Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensfehler. Voraussetzung. Grundurteil. hinreichende Feststellungen zum Vorliegen des Anspruchs wenigstens in einer Mindesthöhe
Orientierungssatz
Voraussetzung für den Erlass eines Grundurteils ist, dass der Anspruch wenigstens in einer Mindesthöhe gegeben ist, wobei es genügt, wenn das Gericht diesen Anspruch als wahrscheinlich erachtet; sind hinsichtlich der wahrscheinlichen Mindesthöhe keine ausreichenden Feststellungen getroffen, so leidet das Verfahren an einem wesentlichen Mangel.
Normenkette
SGG § 130 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 22.06.1960) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 22. Juni 1960 dahin abgeändert, daß der Beklagte verurteilt wird, dem Kläger einen neuen Bescheid über seinen Antrag auf Gewährung von Ausgleichsrente vom 5. März 1958 zu erteilen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger bezieht wegen Verlustes des linken Armes auf Grund des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v.H. Nachdem er zum Jahresende 1956 sein Gewerbe als Viehhändler abgemeldet hatte, beantragte er am 5. März 1958 die Gewährung von Ausgleichsrente und Pflegezulage. Der Anspruch auf Pflegezulage und der mit der Klage erhobene weitere Anspruch auf Erhöhung der Rente sind abgelehnt worden. Widerspruch, Klage und Berufung blieben insoweit erfolglos. Revision hat der Kläger hiergegen nicht eingelegt.
Auf den Antrag auf Gewährung von Ausgleichsrente berechnete das Versorgungsamt (VersorgA) das Einkommen des Klägers aus seiner Landwirtschaft von 7,23 ha Eigenland mit einem Einheitswert von 10.600,-- DM und lehnte durch Bescheid vom 1. April 1958 den Antrag ab, weil das sonstige Einkommen des Klägers aus seinem landwirtschaftlichen Anwesen monatlich 177.-- DM betrage und die Einkommensgrenze von 155.-- DM überschreite. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos. Dieser Bescheid ist durch den vom 24. Februar 1959 berichtigt worden, das sonstige Einkommen mit 123,90 DM monatlich berechnet, aber die Gewährung von Ausgleichsrente weiterhin abgelehnt worden, weil der bewirtschaftete Betrieb einen Einheitswert von mehr als 10.000.-- DM habe und der Lebensunterhalt des Klägers als sichergestellt anzusehen sei; besondere Verhältnisse, die die Gewährung von Ausgleichsrente rechtfertigten, seien nicht vorgebracht worden.
Die Klage blieb erfolglos (Urteil vom 18. Juni 1959), weil der Lebensunterhalt des Klägers im Sinne von § 32 Abs. 1 BVG im Hinblick auf seinen landwirtschaftlichen Betrieb mit einem Einheitswert von 10.600.-- DM als auf andere Weise sichergestellt anzusehen sei. Auf die Berufung des Klägers stellte das Landessozialgericht (LSG) Ermittlungen beim zuständigen Finanzamt und der Kreislandwirtschaftsbehörde über die Einkünfte aus dem Betriebe an; in der mündlichen Verhandlung machte der Kläger hierüber weitere Angaben, die im Tatbestand des angefochtenen Urteils wiedergegeben sind.
Er beantragte, den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts (SG) sowie der Bescheide vom 1. April 1958, 28. November 1958 (Widerspruchsbescheid) und 24. Februar 1959 zu verurteilen, ihm mit einem neuen Bescheid ab 1. März 1958 Grund- und Ausgleichsrente nach einer MdE um 100 v.H. sowie eine Pflegezulage zu gewähren. Durch das angefochtene Urteil hat das Landessozialgericht (LSG) unter Zurückweisung der Berufung im übrigen in Abänderung der genannten Bescheide den Beklagten verurteilt, dem Kläger mit einem neuen Bescheid ab 1. März 1958 Ausgleichsrente zu gewähren. Es hat die Erhöhung der Rente und die Gewährung von Pflegezulage für nicht begründet erachtet, dagegen den Rechtsstreit hinsichtlich der Gewährung von Ausgleichsrente insoweit für spruchreif angesehen, als der Lebensunterhalt des Klägers nicht auf andere Weise sichergestellt und deshalb der Anspruch auf Gewährung von Ausgleichsrente begründet sei, diese aber ihrer Höhe nach noch nicht festgestellt werden könne. Das Berufungsgericht ist der Ansicht gewesen, das VersorgA habe die Gewährung der Ausgleichsrente zu Unrecht dem Grunde nach abgelehnt, ohne die Rentenvoraussetzungen in bezug auf die Höhe im einzelnen zu prüfen. Wenn das Gericht diese Prüfung vornehme, so würde dies dem Grundsatz der Trennung der Gewalten widersprechen. Der Kläger habe auch nur eine Verpflichtungs-, nicht aber eine Leistungsklage hinsichtlich der Ausgleichsrente erhoben, deshalb habe der Beklagte verpflichtet werden müssen, dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen. Die Revision ist nicht zugelassen worden.
Der Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG Schleswig vom 22. Juni 1960 abzuändern und die Klage in vollem Umfange abzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Schleswig zurückzuverweisen.
Er rügt mit näherer Begründung eine unzureichende Sachaufklärung und eine Überschreitung der Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung, weil das LSG ausweislich des Tenors ein Leistungs- und kein Verpflichtungsurteil erlassen habe, die von ihm getroffenen Feststellungen aber für ein Leistungsurteil nicht ausreichend seien.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die Revision ist vom LSG nicht zugelassen (§ 161 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Sie findet aber statt, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird und vorliegt (BSG 1, 150).
Der Streit geht nur noch um die Gewährung von Ausgleichsrente. Die übrigen Anträge des Klägers auf Erhöhung der Rente und auf Gewährung von Pflegezulage sind von der Verwaltung und den Vorinstanzen als unbegründet bezeichnet und seine Berufung insoweit zurückgewiesen worden. Gegen das Urteil des LSG hat der Kläger selbst keine Revision eingelegt, so daß die angefochtene Entscheidung hinsichtlich dieses Klagebegehrens rechtskräftig ist.
Die Revision des Beklagten richtet sich gegen den Teil des Urteils, der über den selbständigen Anspruch auf Gewährung von Ausgleichsrente entschieden hat. Das LSG konnte hinsichtlich dieses Anspruchs ohne Rechtsverstoß annehmen, daß der Kläger keine Leistungs-, sondern eine Verpflichtungsklage erhoben hat; denn das VersorgA hat seinen Antrag nur auf Grund der Berechnungsunterlagen in den Verwaltungsvorschriften abgelehnt, ohne zu prüfen und zu entscheiden, welche Einkünfte der Kläger tatsächlich gehabt hat und ob dieses tatsächliche Einkommen oder ein anderweit berechnetes zu Grunde gelegt werden müßte - etwa weil der Kläger Vermögenswerte weggegeben hätte und deshalb nicht in den Genuß der Ausgleichsrente kommen könnte. Wenn das BSG angenommen hat, eine Verurteilung zur Leistung sei wegen der Besonderheiten einer Verpflichtungsklage und des Grundsatzes der Gewaltenteilung nicht möglich, so ist dies frei von Rechtsirrtum und ist mit der Revision auch nicht angegriffen worden. Zu Recht aber hat die Revision bemängelt, daß der Urteilsausspruch folgenden Erwägungen in den Urteilsgründen nicht Rechnung getragen habe:
"... Es handelt sich im vorliegenden Falle um eine Verpflichtungsklage, nicht aber um eine Leistungsklage. Hinsichtlich der Verurteilung des Beklagten zur Erteilung eines neuen Bescheides war der Rechtsstreit zur Entscheidung reif ..."
Der Urteilsausspruch stellt ein Grundurteil dar. Zwar können die Urteilsgründe für die Auslegung des Urteilstenors herangezogen werden (BSG 4, 123; 3, 137 f). Dies gilt jedoch nur, soweit sie von der Urteilsformel erfaßt werden (BSG 9, 17, 21). Hier aber ist der Urteilstenor eindeutig. "Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ...... ab 1. März 1958 Ausgleichsrente zu gewähren." Der Zusatz "mit einem neuen Bescheid" besagt nichts dafür, daß der Beklagte nur zur Erteilung eines neuen Bescheides verurteilt werden sollte. Ebenso sind die Ausführungen im angefochtenen Urteil:
"Hieraus ergibt sich die in der Urteilsformel ausgesprochene Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung eines neuen Bescheides über die Gewährung von Ausgleichsrente."
bei der klaren Fassung des Urteilsausspruchs ohne Bedeutung. Denn die Art der Leistung, nämlich Ausgleichsrente, und ihr Beginn, der 1. März 1958, sind eindeutig bestimmt. Auch das Wort "gewähren" spricht für eine Verurteilung zur Leistung und nicht für eine Verpflichtung zur Erteilung eines neuen Bescheides. Der Urteilstenor ist jedoch hinsichtlich der Höhe nicht bestimmt und ist insoweit unvollständig. Diese Lücke im Urteilstenor können die Urteilsgründe nicht ausfüllen, weil sie über die Höhe der Ausgleichsrente nichts besagen, vielmehr die Feststellungen der Höhe dem VersorgA übertragen. Das Urteil muß deshalb als ein Grundurteil angesehen werden, das auch in der Sozialgerichtsbarkeit möglich ist (§ 130 SGG; vgl. BSG in SozR SGG § 130 Bl. Da 1 und 2 Nr. 1 und 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG in SozR SGG § 130 Bl. Da 3 Nr. 3 und Bl. Da 4 Nr. 4) ist Voraussetzung für den Erlaß eines Grundurteils, daß der Anspruch wenigstens in einer Mindesthöhe gegeben ist, wobei es genügt, wenn das Gericht diesen Anspruch als wahrscheinlich erachtet; sind hinsichtlich der wahrscheinlichen Mindesthöhe keine ausreichenden Feststellungen getroffen, so leidet das Verfahren an einem wesentlichen Mangel. Wie der Beklagte zu Recht gerügt hat, hat das LSG über die Mindesthöhe der Ausgleichsrente keine Feststellungen getroffen. Es hat zwar auf S. 11 des Urteils ausgeführt, daß sich nach der Berechnung des Beklagten vom 17. März 1958 ein abgerundetes Einkommen des Klägers von 123.-- DM monatlich ergebe und daß dieser Betrag die Einkommensgrenze von 155.-- DM monatlich um mehr als 30.-- DM unterschreite. Auf S. 12 des Urteils hat das LSG dann aber diese Berechnung angezweifelt. Nach den weiteren Ausführungen im angefochtenen Urteil ist es wegen der Mietentschädigung, welche der Sohn zu zahlen haben dürfte, sogar nicht ausgeschlossen, daß Ausgleichsrente überhaupt nicht gezahlt werden könnte. Infolgedessen durfte ein Grundurteil nicht ergehen. Der gerügte Mangel des Verfahrens liegt also vor, so daß die Revision statthaft ist. Das Rechtsmittel ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, so daß es zulässig ist.
Es ist auch begründet.
Die Feststellungen des LSG reichen für den Erlaß eines Grundurteils - wie bereits dargelegt - nicht aus. Die angefochtene Entscheidung konnte infolgedessen nicht aufrechterhalten werden. Der Streitfall ist aber hinsichtlich einer Entscheidung über die Verpflichtungsklage, die der Kläger wegen der in der Revisionsinstanz allein noch streitigen Ausgleichsrente ausweislich seiner Anträge im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG vom 22. Juni 1960 erhoben hatte, entscheidungsreif. Insoweit sind die Ausführungen des LSG zutreffend, insbesondere ist es frei von Rechtsirrtum, daß der Versorgungsverwaltung Gelegenheit gegeben werden soll, das sonstige Einkommen des Klägers und die Frage erneut zu prüfen, ob sein Lebensunterhalt durch die Erträge aus seinem landwirtschaftlichen Anwesen sichergestellt ist. Der Senat hat daher gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 SGG insoweit die angefochtene Entscheidung abgeändert. Trotz des Revisionsantrags hat er keinen Anlaß gesehen, den Rechtsstreit gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an die Vorinstanz zurückzuverweisen; denn nach §§ 165, 153 Abs. 1, 123 SGG entscheidet das Gericht über die erhobenen Ansprüche, ohne an die gestellten Anträge gebunden zu sein. Zu einer - vom Beklagten außerdem beantragten - Aussetzung der Vollstreckung aus dem angefochtenen Urteil bestand hier schon deshalb kein Anlaß, weil die Verpflichtungsklage des Klägers begründet und die Gewährung von Ausgleichsrente in einer bestimmten Höhe im angefochtenen Urteil nicht ausgesprochen war.
Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG erfüllt waren, konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen