Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des rechtlichen Gehörs
Leitsatz (amtlich)
Der Beweis durch einen Sachverständigen kann nur entweder durch dessen Anhörung in der mündlichen Verhandlung oder durch die Einholung eines schriftlichen Gutachtens erhoben werden. Eine "telefonische Aussage" des Sachverständigen ist nicht zulässig.
Orientierungssatz
Der Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör erschöpft sich nicht in der Einräumung einer bloß formellen Möglichkeit zur Stellungnahme zu den vom Gericht bei seiner Entscheidung berücksichtigten Tatsachen und Beweisergebnissen. Vielmehr müssen die Beteiligten unter Berücksichtigung ihres individuellen körperlichen und geistigen Zustandes in die Lage versetzt werden, die Tatsachen und Beweisergebnisse zu erfassen, daraus verfahrensrechtliche oder materiell-rechtliche Folgerungen zu ziehen und diese dem Gericht darzustellen. Demgemäß kann es im Einzelfall gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen, wenn ein Beteiligter sich zu dem Ergebnis einer während der mündlichen Verhandlung durchgeführten Beweisaufnahme nur bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung äußern kann und ihm nicht unter Anberaumung eines neuen Termins eine angemessene Frist zur Äußerung eingeräumt wird (vgl BSG 1959-12-15 11 RV 640/58 = BSGE 11, 165; BSG 1959-12-15 11 RV 648/58 = SozR Nr 11 zu § 62 SGG).
Normenkette
SGG § 117 Fassung: 1953-09-23; ZPO §§ 402, 411 Abs. 1; SGG § 62 Fassung: 1953-09-23, § 128 Abs. 2 Fassung: 1953-09-23
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 02.11.1977; Aktenzeichen III ANBf 69/76) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 07.10.1976; Aktenzeichen 11 AN 1343/74) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 2. November 1977 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Rechtsstreit wird um die Bewilligung einer Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit geführt.
Der am 19. Juni 1926 geborene Kläger war bis 1954 im Angestelltenverhältnis bei der Deutschen Bundesbahn beschäftigt. Sodann wurde er in das Beamtenverhältnis übernommen. Mit Ablauf des Monats Oktober 1971 wurde er wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt.
Nach Ablehnung eines ersten Rentenantrages begehrte der Kläger im Januar 1974 erneut die Gewährung einer Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte erhob je ein internistisches und orthopädisches Gutachten und lehnte danach mit Bescheid vom 19. September 1974 den Rentenantrag ab, weil der Kläger in seinem bisherigen Beruf des Bundesbahnangestellten noch mindestens halbschichtig tätig sein könne.
Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat nach weiterer Sachaufklärung ua durch Vernehmung des Arztes Dr. A als Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vom 7. Oktober 1976 die Klage mit Urteil vom selben Tage abgewiesen. Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat am 21. September 1977 Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 2. November 1977 anberaumt und dabei als Sachverständige den Facharzt für Chirurgie Dr. K, die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. ... und den Facharzt für innere Krankheiten Dr. Sch geladen mit dem Zusatz, die Sachverständigen sollten den Kläger untersuchen und ihre Gutachten mündlich im Termin erstatten; es werde ihnen anheimgegeben, Befundberichte zur Gerichtsakte zu reichen. Die Gerichtsakte enthält eine undatierte und nicht unterzeichnete Notiz über eine "telefonische Aussage des Dr. med. K". Im Termin zur mündlichen Verhandlung ist dieser Sachverständige nicht erschienen. Durchschriften seiner "Stellungnahme" sind den Beteiligten übergeben worden. Die Sachverständigen H und Sch haben ihre Gutachten während der mündlichen Verhandlung am 2. November 1977 erstattet. Durchschriften der hierüber erstellten Anlagen zur Sitzungsniederschrift sind den Beteiligten zusammen mit dem Urteil des LSG zugestellt worden.
Mit Urteil vom 2. November 1977 hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig. Er könne noch vollschichtig leichte körperliche Arbeiten ohne nennenswerte geistige Beanspruchung verrichten. Ebenso wie im Verwaltungs- und im Klageverfahren hätten auch die im Berufungsverfahren gehörten medizinischen Sachverständigen keine gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers feststellen können, die der Verrichtung leichter Männerarbeit in Vollschicht entgegenstünden.
Mit der durch Beschluß des Senats zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen Rechts. Das LSG habe dadurch, daß es entgegen der von ihm selbst zunächst gewählten Verfahrensweise von der mündlichen Anhörung des Sachverständigen Dr. ... abgesehen und sich mit dessen "telefonischer Aussage" begnügt habe, gegen §§ 117, 124 Abs 1 sowie gegen § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen. Es habe ferner § 128 Abs 2 SGG verletzt, indem es sein Urteil auf ein Gutachten des Dr. ... gestützt habe, obwohl ein solches Gutachten noch gar nicht erstattet worden sei und infolgedessen er - der Kläger - sich dazu nicht habe äußern können. Ebensowenig habe er sich zu den Gutachten der Sachverständigen H und Sch sowie zu den den Gutachten zugrundeliegenden Befunden äußern können, weil er als rechtsunkundiger und medizinisch nicht vorgebildeter Laie überfordert sei, wenn sofort im Termin eine Äußerung verlangt werde.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 2. November 1977 aufzuheben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte hat von einer Äußerung zur Revision abgesehen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die durch nachträgliche Zulassung statthafte Revision des Klägers ist zulässig und im Sinne des Revisionsantrages begründet.
Der Kläger begehrt die Bewilligung einer Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit oder wegen Erwerbsunfähigkeit. Rechtsgrundlagen hierfür sind §§ 23 und 24 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Danach erhält bei Erfüllung der Wartezeit Rente wegen Berufsunfähigkeit der Versicherte, der berufsunfähig ist, und Rente wegen Erwerbsunfähigkeit der Versicherte, der erwerbsunfähig ist (§ 23 Abs 1, § 24 Abs 1 AVG). Berufsunfähig ist ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 23 Abs 2 Sätze 1 und 2 AVG). Erwerbsunfähig ist der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (§ 24 Abs 2 Satz 1 AVG).
Das Berufungsgericht hat festgestellt, der Kläger könne noch vollschichtig leichte körperliche Arbeiten ohne nennenswerte geistige Beanspruchung verrichten. Hierauf könne er auch im Rahmen des § 23 Abs 2 AVG verwiesen werden. Gegen diese rechtliche Bewertung hat die Revision keine Einwendungen erhoben. Sie beanstandet jedoch zu Recht die vom LSG getroffene tatsächliche Feststellung des Leistungsvermögens des Klägers. Diese Feststellung ist verfahrensfehlerhaft zustandegekommen.
Das LSG hat sie ua auf die von ihm eingeholten Gutachten der Sachverständigen Dr. Sch und Dr. H gestützt. Bereits dies begegnet unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Verletzung der §§ 62 und 128 Abs 2 SGG Bedenken. Nach § 62 SGG ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren. Gemäß § 128 Abs 2 SGG darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Der Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör erschöpft sich nicht in der Einräumung einer bloß formellen Möglichkeit zur Stellungnahme zu den vom Gericht bei seiner Entscheidung berücksichtigten Tatsachen und Beweisergebnissen. Vielmehr müssen die Beteiligten unter Berücksichtigung ihres individuellen körperlichen und geistigen Zustandes in die Lage versetzt werden, die Tatsachen und Beweisergebnisse zu erfassen, daraus verfahrensrechtliche oder materiell-rechtliche Folgerungen zu ziehen und diese dem Gericht darzustellen. Demgemäß kann es im Einzelfall gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen, wenn ein Beteiligter sich zu dem Ergebnis einer während der mündlichen Verhandlung durchgeführten Beweisaufnahme nur bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung äußern kann und ihm nicht unter Anberaumung eines neuen Termins eine angemessene Frist zur Äußerung eingeräumt wird (vgl BSGE 11, 165, 166; BSG SozR Nr 11 zu § 62 SGG). Aus diesen Gründen erscheint schon die Verwertung der Gutachten der Sachverständigen Dr. S und Dr. H nicht unbedenklich. Diese Gutachten sind im Verlaufe der mündlichen Verhandlung am 2. November 1977 erstattet worden. Durchschriften der hierüber gefertigten Anlagen zur Sitzungsniederschrift sind den Beteiligten erst zusammen mit dem angefochtenen Urteil zugestellt worden. Der Kläger hat somit allein zu den mündlichen Ausführungen der Sachverständigen Stellung nehmen können. Ob damit ihm als medizinisch nicht vorgebildeten und nicht durch einen rechtskundigen Bevollmächtigten vertretenen Laien in ausreichender Weise Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden ist, begegnet Zweifeln. Allerdings kann in diesem Zusammenhang auch nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Kläger ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 2. November 1977 auf die Verlesung der Ausführungen der ärztlichen Sachverständigen verzichtet und einen Antrag auf Vertagung nicht gestellt hat. Letzteres kann aber wiederum auf seiner Rechtsunkenntnis beruhen.
Der Senat braucht über diese Fragen nicht abschließend zu entscheiden. Denn die Feststellung des LSG, daß der Kläger nach seinem gesundheitlichen Leistungsvermögen noch vollschichtig leichte körperliche Arbeiten ohne nennenswerte geistige Beanspruchung verrichten könne, ist aus einem anderen Grunde verfahrensfehlerhaft zustandegekommen. Sie beruht ua auf der "telefonischen Aussage" des Sachverständigen Dr. .... Hierauf hat das LSG seine Entscheidung nicht stützen dürfen.
Grundsätzlich erhebt das Gericht Beweis in der mündlichen Verhandlung (§ 117 SGG). Das gilt auch für den Beweis durch Sachverständige (§ 118 Abs 1 SGG iVm §§ 402, 394 ff der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Daneben kann das Gericht schriftliche Begutachtung anordnen (§ 118 Abs 1 SGG iVm § 411 Abs 1 ZPO). Ob diese Möglichkeit angesichts des § 117 SGG gegenüber der Beweiserhebung in der mündlichen Verhandlung subsidiär oder aber die Art der Erhebung des Sachverständigenbeweises dem Gericht überlassen ist (so Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, § 118 SGG, Anm zu § 402 ZPO, S II/88 - 76 - 1 -), kann dahinstehen. Jedenfalls kann der Beweis durch einen Sachverständigen lediglich entweder durch dessen Anhörung in der mündlichen Verhandlung oder durch die Einholung eines schriftlichen Gutachtens erhoben werden. Eine "telefonische Aussage" des Sachverständigen ist hingegen nicht zulässig. Sie kann eine mündliche Anhörung des Sachverständigen schon deswegen nicht ersetzen, weil in diesem Falle die Beteiligten von ihrem Recht, der Beweisaufnahme beizuwohnen und an den Sachverständigen sachdienliche Fragen richten zu lassen (§ 116 SGG), keinen Gebrauch machen können (zur Bedeutung dieses Rechts vgl BSG SozR 1500 § 116 Nr 1). Ebensowenig vermag eine telefonische Anhörung des Sachverständigen an die Stelle einer schriftlichen Begutachtung zu treten. Dies verbietet sich schon deswegen, weil es bei der telefonischen Anhörung zu Übermittlungsfehlern kommen kann und eine über die Anhörung gefertigte schriftliche Notiz nicht die Gewähr dafür bietet, daß mit ihr zuverlässig die Beurteilung durch den Sachverständigen wiedergegeben wird.
Bereits aus diesen allgemeinen Erwägungen hat das LSG seiner Beurteilung des Leistungsvermögens des Klägers die telefonische Aussage des Sachverständigen Dr. ... nicht zugrundelegen dürfen. Hieran ist es aber auch aus einem anderen Grunde gehindert gewesen. Es ist nämlich damit ohne erkennbaren Grund von der von ihm selbst gewählten Verfahrensweise abgewichen. Wie aus der Beweisanordnung vom 21. September 1977 ersichtlich ist, hat das LSG eine erneute Untersuchung des Klägers und die Erstattung eines Gutachtens in der mündlichen Verhandlung ua auch durch den Sachverständigen Dr. ... für erforderlich gehalten. Dies ist sachgerecht gewesen, nachdem bereits in der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 7. Oktober 1976 der Sachverständige Dr. A die vorhandenen Gutachten als "für die augenblickliche Beurteilung doch etwas alt" bezeichnet, der Kläger wiederholt auf eine rheumatische oder Gichterkrankung hingewiesen und nach seinem Gutachten vom 26. Juli 1977 auch der Sachverständige Dr. ... Anzeichen einer gichtigen Stoffwechselstörung festgestellt hat. Zwar ist das Tatsachengericht angesichts dessen, daß es sich zur Aufklärung des Sachverhalts aller zulässigen Beweismittel bedienen kann, an eine von ihm getroffene Beweisanordnung nicht ein für allemal gebunden. Ebensowenig haben die Beteiligten einen Anspruch darauf, daß das Tatsachengericht der ihm obliegenden Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 103 SGG) in einer bestimmten Weise nachkommt. Jedoch darf das Tatsachengericht von einer bereits getroffenen und nach Sachlage gebotenen Beweisanordnung nur bei Vorliegen sachlich einleuchtender Gründe abweichen. Derartige Gründe sind hier nicht zu erkennen. Weder dem angefochtenen Urteil noch dem übrigen Akteninhalt ist zu entnehmen, aus welchen Gründen das Berufungsgericht abweichend von seiner eigenen Beweisanordnung vom 21. September 1977 nunmehr eine Untersuchung des Klägers durch den Sachverständigen Dr. ... und die Anhörung dieses Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung am 2. November 1977 nicht mehr für notwendig erachtet hat. Die Notiz über die "telefonische Aussage" des Dr. ... läßt noch nicht einmal erkennen, daß der Sachverständige selbst eine erneute Untersuchung des Klägers für entbehrlich gehalten hat. Abgesehen von der generellen Unzulässigkeit der Erhebung des Sachverständigenbeweises auf telefonischem Wege muß somit auch aus diesen Gründen das Vorgehen des LSG als verfahrensfehlerhaft angesehen werden.
Die angefochtene Entscheidung kann somit keinen Bestand haben. Es fehlt an einer ordnungsgemäßen Feststellung des dem Kläger verbliebenen Leistungsvermögens. Dem Revisionsgericht ist eine solche Feststellung verwehrt. Das Berufungsgericht wird sie unter Beachtung der verfahrensrechtlichen Grundsätze über den Beweis durch Sachverständige nachzuholen haben. Zu diesem Zweck ist der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Dieses wird auch über die Kosten des Beschwerde- und des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen