Beteiligte
Kläger und Revisionsbeklagter |
Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger wegen Berufsunfähigkeit (BU) Leistungen aus der Arbeiterrentenversicherung (vorgezogenes Übergangsgeld bzw. Rente) zu gewähren sind. Umstritten ist dabei vor allem, ob der Kläger, der den tariflich und in Berufsordnungen nicht als Facharbeiterberuf ausgewiesenen Beruf des Lascher-Vormanns ausgeübt hat, aufgrund seiner tariflichen Einstufung als 2. Stauervize Berufsschutz wie ein Facharbeiter genießt.
Der am 5. Februar 1934 geborene Kläger war nach der Entlassung aus der Hauptschule von November 1949 bis Januar 1973 u.a. als Landarbeiter, Hüttenarbeiter, im Bergbau, als Klempnerhelfer, Arbeiter im Heizungs- und Rohrleitungsbau, Kraftfahrer im Baugewerbe, Schauermann und Raupenfahrer versicherungspflichtig beschäftigt. Ab Januar 1973 arbeitete er bei dem Unternehmen G. B. , Stauerei (G. B. Stauerei), in H. als Lascher und Schauermann. Entlohnt wurde er zunächst nach der Lohngruppe VI, ab Juli 1979 als Lascher-Vormann nach der Lohngruppe VII des Eingruppierungsvertrages für die Hafenarbeiter der deutschen Seehafenbetriebe. Am 19. Februar 1986 erlitt er einen Wegeunfall, bei dem er sich eine Verletzung des linken Kniegelenkes zuzog. Seither ist er arbeitsunfähig krank.
Der Antrag des Klägers auf Gewährung einer Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) bzw. BU wurde mit Bescheid der Beklagten vom 28. Oktober 1987 abgelehnt.
Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 28. Oktober 1987 verurteilt, dem Kläger unter Annahme des Eintrittes des Versicherungsfalles der BU am 4. August 1987 die ihm zustehenden Leistungen aus der Arbeiterrentenversicherung zu gewähren. Im übrigen hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger sei als Lascher-Vormann eingesetzt worden. Dem Kläger stehe voller Berufsschutz als Zimmerer und Lascher zur Seite. Mit dem festgestellten Leistungsvermögen sei er berufsunfähig. Der Kläger sei aber nicht erwerbsunfähig i.S. von § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO), da er mit Arbeiten des allgemeinen Tätigkeitsfeldes in jedem Fall einen Arbeitsverdienst erzielen könne, der über der Grenze der Geringfügigkeit liege.
Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) nach Beweisaufnahme zurückgewiesen (Urteil vom 12. September 1989).
Das LSG hat ausgeführt, die vom Kläger zuletzt ausgeübte und qualitativ am höchsten zu bewertende Tätigkeit sei die eines Lascher-Vormanns. Diese Tätigkeit sei in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters einzureihen. Diesen Beruf könne er nicht mehr ausüben, da er nur noch leichte körperliche Arbeiten mit Geh- und Stehphasen von nicht mehr als 15 Minuten verrichten dürfe.
Die Beklagte rügt mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision die unrichtige Anwendung des § 1246 Abs. 2 RVO und die Verletzung der §§ 128 Abs. 1, 128 Abs. 2 und § 136 Abs. 1 Ziff 6 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Das LSG habe zu Unrecht den Kläger innerhalb des vom Bundessozialgericht (BSG) entwickelten Mehrstufenschemas als Facharbeiter eingestuft.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 12. September 1989 und das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 15. August 1988 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Das LSG habe weder materielles Recht falsch ausgelegt noch gegen Prozeßrecht verstoßen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist nicht begründet.
Das LSG hat zu Recht entschieden, daß dem Kläger für die Zeit vom 1. September 1987 bis zum 20. März 1989 vorgezogenes Übergangsgeld und ab 19. April 1989 Rente wegen BU zu gewähren ist. Die Entscheidung des LSG verletzt weder die §§ 1246, 1241d RVO noch ist die Entscheidung unter Verletzung von Verfahrensvorschriften zustande gekommen.
Das LSG hat zutreffend - was auch von der Beklagten nicht bestritten wird - festgestellt, daß der bisherige und damit für den Anspruch auf Rente wegen BU maßgebende Beruf des Klägers derjenige des Lascher-Vormanns ist. Diese Berufstätigkeit kann der Kläger nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen nicht angegriffen und deshalb für den Senat bindend sind (§ 163 SGG), allein schon wegen der auf chirurgisch-orthopädischem Fachgebiet bestehenden Einschränkungen seines Leistungsvermögens nicht mehr ausüben, weil in diesem Beruf ganz überwiegend Arbeiten anfallen, die im Gehen und Stehen auszuführen sind.
Er kann aber nach den Feststellungen des LSG auch keine anderen zumutbaren Tätigkeiten verrichten, die ihm die gesetzliche Lohnhälfte sichern.
Für die Anwendung von § 1246 Abs. 2 RVO hat die Rechtsprechung des BSG ein Mehrstufenschema entwickelt, das die Arbeiterberufe nach verschiedenen Gruppen untergliedert, die jeweils durch Leitberufe charakterisiert sind. Das sind die Gruppen mit dem Leitberuf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw. des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters, des "angelernten" und schließlich des ungelernten Arbeiters. Grundsätzlich darf der Versicherte, der seinen bisherigen Beruf nicht mehr verrichten kann,
nur auf Tätigkeiten der jeweils niedrigeren Gruppe verwiesen werden. Denn das Gesetz sieht den Versicherten nicht schon dann als berufsunfähig an, wenn er den bisherigen Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann, sondern es verlangt, daß er, ausgehend von diesem Beruf, einen zumutbaren beruflichen Abstieg in Kauf nimmt. Erst wenn der Versicherte in diesem Sinne nicht auf eine zumutbare andere Tätigkeit verwiesen werden kann, ist er berufsunfähig.
Die og Einteilung der Berufsgruppen orientiert sich zunächst an dem in § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO besonders genannten Merkmal der "Dauer der Ausbildung". Um die daneben auch genannten Merkmale des "Umfangs der Ausbildung" und der "besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit" auch zu berücksichtigen, hat das BSG die Einteilung in Berufsgruppen nach der Ausbildungsdauer nicht als abschließend definiert. Es handelt sich vielmehr nur um Leitberufe für die einzelnen Gruppen.
In der Rechtsprechung des BSG sind der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters bisher im wesentlichen Tätigkeiten nach vier Merkmalen zugeordnet worden. Der Gruppe ist zunächst zuzuordnen, wer einen anerkannten Ausbildungsberuf i.S. von § 25 Berufsbildungsgesetz (BBiG) mit mehr als zweijähriger Ausbildung erlernt und bisher ausgeübt hat (vgl. z.B. BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 107, 109, 132, 140). Gleichgestellt ist derjenige Versicherte, der in einem nach dem BBiG anerkannten Ausbildungsberuf arbeitet, ohne die hierfür erforderliche Ausbildung durchlaufen zu haben, wenn neben der tariflichen Einstufung als Facharbeiter die Kenntnisse und Fertigkeiten in voller Breite denjenigen eines vergleichbaren Facharbeiters mit abgelegter Ausbildung entsprechen (vgl. z.B. BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 53, 61, 129, 150, 168). Verlangt wird, daß der Versicherte nicht nur eine seinem individuellen Arbeitsplatz entsprechende Arbeitsleistung erbringt, sondern auch über die für diesen Beruf erforderlichen praktischen Fähigkeiten und theoretischen Kenntnisse in dem Umfang verfügt, daß er mit ausgebildeten Arbeitnehmern gleichen Alters auf dem Arbeitsmarkt wettbewerbsfähig ist. Der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters sind ferner Versicherte zuzuordnen, die in Ausbildungsberufen ohne anerkannten Ausbildungsgang i.S. des § 25 BBiG tätig waren, wenn deren Tätigkeiten den anerkannten Ausbildungsberufen tarifvertraglich gleichgestellt sind (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 3, 16, 46, 99, 111, 116, 122, 123).
Schließlich sind auch Berufstätigkeiten, für die kein Ausbildungsgang im Sinne des BBiG besteht und die nicht als solche in einem Tarifvertrag einer Lohngruppe zugeordnet sind, als Facharbeitertätigkeiten einzustufen, wenn der Umfang der erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten und/oder die sonstigen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeiten den Anforderungen an einen Facharbeiter gleichzuachten sind; für diese Einordnung ist die tarifliche Einordnung ein wichtiger Anhaltspunkt, der im Zweifel ausschlaggebend, aber nicht ohne weiteres maßgeblich ist.
Der bisherige Beruf des Klägers als Lascher-Vormann gehört zur letztgenannten Gruppe. Weder der Lascher-Vormann noch der Hafenfacharbeiter noch der Lascher sind Ausbildungsberufe in dem genannten Sinne. Auch ist der Lascher-Vormann in dem für den Kläger maßgeblichen Tarifvertrag nicht als Tätigkeit aufgeführt. Die tarifvertraglich speziell bezeichnete Tätigkeit eines 2. Stauervize ist nicht identisch mit der des Lascher-Vormanns.
Zu Recht hat das LSG den Kläger aber nach den Merkmalen seiner Tätigkeit der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zugeordnet. Die Feststellungen des LSG für die von ihm getroffene Zuordnung sind ausreichend. Das LSG hat zunächst festgestellt, daß der Kläger wesentliche Teilbereiche der Arbeiten eines Hafenfacharbeiters verrichtet hat. Die gegen diese Feststellung gerichteten Verfahrensrügen der Beklagten sind unbegründet (§ 170 Abs. 2 SGG). Als Lascher-Vormann leitete der Kläger zudem aber darüber hinaus die Arbeit von Arbeitsgruppen von bis zu 25 Laschern. Deren Arbeiten hatte er in eigener Verantwortung einzuteilen. Bei seiner Arbeit unterstand er einem im Angestelltenverhältnis stehenden sogenannten Laschinspektor. Das BSG hat die Aufsichts- und Leitungsfunktion, die einem Vorarbeiter übertragen ist, als eigenständiges Qualifikationsmerkmal anerkannt. In der Regel mögen derartige Aufsichts- und Leitungsfunktionen nur Facharbeitern übertragen werden. Aus diesem Grunde ist deshalb bisher in der Rechtsprechung nur für Vorarbeiter, die zugleich Facharbeiter sind und Facharbeitern übergeordnet sind, eine besondere Berufsgruppe gebildet worden. Ebenso ist aber die besondere Qualifikation eines Arbeiters, der kein Facharbeiter ist, aber Leitungs- und Aufsichtsfunktionen wahrnimmt, bei der Zuordnung zu den Berufsgruppen zu berücksichtigen. Dies kann es rechtfertigen, einen Arbeitnehmer, der als Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion tätig ist, seinerseits aber nur angelernter Arbeiter ist und auch nur Angelernte zu leiten hat, in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters einzustufen. Die Entlohnung des Klägers nach der Lohngruppe VII des Lohntarifvertrages spricht für die Richtigkeit dieser Einstufung. Die Entlohnung hat in diesem Fall allerdings nicht die von der Rechtsprechung für die tarifliche Einstufung einer Berufstätigkeit angenommene Bedeutung, da die Berufstätigkeit als solche nicht tarifvertraglich eingestuft ist. Sie ist aber auch bei tariflich nicht geregelten Tätigkeiten ein wichtiger Anhalt, der erst dann unbeachtet bleiben muß, wenn der Umfang der Anforderungen an den Versicherten in seiner bisherigen Berufstätigkeit deutlich von denjenigen an einen Facharbeiter abweicht. Das ist hier nicht der Fall. Offen bleiben kann in diesem Zusammenhang, ob der "Hafenfacharbeiter" in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters im Sinne der Rechtsprechung einzuordnen ist, wovon das LSG ausgegangen ist. Zumindest ist es ein Anlernberuf. Außerdem fällt hier ins Gewicht, daß die Leitung von Arbeiten einer größeren Zahl fachlich vorgebildeter Personen und die damit verbundene Verantwortung den Kläger deutlich aus der Gruppe der Angelernten heraushebt.
Ausgehend von der Zuordnung zur Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters können nach den Feststellungen des LSG, die mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen nicht angegriffen und deshalb für den Senat bindend sind (§ 163 SGG), dem Kläger keine Verweisungstätigkeiten benannt werden, auf die sich der Kläger als Facharbeiter zumutbar verweisen lassen müßte und die seinem Leistungsvermögen entsprechen und ihn wissens- und könnensmäßig nicht überfordern. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente (vgl. § 1246 Abs. 1, Abs. 2a, Abs. 3 RVO) liegen nach den Feststellungen des LSG ebenfalls vor.
Der Anspruch auf vorgezogenes Übergangsgeld für die Zeit vom 1. September 1987 bis 20. März 1989 ergibt sich aus § 1241d Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 RVO.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen