Leitsatz (amtlich)
Die Berufung betrifft die Höhe der Leistung der Arbeitslosenversicherung oder der Arbeitslosenhilfe, soweit darüber zu entscheiden ist, ob Familienzuschläge für Stiefkinder beansprucht werden können, wenn sie von anderen Unterhaltspflichtigen unterhalten werden (AVAVG § 89 Abs 6 Nr 3 Fassung: 1957-07-27).
Leitsatz (redaktionell)
Gegen das Verbot der reformatio in peius verstößt es nicht, wenn das Revisionsgericht auf die Revision des Revisionsklägers dessen Berufung, die das LSG als unbegründet zurückgewiesen hatte, als unzulässig verwirft, weil sie nicht statthaft war.
Normenkette
AVAVG § 89 Abs. 6 Nr. 3 Fassung: 1957-07-27; SGG § 147 Fassung: 1958-06-25
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 20. Oktober 1958 wird aufgehoben. Die Berufung der Beklagten wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Klägerin beantragte am 22. März 1957 Arbeitslosengeld (Alg.). Nach den Angaben im Unterstützungsantrag befanden sich im gemeinsamen Haushalt außer dem Ehemann ihr Sohn T und zwei Stiefkinder. Das Arbeitsamt (ArbA) bewilligte durch Bescheid vom 1. April 1957 den Hauptbetrag des Alg., entschied aber nicht über den Anspruch auf Familienzuschläge. Am 8. November 1957 beantragte die Klägerin ausdrücklich die Familienzuschläge für ihren Sohn und die beiden Stiefkinder. Die Beklagte bewilligte darauf am 19. November 1957 nachträglich den Familienzuschlag für den Sohn T, entschied aber nicht über die Familienzuschläge für die Stiefkinder. Mit Schreiben vom 24. November 1957 verlangte die Klägerin erneut diese Zuschläge. Dieses Schreiben wurde als Widerspruch behandelt, der Widerspruch aber durch Bescheid vom 13. Februar 1958 zurückgewiesen. Auf die Klage hob das Sozialgericht (SG) Hamburg den Widerspruchsbescheid auf, änderte die Verfügung vom 19. November 1957 und verurteilte die Beklagte, der Klägerin Familienzuschläge auch für die Stiefkinder zu zahlen.
Die Beklagte legte am 4. Juli 1958 Berufung ein. Sie trug vor, für die Stiefkinder könnten die Familienzuschläge nicht beansprucht werden, weil der unterhaltspflichtige Vater so viel verdient habe, daß er deren Unterhalt habe bestreiten können. Verfahrensmängel wurden nicht gerügt. Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg wies die Berufung durch Urteil vom 20. Oktober 1958 zurück. Da sich der Unterstützungsantrag vom 22. März 1957 auch auf die Familienzuschläge für die Stiefkinder erstreckt habe, über diesen Anspruch aber nicht durch Verwaltungsakt entschieden worden sei, habe nicht eine Aufhebungsklage verbunden mit einer Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), sondern eine Klage auf Verurteilung zum Erlaß des begehrten Verwaltungsakts vorgelegen (§§ 54 Abs. 1, 88 Abs. 1 Satz 1 SGG). Die Berufung sei statthaft, da sie nicht bloß die Höhe der Leistung, sondern einen selbständigen, besonderen gesetzlichen Voraussetzungen unterliegenden Teil des gesamten Anspruchs auf Alg. betreffe. Der Anspruch der Klägerin sei auch begründet. Die Stiefkinder seien Angehörige im Sinne des § 89 Abs. 1 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) in der Fassung vom 3. April 1957 (§ 89 Abs. 2 Nr. 2). Die Klägerin habe ihnen auf Grund einer sittlichen Pflicht bis zum Eintritt der Arbeitslosigkeit nicht nur vorübergehend und nicht nur geringfügig Unterhalt gewährt (§ 89 Abs. 3 Nr. 2); diese Verpflichtung hätte auch während der Arbeitslosigkeit im Falle der Leistungsfähigkeit bestanden. Die Stiefkinder hätten ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenen Kräften und Mitteln beschaffen (§ 89 Abs. 6 Nr. 1) noch von dem unterhaltspflichtigen Vater unterhalten werden können (§ 89 Abs. 6 Nr. 3 AVAVG i.d.F. vor dem Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderung des AVAVG vom 7.12.1959 - BGBl. I S. 705 -). Das LSG ließ die Revision zu.
Die Beklagte legte gegen das Urteil, das ihr am 8. Januar 1959 zugestellt wurde, am 31. Januar 1959 Revision ein. Sie beantragte,
das Urteil des LSG und das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen; hilfsweise, die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Am 24. Februar 1959 begründete sie die Revision: Die Klage sei nicht als Untätigkeitsklage anzusehen. Das Arbeitsamt hätte auf den Antrag vom 22. März 1957 auch über die Familienzuschläge für die Stiefkinder entscheiden müssen. Die "Nichtbewilligung" sei als "Teilablehnung des Alg." aufzufassen. Die Klägerin habe diese noch innerhalb eines Jahres anfechten können, da sie über die Rechtsbehelfe nicht belehrt worden sei. Betrachtete aber das LSG die Klage als Untätigkeitsklage, so hätte es zu der Klageänderung das Einverständnis der Beklagten einholen oder über die Sachdienlichkeit der Änderung befinden, jedenfalls aber die Beklagte hören müssen. Sachlich-rechtlich rügte die Beklagte, das LSG habe zu Unrecht die Voraussetzungen des § 89 Abs. 6 Nr. 3 AVAVG a.F. verneint. Das Einkommen des unterhaltspflichtigen Vaters sei so hoch gewesen, daß er nach den Richtlinien des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BfArb.) vom 13. Mai 1957 daraus den Unterhalt der Kinder aus seiner ersten Ehe in der strittigen Zeit habe bestreiten können.
Die Klägerin beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und zulässig. Sie ist auch begründet.
Da die Zulässigkeit der Berufung eine Voraussetzung ist, von der das gesamte Verfahren nach Einlegung der Berufung und damit auch die Rechtswirksamkeit des Revisionsverfahrens abhängt, ist in einer statthaften Revision von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung der Beklagten statthaft gewesen ist und das LSG in der Sache selbst hat entscheiden dürfen (BSG 1 S. 227 ff., 2 S. 225, 226, 245 ff.). Dies ist nicht der Fall.
Die Beklagte hat die Berufung am 4. Juli 1958 eingelegt. Das Zweite Gesetz zur Änderung des SGG vom 25. Juni 1958 (BGBl. I S. 409) war am 1. Juli 1958 in Kraft getreten. Die Frage, ob die Berufung statthaft ist, war daher nach den §§ 143 ff. SGG n.F. zu beurteilen (BSG 8 S. 135; Urteil des BSG vom 10.12.1958, SozR SGG § 143 Bl. Da 2 Nr. 3). Nach § 147 SGG n.F. ist in Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe die Berufung nicht statthaft, soweit sie Beginn und Höhe der Leistung betrifft. Maßgebend ist nicht der Inhalt des Urteils des SG, sondern der Gegenstand der Berufung. Die Beklagte hat Berufung eingelegt, soweit sie verurteilt wurde, der Klägerin zu dem Hauptbetrag des Alg. Familienzuschläge auch für die Stiefkinder zu zahlen. Sie ist der Auffassung, insoweit habe ein Anspruch nicht bestanden, da diese Angehörigen von dem unterhaltspflichtigen Vater unterhalten werden konnten. Ziel der Berufung war, diese Belastung zu beseitigen und eine Entscheidung darüber zu erwirken, ob der Klägerin zu dem Hauptbetrag des Alg. Familienzuschläge auch für ihre Stiefkinder gewährt werden könnten. Streitig war nicht, daß die Stiefkinder zu den Angehörigen im Sinne des § 89 Abs. 1 AVAVG gehören (§ 89 Abs. 2 Nr. 2). Angefochten war auch nicht die Feststellung, daß die Klägerin ihren Stiefkindern auf Grund einer sittlichen Pflicht bis zum Eintritt der Arbeitslosigkeit nicht nur vorübergehenden und nicht nur geringfügigen Unterhalt gewährt hat und ihn während der Arbeitslosigkeit im Falle der Leistungsfähigkeit zu gewähren hätte (§ 89 Abs. 3 Nr. 1 und 2. Halbs. AVAVG). Zweifelhaft war vielmehr, ob der Anspruch auf Familienzuschläge für die Stiefkinder ausgeschlossen war, weil sie während der Arbeitslosigkeit der Klägerin von dem unterhaltspflichtigen Vater unterhalten werden konnten (§ 89 Abs. 6 Nr. 3 AVAVG a.F.). Dieser Streit betrifft aber die Höhe des Alg. Das Alg. ist eine Leistung der Arbeitslosenversicherung. Es besteht aus dem Hauptbetrag und den Familienzuschlägen für Angehörige des Arbeitslosen (§ 89 Abs. 1 AVAVG). Die Familienzuschläge sind wie der Hauptbetrag Bestandteil des Alg. Sie sind akzessorischer Natur, abhängig von dem Anspruch auf den Hauptbetrag und können nicht für sich allein beantragt oder bewilligt werden. Zwar gelten für die Familienzuschläge besondere Voraussetzungen; dies berührt aber nicht ihren Charakter als Zuschläge zu dem Hauptbetrag des Alg. Dieses erhöht sich, soweit Familienzuschläge für Angehörige des Arbeitslosen zu zahlen sind. Um die Höhe des Alg. geht es daher, wenn darüber zu entscheiden ist, ob ein Anspruch auf Familienzuschläge für Stiefkinder besteht, wenn sie von anderen Unterhaltspflichtigen, in diesem Falle dem Vater, unterhalten werden. Dieser Streit betrifft ebenso die Höhe der Leistung wie den Streit darüber, ob der Familienzuschlag gewährt werden kann, wenn der Angehörige seinen Lebensunterhalt aus eigenen Kräften und Mitteln beschaffen kann (§ 89 Abs. 6 Nr. 1 AVAVG). Für diesen Fall hat der Senat bereits entschieden, es handele sich um einen Streit über die Höhe der Leistung, der die Berufung nach § 147 SGG ausschließt (Urteil vom 10.7.1959, SozR SGG § 147 Bl. Da 3 Nr. 6).
Die Berufung der Beklagten war daher nach § 147 SGG nicht statthaft. Mängel im Verfahren des SG, welche die Berufung nach § 150 Nr. 2 SGG statthaft machen könnten, sind nicht gerügt. Das LSG hätte sie deshalb als unzulässig verwerfen müssen und nicht in der Sache selbst entscheiden dürfen (§§ 147, 158 SGG). Sein Urteil war daher aufzuheben. Gleichzeitig war die Berufung der Beklagten als unzulässig zu verwerfen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Gegen das Verbot der reformatio in peius verstößt es nicht, wenn Rechtsfolgen auszusprechen sind, die sich zwangsläufig ergeben, wenn eine Prozeßvoraussetzung fehlt (BSG 2 S. 225). Die Beklagte wird auch nicht schlechter gestellt, wenn ihre Berufung verworfen statt zurückgewiesen wird.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen