Orientierungssatz

Das AllgAbk Frankreich SozSich ist mit dem 1958-12-31 außer Kraft getreten; an seine Stelle ist materiellrechtlich im wesentlichen die EWG-V 3 vom 1958-09-25, ergänzt durch die EWG-V 4 vom 1958-12-03, getreten.

Der Wortlaut des EWGV Art 177 und der Sinn und Zweck dieser Vorschrift zwingen nicht zu der Auffassung, das in allen Fällen, in denen von einem einzelstaatlichen Gericht letzter Instanz Gemeinschaftsrecht "auszulegen" ist, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofes einzuholen sei; der Senat hält die Auffassung für zutreffend, daß eine Vorlagepflicht entfällt, soweit Gültigkeit und Auslegung einer Norm dem Gericht, von dem zu entscheiden ist, nicht zweifelhaft erscheinen; die Entscheidung des Gerichts kann in solchen Fällen die Einheit des Gemeinschaftsrechts nicht gefährden.

Der Beschluß Nr 4 der Verwaltungskommission vom 1959-04-24 hält sich im Rahmen der Ermächtigung der EWG-V 3 Art 43, er regelt die "Übergangsfälle" der vorliegenden Art eindeutig und steht mit EWG-V 3 Art 53, der den zeitlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung betrifft, nicht im Widerspruch.

 

Normenkette

AVG § 45 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1268 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; EWGVtr Art. 177; EWGV 3 Art. 53, 43; EWGV 4

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landessozialgerichtes Baden-Württemberg vom 24. September 1963, das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 14. März 1962 und der Bescheid der Beklagten vom 30. Januar 1961 aufgehoben.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten aller Instanzen zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Ehemann der Klägerin, H L (L.), geboren ... 1911, starb am 24. Mai 1958. Er hatte Versicherungszeiten in Deutschland in der Invalidenversicherung und Angestelltenversicherung sowie ab 1947 in Frankreich bei dem französischen Versicherungsträger zurückgelegt. Am 30. Mai 1958 beantragte die Klägerin für sich und ihre beiden damals minderjährigen Kinder bei der Beklagten unter Hinweis auf die deutschen und französischen Versicherungszeiten Hinterbliebenenrente. Diese Renten bewilligte die Beklagte mit Bescheiden vom 6. Januar 1959; sie berechnete die Renten - nach den Vorschriften des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) - nur aus den deutschen Versicherungszeiten und stellte die Rente der Klägerin ab 1. Mai 1958 auf monatlich 186,40 DM fest; die Rente wurde später mehrfach erhöht. Die Klägerin verlangte von der Beklagten wiederholt die Berücksichtigung auch der französischen Versicherungszeiten. Im Juli 1960 stellte der französische Versicherungsträger die Rente der Klägerin vom 25. Mai 1958 an fest, und zwar für die Zeit bis 31. Dezember 1958 nach dem Allgemeinen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich über die Soziale Sicherheit vom 10. Juli 1950 (BGBl II 1951, 177 ff), ab 1. Januar 1959 nach den zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Verordnungen Nr. 3 und Nr. 4 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer; ab 1. Januar 1959 betrug die französische "Verhältnisrente" jährlich 375,- NF = 26,50 DM monatlich, sie wurde später erhöht. Mit Bescheid vom 30. Januar 1961 stellte auch die Beklagte die Rente der Klägerin ab 1. Januar 1959 nach den EWG-Verordnungen Nr. 3 und Nr. 4 fest, und zwar im Verhältnis der deutschen Versicherungszeiten (ohne Berücksichtigung einer Zurechnungszeit von 98 Monaten, die in dem Bescheid vom 6. Januar 1959 angerechnet worden war) von 244 Monaten zu einer Gesamtversicherungszeit - also einschließlich der französischen Versicherungszeit von 114 Monaten - von 358 Monaten mit der Verhältniszahl 0,6815 auf 162,20 DM monatlich, sonach niedriger als in dem Bescheid vom 6. Januar 1959; auch dieser Betrag wurde später mehrfach erhöht. Den Bescheid vom 6. Januar 1959 hob die Beklagte auf; die seit 1. Januar 1959 nach diesem Bescheid gezahlten höheren Beträge wurden mit einem Teil der sich aus der französischen Rentenberechnung ergebenden Nachzahlung "verrechnet". Am 31. Mai 1966 teilte die Beklagte mit, sie sehe nunmehr von dieser Verrechnung ab und werde den bisher abgezogenen Betrag von 681,90 DM an die Klägerin auszahlen.

Mit der Klage wandte sich die Klägerin gegen die Kürzung der in dem Bescheid vom 6. Januar 1959 gewährten - deutschen - Rente (und gegen die nun nicht mehr streitige "Verrechnung" des Betrags von 681,90 DM). Das Sozialgericht (SG) Freiburg wies die Klage ab (Urteil vom 14. März 1962). Die Berufung der Klägerin wies das Landessozialgericht (LSG) zurück (Urteil vom 24. September 1963): Streitig sei nur die Berechnung der Rente für die Zeit ab 1. Januar 1959; von diesem Zeitpunkt an habe die Klägerin nach dem Beschluß Nr. 4 der Verwaltungskommission der EWG für die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer vom 24. April 1959 nicht mehr - wie für die Zeit bis 31. Dezember 1958 auf Grund des von ihr ausgeübten Wahlrechts nach dem deutsch-französischen Sozialversicherungsabkommen - die deutsche "innerstaatliche" Rente in voller Höhe, also wie in dem Bescheid vom 6. Januar 1959, beanspruchen können, da die Feststellung der deutschen und der französischen "Teilrenten" (Verhältnisrenten) erst nach dem 1. Januar 1959 erfolgt sei. Der neuen, niedrigeren Feststellung der deutschen Rente stehe die Bindungswirkung des Bescheides vom 6. Januar 1959 nicht entgegen; da die Klägerin Leistungen von beiden Versicherungsträgern begehrt habe, habe sie sich nach Art. 28 Abs. 1 der EWG-Verordnung Nr. 3 der Berechnungsart nach den EWG-Verordnungen Nr. 3 und 4 unterworfen; dem Bescheid vom 30. Januar 1961 liege auch ein anderer Sachverhalt zugrunde; überdies sei im vorliegenden Fall die Summe der von beiden Versicherungsträgern gezahlten "Teilrenten" jeweils, wenn auch nur geringfügig, höher als die im Bescheid vom 6. Januar 1959 festgestellte und durch spätere Bescheide erhöhte Rente; die Neuberechnung der Rente verletze deshalb weder Art. 14 Abs. 3 des Grundgesetzes - GG - (Eigentumsgarantie) noch Art. 2 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG (Prinzip der Rechts- und Sozialstaatlichkeit); es verstoße auch nicht gegen Art. 3 GG (Gleichheitssatz), wenn die Klägerin die ihr günstigere Regelung nach dem deutsch-französischen Sozialversicherungsabkommen für die Zeit vom 1. Januar 1959 an nur deshalb nicht mehr für sich in Anspruch nehmen könne, weil die Leistungen erst nach diesem Stichtag festgestellt worden seien. Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil wurde der Klägerin am 7. November 1963 zugestellt.

Am 4. Dezember 1963 legte die Klägerin Revision ein, sie beantragte,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin neben der nachträglich bewilligten französischen Rente auch über den 31. Dezember 1958 hinaus die ungekürzte, nach den Vorschriften des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes berechnete Rente zu gewähren.

Zur Begründung trug sie vor: Der Versicherungsfall sei am 24. Mai 1958 eingetreten. Damals habe noch das deutschfranzösische Sozialversicherungsabkommen gegolten. Nach Art. 15 § 1 Satz 1 dieses Abkommens habe ein Berechtigter im Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs auf die Rechte aus Art. 13 des Abkommens verzichten können, dies habe die Klägerin getan; nach Art. 15 § 1 Satz 2 habe sie damit von jedem der beiden Versicherungsträger die Leistungen nach dessen innerstaatlicher Gesetzgebung zu beanspruchen; die EWG-Verordnungen Nr. 3 und Nr. 4 seien nicht anzuwenden, sie seien erst am 1. Januar 1959, also nach dem Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs der Klägerin, in Kraft getreten und hätten allenfalls auf besonderen Antrag (Art. 53 der EWG-Verordnung Nr. 3) für die Klägerin wirksam werden können. Aus Art. 53 Abs. 4 der EWG-Verordnung Nr. 3 ergebe sich auch, daß grundsätzlich die Berechtigten durch die EWG-Verordnungen Nr. 3 und Nr. 4 hätten bessergestellt werden sollen als nach dem deutsch-französischen Sozialversicherungsabkommen; die Klägerin sei aber durch diese Verordnungen schlechtergestellt. Der niedrigeren Feststellung der Rente für die Zeit vom 1. Januar 1959 an in dem Bescheid vom 30. Januar 1961 stehe die Bindungswirkung des Bescheides vom 6. Januar 1959 entgegen. Schließlich verstoße die Regelung in dem Bescheid vom 30. Januar 1961 gegen Art. 3 GG, weil der Klägerin die anderen Versicherten erhaltenen Rechte aus dem deutsch-französischen Sozialversicherungsabkommen entzogen worden seien, und sie verletze das Prinzip der Rechts- und Sozialstaatlichkeit, weil sie die Klägerin benachteilige.

Die Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden.

II

Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist in dem Umfang, in dem die Beklagte die Klägerin inzwischen nicht schon klaglos gestellt hat, auch begründet.

Die Klägerin hat die Witwenrente im Mai 1958 beantragt. Ansprüche aus den deutschen und den französischen Versicherungszeiten waren zur Zeit der Antragstellung nach dem am 1. Januar 1952 in Kraft getretenen Allgemeinen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich über die Soziale Sicherheit vom 10. Juli 1950 - deutsch-französisches Sozialversicherungsabkommen - zu beurteilen (BGBl 1951 II 177 ff; 1952 II 437). Nach Art. 13 §§ 1, 5 des Abkommens waren bei der Feststellung der hier streitigen Hinterbliebenenrente die in der Bundesrepublik und in Frankreich zurückgelegten Beitragszeiten des Versicherten (und gleichstehende Ersatzzeiten), soweit sie sich nicht deckten, zusammenzurechnen. In Art. 13 § 3 des Abkommens war bestimmt, wie die Leistungen, auf die ein Versicherter und seine Hinterbliebenen Anspruch hatten, vom Versicherungsträger jedes vertragschließenden Landes zu ermitteln waren; grundsätzlich hatte jeder Versicherungsträger der vertragschließenden Länder den Betrag der Leistungen zu bestimmen, auf die der Versicherte oder Hinterbliebene Anspruch hätte, wenn alle zusammengerechneten Versicherungszeiten ausschließlich nach seiner eigenen Gesetzgebung zurückgelegt worden wären ("Zunächstberechnung"), er setzte dann den Betrag der Leistungen fest, der im Verhältnis zu der Dauer der nach seiner innerstaatlichen Gesetzgebung zurückgelegten Versicherungszeit geschuldet wurde ("pro-rata-temporis-Verfahren"). Nach Art. 15 § 1 des Abkommens konnte aber jeder Berechtigte in dem Zeitpunkt, in dem ein Rentenanspruch entstand, auf die Rechte aus Art. 13 des Abkommens verzichten ("Wahlrecht"), die Leistungen, die er nach Maßgabe jeder innerstaatlichen Gesetzgebung beanspruchen konnte, wurden alsdann getrennt von den beteiligten Versicherungsträgern gewährt. Das deutsch-französische Sozialversicherungsabkommen ist mit dem 31. Dezember 1958 außer Kraft getreten; an seine Stelle ist materiell-rechtlich im wesentlichen die Verordnung des Rats der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (EWG-Verordnung Nr. 3) vom 25. September 1958, ergänzt durch die EWG-Verordnung Nr. 4 vom 3. Dezember 1958, getreten (beide Verordnungen sind veröffentlicht im Amtsblatt der EWG 1958, 561 ff; im BGBl II 1959, 473 ff, im BArbBl 1959, 265 ff). Beide Verordnungen sind im wesentlichen am 1. Januar 1959 in Kraft getreten (Art. 56 der Verordnung Nr. 3, abgeändert durch Art. 88 der Verordnung Nr. 4). Sie sind Gesetze im materiellen und formellen Sinn und gelten als gemeinsames Recht der Mitgliedstaaten der EWG unmittelbar in jedem Mitgliedstaat; soweit nicht ausdrücklich anderes bestimmt ist, sind sie an die Stelle u. a. der "bilateralen" Abkommen über Soziale Sicherheit und der hierzu ergangenen Durchführungsvereinbarungen getreten (Art. 5 Buchst. a der EWG-Verordnung Nr. 3, Art. 6 der EWG-Verordnung Nr. 4). Für die Berechnung von Renten im Fall des Alters und des Todes bestimmt Art. 27 Abs. 1 der EWG-Verordnung Nr. 3 - ebenso wie Art. 13 § 1 des früheren deutsch-französischen Sozialversicherungsabkommens - die Zusammenrechnung der Versicherungszeiten, die nacheinander oder abwechselnd nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zurückgelegt sind; Art. 28 Abs. 1 Buchst. b schreibt - grundsätzlich ebenso wie früher Art. 13 § 3 des deutsch-französischen Sozialversicherungsabkommens - die Feststellung der von jedem Mitgliedstaat geschuldeten Leistung nach dem "pro-rata-temporis-Verfahren" vor, wobei es für die Verhältnisberechnung jedoch nunmehr auf die Dauer der "vor Eintritt des Versicherungsfalles" zurückgelegten Zeiten ankommt. Wesentlich ist ferner, daß die EWG-Verordnung Nr. 3 ein dem Art. 15 § 1 des früheren deutsch-französischen Abkommens entsprechendes "Wahlrecht" nicht mehr enthält. Für "Übergangsfälle" hat die Verwaltungskommission der EWG für die Soziale Sicherheit der Arbeitnehmer durch Beschluß vom 24. April 1959 über die Erhaltung der auf Grund eines Wahlrechts erworbenen Ansprüche (Amtsblatt der europäischen Gemeinschaften 1959, 1222 - Beschluß Nr. 4 -) "auf Grund des Art. 53 der Verordnung Nr. 3 in der Erwägung, daß die Fragen, die durch die Ausübung des in den zwischen den Mitgliedstaaten geschlossenen ... Abkommen enthaltenen Wahlrechts entstanden sind, geregelt werden müssen, da die Verordnungen Nr. 3 und Nr. 4 diese Wahlmöglichkeit ab 1. Januar 1959 nicht mehr vorsehen ..." bestimmt

"1. vor dem 1. Januar 1959 festgestellte Ansprüche: diese Ansprüche bleiben erhalten, es sei denn, daß der Arbeitnehmer nach Art. 53 Absätze 4 und 5 der Verordnung Nr. 3 die Neufeststellung beantragt...

2. Am 1. Januar 1959 noch nicht festgestellte Ansprüche:

a) ist der Antrag vor dem 1. Januar 1959 eingereicht worden, sind zwei Feststellungen durchzuführen:

für die Zeit bis 31. Dezember 1958 ist das Abkommen einschließlich des Wahlrechts anzuwenden,

ab 1. Januar 1959 ist die Rente nach Maßgabe der Verordnungen neu zu berechnen.

b) ..."

Für die rechtliche Beurteilung der Ansprüche der Klägerin ergibt sich hieraus folgendes:

Die Klägerin hat nach Eintritt des Versicherungsfalles im Mai 1958 auf Grund von Art. 15 § 1 des Abkommens zwischen dem nach Art. 13 des Abkommens aus den deutschen und französischen "Verhältnisrenten" berechneten Betrag (erste Möglichkeit) und zwischen den von dem deutschen und dem französischen Versicherungsträger nach deren innerstaatlicher Gesetzgebung getrennt berechneten und gewährten Leistungen (zweite Möglichkeit) wählen können. Von diesem Wahlrecht hat die Klägerin zwar nicht ausdrücklich, wohl aber stillschweigend im Sinne der zweiten Möglichkeit Gebrauch gemacht; hiervon ist auch die Beklagte - entgegen ihrem Vorbringen im Revisionsverfahren - ausgegangen (vgl. ihren Schriftsatz vom 31. Mai 1961 an das SG); sie hat - erkennbar noch in Anwendung des deutsch-französischen Sozialversicherungsabkommens - in dem Bescheid vom 6. Januar 1959, den die Klägerin nicht angefochten hat, die Rente der Klägerin nur nach deutschem innerstaatlichem Recht, also zwar unter Berücksichtigung einer Zurechnungszeit, aber ohne Berücksichtigung der französischen Versicherungszeiten festgestellt. Auf Grund des von ihr ausgeübten Wahlrechts hat die Klägerin während der für ihren Anspruch noch maßgebenden zeitlichen Geltungsdauer des Abkommens - also von Mai 1958 bis zum 31. Dezember 1958 - von jedem der beiden beteiligten Versicherungsträger "ungekürzte" Leistungen erhalten, vom deutschen Versicherungsträger mit dem Bescheid vom 6. Januar 1959, vom französischen Versicherungsträger mit dem Bescheid vom Juli 1960. Vom Inkrafttreten der EWG-Verordnung Nr. 3 an haben die Versicherungsträger der Mitgliedstaaten bei ihren Entscheidungen für Zeiten ab 1. Januar 1959 jedoch grundsätzlich nur noch Gemeinschaftsrecht anwenden dürfen. Der Beschluß Nr. 4 der Verwaltungskommission trägt der Rechtslage Rechnung, die durch den Wegfall des Wahlrechts eingetreten ist. Die Einsetzung der Verwaltungskommission durch den Rat der EWG und die Übertragung von Aufgaben an diese Kommission beruht auf Art. 51 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag). Die Verwaltungskommission ist nach Art. 43 Buchst. a der EWG-Verordnung Nr. 3 ermächtigt, "alle Verwaltungs- oder Auslegungsfragen, die sich aus dieser Verordnung, späteren Verordnungen und allen in deren Rahmen zu treffenden Vereinbarungen ergeben", zu regeln; soweit sie sich im Rahmen dieser Ermächtigung hält, sind ihre Beschlüsse in gleicher Weise für die Mitgliedstaaten verbindlich wie die EWG-Verordnungen selbst; auch insoweit ist von den Gerichten der Mitgliedstaaten Art. 177 des EWG-Vertrages zu beachten (vgl. Plöger, Deutsche Sozialversicherungsabkommen mit ausländischen Staaten, Bd. IV, Einführung Seite 27 und Anm. 1 zu Art. 44 EWG-Verordnung Nr. 3; von Borries, Die Verwaltungskommission der EWG, BArbBl 1960, 54, 56). Nach Art. 177 Buchst. b des EWG-Vertrages entscheidet der Gerichtshof der EWG im Wege der Vorabentscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft; wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren gestellt, dessen Entscheidungen - wie dies für Entscheidungen des Bundessozialgerichts zutrifft - nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet. Der Wortlaut des Art. 177 und der Sinn und Zweck dieser Vorschrift zwingen aber nicht zu der Auffassung, daß in allen Fällen, in denen - wie hier - von einem einzelstaatlichen Gericht letzter Instanz Gemeinschaftsrecht "auszulegen" ist, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofes einzuholen sei; der Senat hält die Auffassung für zutreffend, daß eine Vorlagepflicht entfällt, soweit Gültigkeit und Auslegung einer Norm dem Gericht, von dem zu entscheiden ist, nicht zweifelhaft erscheinen; die Entscheidung des Gerichts kann in solchen Fällen die Einheit des Gemeinschaftsrechts nicht gefährden (vgl. Knopp in Festschrift für Möhring, 1965, 459 ff, 476; Tomuschat, Die gerichtliche Vorabentscheidung nach den Verträgen über die Europäischen Gemeinschaften, 1964, 113 ff, 116, 119/120; Schumann in Zeitschrift für Zivilprozeß, 78. Band, 1965, 77 ff, III). Dies ist hier der Fall. Der Beschluß Nr. 4 der Verwaltungskommission hält sich im Rahmen der Ermächtigung des Art. 43 der EWG-Verordnung Nr. 3, er regelt die "Übergangsfälle" der vorliegenden Art eindeutig und steht mit Art. 53 der EWG-Verordnung Nr. 3, der den zeitlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung betrifft, nicht im Widerspruch. Bedenken gegen die Regelung in dem Beschluß Nr. 4 sind dem Senat nicht bekanntgeworden. Der Senat ist deshalb hier zur Anrufung des Gerichtshofs nicht verpflichtet.

Nach dem somit maßgebenden Beschluß Nr. 4 hat die Beklagte im vorliegenden Fall bei der erstmaligen Feststellung der Rente nach dem 1. Januar 1959 die in Nr. 2 Buchst. a des Beschlusses vorgesehenen zwei Feststellungen durchführen, sie hat für die Zeit bis zum 31. Dezember 1958 auf Grund des ausgeübten Wahlrechts nach den deutschen innerstaatlichen Vorschriften Rente gewähren, diese Rente aber ab 1. Januar 1959 nach den Verordnungen Nr. 3 und Nr. 4 neu berechnen müssen. Diese Berechnungsweise liegt dem Bescheid der Beklagten vom 30. Januar 1961 zugrunde. Bei dem Bescheid vom 30. Januar 1961 hat es sich aber nicht um eine "Neufeststellung" einer bereits vor dem 1. Januar 1959 nach dem deutsch-französischen Sozialversicherungsabkommen festgestellten Rente gehandelt, die in Nr. 1 des Beschlusses Nr. 4 in Verbindung mit Art. 53 Abs. 4 und Abs. 5 der EWG-Verordnung Nr. 3 geregelt ist, und auch nicht um eine "erstmalige Feststellung" auf Grund der EWG-Verordnungen Nr. 3 und Nr. 4, auf die sich Nr. 2 des Beschlusses Nr. 4 bezieht. Die Beklagte hat vielmehr die Rente der Klägerin erstmals , auch für die Zeit vom 1. Januar 1959 an, in dem Bescheid vom b. Januar 1959 festgestellt, also in einem Zeitpunkt, in dem für die Ansprüche der Klägerin auch gegenüber dem deutschen Versicherungsträger schon und nur noch das EWG-Recht gegolten und ein "Wahlrecht" nicht mehr bestanden hat. Die Berechnungsweise der Rente ab 1. Januar 1959 in dem Bescheid vom 6. Januar 1959 hat der damaligen Rechtslage nicht mehr entsprochen; die Feststellung der Leistung des deutschen Versicherungsträgers allein nach innerstaatlichen deutschen Vorschriften, die dem Bescheid vom 6. Januar 1959 zugrunde liegt, ist im Hinblick auf Art. 28 Abs. 4 der EWG-Verordnung Nr. 3 für die Zeit vom 1. Januar 1959 an unrichtig gewesen; insoweit handelt es sich bei dem Bescheid vom 6. Januar 1959 um einen begünstigenden Verwaltungsakt, der schon bei seinem Erlaß - teilweise - rechtswidrig gewesen ist. Diesen Bescheid hat die Beklagte in dem Bescheid vom 30. Januar 1961 rückwirkend vom 1. Januar 1959 an zurückgenommen, sie hat die von ihr der Klägerin geschuldete Leistung mit Wirkung vom 1. Januar 1959 an neu und niedriger festgestellt als in dem früheren Bescheid. Die Frage, ob der Bescheid vom 30. Januar 1961 insoweit rechtmäßig ist, ist nach deutschem Recht zu beurteilen. Sowohl der Bescheid vom 6. Januar 1959 als auch der Bescheid vom 30. Januar 1961 sind "nationale" Verwaltungsakte, die Beklagte ist mit beiden Bescheiden als deutscher Versicherungsträger tätig geworden, obwohl sie bei dem Bescheid vom 6. Januar 1959 auf einem "bilateralen" Abkommen beruhendes Recht, bei dem Bescheid vom 30. Januar 1961 Gemeinschaftsrecht der EWG-Mitgliedstaaten angewandt hat. Die Grundsätze für den "Widerruf" bzw. die Rücknahme von Verwaltungsakten der Organe der EWG, die der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften entwickelt hat (vgl. Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs III, 87, 117 ff; VII 113, 172 ff; VIII, 515) - sie stimmen weitgehend überein mit den ungeschriebenen Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts über die Rücknahme fehlerhafter Bescheide, die der deutschen Rechtsprechung für wesentliche Gebiete des allgemeinen und des besonderen Verwaltungsrechts zugrunde liegen - können für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 30. Januar 1961 nicht herangezogen werden. Für die Rechtmäßigkeit dieses Bescheides kommt es darauf an, ob der rückwirkenden Neufeststellung der Rente nicht die Bindungswirkung des Bescheides vom 6. Januar 1959 entgegengestanden hat. Der Bescheid vom 6. Januar 1959 ist nach § 77 SGG mit dem Zugang an die Klägerin bindend geworden, "soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist". Auf ein "Gesetz", das den Versicherungsträger im Recht der Rentenversicherung zur Rücknahme eines von Anfang an rechtswidrigen begünstigenden Bescheides berechtigt, kann sich die Beklagte im vorliegenden Falle nicht stützen. Die Voraussetzungen des § 1744 der Reichsversicherungsordnung (RVO) - in Verbindung mit § 204 AVG - für eine "neue Prüfung" und eine auf ihr beruhende neue Feststellung liegen hier nicht vor. Für die Heranziehung der Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts ist nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. insbesondere BSG 18, 84, 88/91 und Urteil vom 16. Dezember 1964, SozR Nr. 1 zu § 3 des 1. RAG mit weiteren Hinweisen; Urteil des erkennenden Senats vom 19. Januar 1966 - 11/1 RA 344/62 -) im Recht der Rentenversicherung kein Raum, weil die Rücknahme von Anfang an fehlerhafter Bescheide in den Rentenversicherungsgesetzen erschöpfend und abschließend geregelt ist; § 79 AVG (= § 1300 RVO) läßt eine Neufeststellung nur zu, wenn der frühere Bescheid ein rechtswidriger belastender Verwaltungsakt gewesen ist. Das Recht der Rentenversicherung kennt auch keine z. B. dem § 41 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung entsprechende Vorschrift, wonach auf dem Gebiet der Kriegsopferversorgung auch begünstigende Bescheide zurückgenommen werden können, wenn außer Zweifel steht, daß sie im Zeitpunkt ihres Erlasses tatsächlich und rechtlich unrichtig gewesen sind. Im Recht der Rentenversicherung findet sich ferner keine dem § 622 Abs. 1 RVO nF (für das Recht der Unfallversicherung) und dem § 62 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) - für das Recht der Kriegsopferversorgung - entsprechende Vorschrift, wonach ganz allgemein dann, wenn in den - tatsächlichen oder rechtlichen - Verhältnissen, die für die Feststellung eines Anspruchs maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt, der Anspruch unter Rücknahme des früheren Bescheides neu festzustellen ist; ob gleichwohl auch im Recht der Rentenversicherung ein solcher allgemeiner Grundsatz anzuerkennen ist, der in den §§ 1286 RVO, 63 AVG lediglich für einen Hauptanwendungsfall eine besondere gesetzliche Ausprägung erfahren hat, kann hier dahingestellt bleiben; denn im vorliegenden Falle ist der Bescheid vom 6. Januar 1959 nicht erst durch eine "Änderung der Verhältnisse" unrichtig geworden, sondern er ist schon bei seinem Erlaß - für die Zeit vom 1. Januar 1959 an - unrichtig gewesen. Eine Änderung des "Sachverhalts" ist, entgegen der Auffassung des LSG, nach dem Erlaß des Bescheides vom 6. Januar 1959 nicht eingetreten. Der Sachverhalt, der in diesem Bescheid zu beurteilen gewesen ist, nämlich die Berücksichtigung deutscher und französischer Versicherungszeiten, ist im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 6. Januar 1959 der gleiche gewesen wie bei Erlaß des Bescheides vom 30. Januar 1961. Auch die rechtlichen Verhältnisse haben sich nach dem Erlaß des Bescheides vom 6. Januar 1959 nicht geändert; für die Feststellung der Leistung des deutschen Versicherungsträgers ist schon seit 1. Januar 1959 das Recht der EWG-Verordnungen Nr. 3 und Nr. 4 und nicht mehr das dem Bescheid vom 6. Januar 1959 zugrunde gelegte deutschfranzösische Sozialversicherungsabkommen anzuwenden gewesen; die Rechtslage hat sich auch nicht etwa dadurch nachträglich geändert, daß der französische Versicherungsträger die von ihm nach den EWG-Verordnungen geschuldete "Verhältnisrente" erst im Juli 1960 festgestellt hat. Die Beklagte hat, unbeschadet der Rentenfeststellung durch den französischen Versicherungsträger, die von ihr ab 1. Januar 1959 geschuldete Leistung nicht mehr, wie sie es in dem Bescheid vom 6. Januar 1959 getan hat, unter Berücksichtigung allein der deutschen Versicherungszeiten feststellen dürfen. Die Klägerin hat sich auch nicht dadurch, daß sie "ausdrücklich Antrag auf Gewährung auch der Leistung des französischen Versicherungsträgers gestellt hat", der Berechnungsart nach den EWG-Verordnungen Nr. 3 und Nr. 4 "unterworfen"; die Berechnung der ihr zu gewährenden Leistungen ist vom Inkrafttreten des EWG-Rechts an nicht mehr - wie dies auf Grund des "Wahlrechts" nach dem deutsch-französischen Sozialversicherungsabkommen möglich gewesen ist - von einer Willensäußerung der Klägerin abhängig gewesen. Auch die Voraussetzungen der Absätze 3, 4 und 5 des Art. 53 der EWG-Verordnung Nr. 3 haben nicht vorgelegen. Schließlich greift auch die Erwägung des LSG nicht durch, die Klägerin sei durch die Rücknahme des Bescheides vom 6. Januar 1959 und die rückwirkende Neufeststellung der von der Beklagten geschuldeten Leistung in dem Bescheid vom 30. Januar 1961 deshalb nicht belastet, weil der Gesamtbetrag der beiden vom deutschen und vom französischen Versicherungsträger festgestellten "Verhältnisrenten" höher sei als der von der Beklagten in dem Bescheid vom 6. Januar 1959 festgestellte Betrag. Der Bescheid der Beklagten vom 30. Januar 1961 enthält ebenso wie auch der Bescheid des französischen Versicherungsträgers vom Juli 1960 nicht die Feststellung einer "Gesamtrente", die sich aus "einzelnen versicherungsrechtlichen Positionen" - das LSG meint damit offenbar die von jedem der beiden Versicherungsträger festgestellten "Verhältnisrenten" - zusammensetzt; bei der Feststellung der Rente nach dem "pro-rata-temporis-Verfahren", das dem Bescheid des französischen Versicherungsträgers vom Juli 1960 zugrunde liegt und zu Unrecht von der Beklagten in dem Bescheid vom 6. Januar 1959 nicht zugrunde gelegt worden ist, handelt es sich um selbständige Verwaltungsakte der beiden Versicherungsträger; jeder Versicherungsträger entscheidet nur über die von ihm geschuldete Leistung. Für die Frage, ob die Klägerin durch die Rücknahme des Bescheides vom 6. Januar 1959 in dem angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 30. Januar 1961 belastet wird, kommt es deshalb nur darauf an, ob die Leistungen, die der deutsche Versicherungsträger in dem Bescheid vom 6. Januar 1959 als für die Zeit vom 1. Januar 1959 an von ihm geschuldete Leistungen festgestellt hat, günstiger gewesen sind als die Leistungen, die er für diese Zeit als von ihm geschuldete Leistungen in dem Bescheid vom 30. Januar 1961 festgestellt hat; dies ist hier der Fall.

Der Bescheid der Beklagten vom 30. Januar 1961 ist daher, weil es an einer Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bescheides vom 6. Januar 1959 fehlt, nicht rechtmäßig. Das Urteil des LSG, durch das die Berufung der Klägerin gegen das klagabweisende Urteil des SG zurückgewiesen worden ist, das Urteil des SG und der Bescheid der Beklagten vom 30. Januar 1961 sind deshalb aufzuheben. Der Klägerin steht vom 1. Januar 1959 an als deutsche "Verhältnisrente" weiterhin jedenfalls der Betrag von 186,40 DM monatlich zu, der ihr in dem Bescheid vom 6. Januar 1959 gewährt worden ist. Ob die Beklagte berechtigt ist, bei den Rentenerhöhungen, die durch spätere Rentenanpassungsgesetze eingetreten sind, als "Anpassungsbetrag" - nur - den Betrag zugrunde zu legen, der sich bei der Berechnung der deutschen "Verhältnisrente" nach den Vorschriften der EWG-Verordnungen Nr. 3 und Nr. 4 ergibt, und ob die Klägerin einen höheren Betrag als den Betrag von 186,40 DM monatlich erst dann zu beanspruchen hat, wenn die nach den EWG-Verordnungen richtig berechnete und später angepaßte "Verhältnisrente" den Betrag von 186,40 DM überschreitet, ist hier nicht zu entscheiden; Gegenstand des anhängigen Verfahrens ist allein die Frage, ob der Bescheid vom 30. Januar 1961, der nur den Bescheid vom 6. Januar 1959 "aufgehoben" hat, rechtmäßig ist.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1772193

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge