oktober 1979).
Mit der zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des Art 1 § 34 Abs. 1 SGB 1. Sie ist der Auffassung, daß ihre, Anhörung nach dieser Vorschrift erforderlich gewesen sei.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 26. September 1978 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Am 27. Dezember 1978 hat die Beklagte "für den Fall, daß die Berufung zurückgewiesen wird, einen Bescheid erteilt, mit dem sie "vorsorglich" das Wirksamwerden der Rentenherabsetzung auf den 1. Februar 1979 festgesetzt hat.
II
Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Urteil des Berufungsgerichts kann unter Beachtung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Anhörungsrecht im Sinne des § 34 SGB 1, an der auch der erkennende Senat mitgewirkt hat, keinen Bestand haben.
Nach § 34 Abs. 1 SGB 1 ist einem Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern, wenn ein Verwaltungsakt erlassen werden soll, der in seine Rechte eingreift. Die Beklagte hat die Klägerin zwar mit Schreiben vom 18. November 1977 über die Rechtslage unterrichtet und sie aufgefordert, die Tatsachen vorzubringen, die bei der gegebenen Rechtslage von Bedeutung sein können. Doch hat die Beklagte die Stellungnahme der Klägerin nicht abgewartet, sondern unabhängig von dem, was die Klägerin zu sagen hatte, ihre Entscheidung im angefochtenen Bescheid vom 25. November 1977 getroffen. Das ist keine Anhörung, wie sie § 34 Abs. 1 SGB 1 vorsieht. Diese Vorschrift will rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechend sicherstellen, daß dem Betroffenen Gelegenheit gegeben wird, auf das Verfahren der Sozialverwaltung und auf deren Entscheidung Einfluß zu nehmen. Daneben hat der Gesetzgeber allgemein das Vertrauensverhältnis zwischen dem Bürger und der Sozialverwaltung stärken und die Stellung des Bürgers insbesondere durch den Schutz vor Überraschungsentscheidungen verbessern wollen (vgl. BT-Drucks 7/868 S. 45). Wenn die Verwaltung dem Beteiligten eine Frist zur Äußerung setzt, aber diese Frist nicht abwartet, sondern unabhängig von ihr entscheidet, so ist weder gewährleistet, daß der Betroffene Gelegenheit hatte, auf die Entscheidung Einfluß zu nehmen, noch dient ein solches Verhalten dem Vertrauensverhältnis zwischen dem Bürger und der Verwaltung. Bei den Beteiligten wird vielmehr der Eindruck erweckt, daß die Entscheidung schon festgestanden habe, unabhängig davon, was er zu ihr habe vorbringen können.
Wird ein Verwaltungsakt unter Verletzung der Anhörungspflicht erlassen, leidet das Verwaltungsverfahren unter einem wesentlichen Mangel. Der Verwaltungsakt ist rechtswidrig und anfechtbar (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 16.1.1979 in SozR 1200 § 6 unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des BSG). Dieser dem Verfahren anhaftende Mangel kann auch nicht dadurch geheilt werden, daß der Beteiligte seine Anhörung erzwingt, indem er durch seine Klage das gerichtliche Verfahren einleitet (BSG SozR 1200 § 34 Nr. 1 und Nr. 2). Nach dem Urteil des 6. Senats des BSG vom 1. März 1979 (SozR 1200 § 34 Nr. 8) muß ein wegen unterbliebener Anhörung eines Beteiligten fehlerhafter Verwaltungsakt auch dann aufgehoben werden, wenn eine andere Entscheidung in der Sache nicht hätte ergehen können. Der 2. Senat des BSG hat in seiner Entscheidung vom 31. Oktober 1978 (SozR 1200 § 34 Nr. 4) offengelassen, ob eine auf § 34 Abs. 1 SGB 1 gestützte Klage voraussetzt, daß in dem für die Anhörung maßgebenden Zeitpunkt vor Erlaß des Verwaltungsakts zumindest die Möglichkeit einer anderen Entscheidung bei vorheriger Anhörung des Betroffenen bestanden haben muß. Das kam hier ebenfalls dahinstehen. Im vorliegenden Fall bestand die Möglichkeit einer anderen Entscheidung schon deswegen, weil die erhöhte Witwenrente im Sinne des § 590 Abs. 2 RVO, deren Wegfall die Beklagte hier im angefochtenen Bescheid festgestellt hat, nicht allein wegen der - hier durch Vollendung des 18. Lebensjahres der Tochter der Klägerin weggefallenen - Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes, sondern auch unter anderen Voraussetzungen alternativ zu gewähren ist. So hätte die Klägerin unter Umständen vortragen können, daß sie für ein Kind sorge, dem die Waisenrente auch wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen zustehe, bzw. daß sie selbst - mittlerweile - berufs- oder erwerbsunfähig sei, Das Merkmal des § 34 Abs. 1 SGB 1, daß in die Rechte eines Beteiligten eingegriffen wird, ist somit nicht nur erfüllt, wenn die Rente aus der Unfallversicherung herabgesetzt oder entzogen wird (§§ 622 Abs. 1, 623 Abs. 2 RVO), sondern auch dann, wenn es sich um einen Wegfalltatbestand (§ 631 RVO) handelt, gleichzeitig aber die Möglichkeit besteht, den Wegfall durch einen anderen Erhöhungstatbestand zu kompensieren und die erhöhte Witwenrente insoweit nicht von vornherein zeitlich begrenzt gewährt worden ist. Schon deswegen geht die Auffassung des LSG fehl, die für die Klägerin denkbare Beschwer werde nicht durch den angefochtenen Verwaltungsakt, sondern durch die von außen her eingreifende normative Regelung begründet.
An diesem Ergebnis vermag auch der Bescheid der Beklagten vom 27. Dezember 1978 nichts zu ändern, zumal er noch seinem Wortlaut nur vorsorglich für den Fall ergangen ist, daß die Berufung der Beklagten zurückgewiesen wird. Nach der Entscheidung des erkennenden Senats vom 16. Januar 1979 (a.a.O.) ist dieser Bescheid jedenfalls nicht gemäß § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits geworden.
Da das Verhalten der Beklagten den Anforderungen des § 34 Abs. 1 SGB 1 nach alledem nicht genügt hat, ist der angefochtene Bescheid rechtswidrig. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des LSG zurückzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG5 RKnU 6/79
Bundessozialgericht
Verkündet am 28. Mai 1980
Fundstellen