Leitsatz (amtlich)
1. Kann der Träger der Rentenversicherung nach seinem Ermessen bestimmte Kosten als Leistung der Rehabilitation übernehmen (hier: Kosten der Beförderung zwischen Wohnung und Arbeitsstelle, AVG § 19 = RVO § 1242), so darf er bei der Entscheidung hierüber finanzielle Erwägungen anstellen.
2. In diesem Fall handelt der Versicherungsträger ermessensfehlerhaft (SGG § 54 Abs 2 S 2, SGB 1 § 39), wenn er nicht prüft, ob er die geltend gemachten Kosten nicht wenigstens zum Teil übernehmen kann.
Normenkette
AVG § 13 Fassung: 1974-08-07; RVO § 1236 Fassung: 1974-08-07; AVG § 19 Fassung: 1974-08-07; RVO § 1242 Fassung: 1974-08-07; SGG § 54 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03, Abs. 4 Fassung: 1953-09-03; SGB 1 § 39 Fassung: 1975-12-11
Verfahrensgang
SG Hamburg (Entscheidung vom 24.10.1978; Aktenzeichen 9 AN 247/77) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 24. Oktober 1978 aufgehoben, soweit es die Beklagte zu Leistungen verurteilt; insoweit wird die Klage abgewiesen. Im übrigen wird die Revision der Beklagten zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zur Hälfte zu erstatten.
Tatbestand
Der 1952 geborene, angeboren kleinwüchsige und knochenbrüchige Kläger, gelernter Industriekaufmann, benutzt einen Rollstuhl. Er arbeitet seit 1. Juni 1976 in der Rehabilitationsstätte H G, und zwar seit 1977 als Personalsachbearbeiter. Seit 1976 wohnt er in einer Behindertenwohnung in W. Von Wohnung zur Arbeitsstätte und zurück läßt sich der Kläger durch ein Taxiunternehmen befördern, das ihm täglich 76,- DM in Rechnung stellt. Diese Kosten, zu denen der Kläger monatlich 42,80 DM (Betrag einer entsprechenden Bundesbahnfahrkarte) beisteuert, hat vorläufig ab 1. Juni 1976 die Sozialbehörde in Hamburg übernommen.
Ende Juni 1978 hat der Kläger den Führerschein erworben. Ein Kraftfahrzeug hat er bislang nicht angeschafft.
Mit Bescheid vom 26. Oktober 1976 und Widerspruchsbescheid vom 22. März 1977 lehnte die Beklagte einen Antrag des Klägers vom 15. Oktober 1976 ab, die Taxikosten zu übernehmen: Solche Kosten kämen nur in Betracht, wenn sie in Zusammenhang mit einer vom Rentenversicherungsträger durchgeführten medizinischen oder berufsfördernden Maßnahme stünden.
Dagegen hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte unter Aufhebung der vorgenannten Bescheide verurteilt, diese Fahrtkosten unter Anrechnung einer angemessenen Selbstbeteiligung zu übernehmen. Es ist der Auffassung, für die Beklagte ergebe sich aus § 19 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) und § 20 des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes (RehaAnglG) die Verpflichtung, dem Kläger den Weg ins Arbeitsleben zu ebnen und ihm jede nur denkbare Hilfe zur Sicherung dieses Zieles der Rehabilitation zu gewähren. Die Meinung der Beklagten, daß Fahrtkosten immer nur als Nebenleistungen anderer Maßnahmen in Betracht kämen, finde im Gesetz keine Stütze.
Das SG hat die Sprungrevision zugelassen.
Die Beklagte hat mit Zustimmung des Klägers die Sprungrevision eingelegt. Sie bringt vor, auch Leistungen nach § 19 AVG erstreckten sich nicht auf solche, die für eine unbestimmte Zeit erbracht werden sollen. Eine finanzielle Dauerleistung von so erheblicher Höhe wie hier, die für einen unabsehbaren Zeitraum gezahlt werden solle, könne nicht zu den typischen Aufgaben eines Rentenversicherungsträgers gezählt werden. Im übrigen würden Dauerleistungen der hier in Rede stehenden Art die finanzielle Kapazität der Rentenversicherungsträger erheblich beeinträchtigen; die begrenzte Leistungsfähigkeit der Träger der Arbeiterrentenversicherung würde nicht unwesentlich überschritten werden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage unter Aufhebung des angefochtenen Urteils abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 24. Oktober 1978 zurückzuweisen sowie der Beklagten und Revisionsklägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens aufzuerlegen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beigeladene beantragt ebenfalls,
die Revision zurückzuweisen.
Auch sie hält das Urteil des SG für richtig und betont, daß nicht sie, sondern die Beklagte zuständig sei (§ 57 des Arbeitsförderungsgesetzes - AFG -).
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision ist zulässig, aber nur zum Teil begründet.
Begründet ist das Rechtsmittel insoweit, als das SG die Beklagte verurteilt hat, dem Kläger bestimmte Barleistungen - Kosten von Taxifahrten - als Leistungen der Rehabilitation zu erbringen. Bei den gemäß den Vorschriften der §§ 13 ff AVG (= §§ 1236 ff der Reichsversicherungsordnung - RVO -) von der Beklagten zu gewährenden Sach- und Barleistungen der Rehabilitation handelt es sich durchweg um Leistungen, die nach pflichtgemäßem Ermessen erbracht werden können, also nicht erbracht werden müssen (sog Kannleistungen). Da hiernach der angefochtene Verwaltungsakt entgegen § 54 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) keine Leistung betraf, auf die der Kläger einen Rechtsanspruch haben konnte, konnte das SG mit der angefochtenen Entscheidung die Beklagte nicht zu einer Leistung verurteilen. Soweit dies geschehen ist, mußte das angefochtene Urteil bereits aus verfahrensrechtlichen Gründen aufgehoben und die Klage insoweit als unzulässig abgewiesen werden.
Unbegründet ist dagegen das Rechtsmittel der Beklagten, soweit das angefochtene Urteil deren Bescheid vom 26. Oktober 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. März 1977 aufgehoben hat.
Die Beklagte nimmt zunächst zu Unrecht an, die Klage sei schon deswegen unzulässig, weil die Sozialhilfebehörden in Hamburg angebliche Ansprüche des Klägers gegen sie nach § 90 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) auf sich übergeleitet hätten. Abgesehen davon, daß eine solche Überleitung allein die Sachbefugnis (Aktivlegitimation) des Klägers berühren könnte, stellt das angefochtene Urteil eine solche Überleitung nicht fest. Es führt allein an, daß die Kosten der Taxenbenutzung von den Sozialhilfebehörden vorläufig und im Wege der Vorlage übernommen worden seien. An diese Feststellung ist der Senat gemäß § 163 SGG gebunden.
Im übrigen ergibt die Prüfung des streitigen Bescheids, daß die Beklagte die gesetzlichen Grenzen des ihr eingeräumten Ermessens überschritten und gleichzeitig von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGG, § 39 des Sozialgesetzbuches Allgemeiner Teil).
Nach § 13 Abs 1 Satz 1 AVG kann die Beklagte Leistungen der Rehabilitation in dem in den §§ 14 bis 14 b AVG (= §§ 1237 bis 1237 b RVO) bestimmten Umfang gewähren, um die gefährdete oder geminderte Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu erhalten, wesentlich zu bessern oder wiederherzustellen. Nach dem vom SG vorgelegten Sachverhalt beherrscht der Kläger den Beruf eines Industriekaufmanns; er kann ihn auch in gesundheitlicher Hinsicht ausführen. Der Kläger bedarf daher keiner medizinischen (§ 14 AVG = § 1237 RVO) oder berufsfördernden (§ 14 a AVG = § 1237 a RVO) Leistungen der Rehabilitation; er hat solche auch nicht beantragt. Mithin bleibt zu prüfen, inwieweit die Beklagte § 19 AVG (= § 1242 RVO) genügt hat.
Nach dieser Vorschrift kann die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) unter Berücksichtigung von Art und Schwere der Behinderung sonstige Leistungen, dh andere Leistungen als nach den vorhergehenden Bestimmungen gewähren, die erforderlich sind, um das Ziel der Rehabilitation zu erreichen oder zu sichern. Irrig nimmt die Beklagte an, für sie käme die Gewährung solcher Leistungen nur in Betracht, wenn sie im Zusammenhang mit einer von einem Träger der Rentenversicherung durchgeführten medizinischen oder berufsfördernden Maßnahme stünden. Dies ließe sich allenfalls dann annehmen, wenn die Leistung, die der Kläger begehrt, Teil eines "einheitlichen, in sich geschlossenen und nicht aufteilbaren Prozesses" wäre (so die Amtliche Begründung zu § 5 RehaAnglG, abgedruckt bei Jung/Preuß, Rehabilitation, 2. Aufl, S 142). Das ist aber bei Leistungen nach § 19 AVG schon deswegen nicht der Fall, weil sie grundsätzlich erst in Frage kommen, wenn die medizinischen oder berufsfördernden Maßnahmen bereits abgeschlossen sind (Amtliche Begründung zu § 20 RehaAnglG, der dem § 19 AVG entspricht, aaO, S 216). Denn bei den Maßnahmen nach § 19 aaO handelt es sich um Leistungen, die den Leistungen nach §§ 13 bis 14 b AVG nachgehen oder sie ergänzen, ohne unter § 14 b AVG zu fallen (vgl zB Zweng/Scherer, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 2. Aufl, Anm zu § 1242 RVO). Solche nachgehenden oder besonderen ergänzenden Leistungen kann der Rentenversicherungsträger erbringen, ohne das Ziel der Rehabilitation zu beeinträchtigen, selbst wenn er dem Antragsteller zuvor keine medizinischen oder berufsfördernden Maßnahmen zur Rehabilitation erbracht hat. Mithin kann der Träger der Rentenversicherung seine "Zuständigkeit" insoweit nicht verneinen, es sei denn, es wäre die "Zuständigkeit" eines anderen Rehabilitationsträgers gegeben (vgl § 13 Abs 3 AVG). Das behauptet die Beklagte indessen nicht. Tatsächlich kommt insbesondere eine Zuständigkeit der beigeladenen Bundesanstalt nur in Betracht, soweit die Beklagte nicht zu leisten hat (vgl § 57 AFG).
Soweit nun die Beklagte vorträgt, eine Dauerleistung der hier in Rede stehenden Art und Höhe könne nicht gewährt werden, ohne die begrenzte Leistungsfähigkeit der Träger der Rentenversicherung in Frage zu stellen, stützt dies in dieser Allgemeinheit ihren Ablehnungsbescheid nicht. Der Senat teilt zwar die Auffassung der Beklagten, daß sie bei Anwendung des § 19 AVG auch finanzielle Erwägungen anstellen darf. Das folgt allein schon daraus, daß die vom Rentenversicherungsträger zu betreuenden Versicherten eine Solidargemeinschaft bilden, deren Interesse durch ein Übermaß von Leistungen an bestimmte einzelne Versicherte beeinträchtigt sein kann. Es ist nicht Aufgabe des Rentenversicherungsträgers, einzelnen Versicherten möglichst hohe Leistungen zur Rehabilitation zu gewähren, sondern die Erwerbsfähigkeit möglichst vieler zu betreuender Versicherten zu erhalten, im Falle der Beeinträchtigung zu bessern oder wiederherzustellen (§ 13 Abs 1 AVG). Es ist auch richtig, daß das zeitlich unbegrenzte Leistungsbegehren des Klägers mit monatlich rund 1500,- DM außergewöhnlich hoch ist. Gleichwohl tragen die von der Beklagten angestellten finanziellen Erwägungen den hier streitigen Ablehnungsbescheid noch nicht. Die Beklagte hat nämlich nicht geprüft, ob dem Begehren des Klägers nicht wenigstens zum Teil hätte entsprochen werden können. Eine solche Teilleistung wäre sinnvoll. Da es sich um eine Geldleistung handelt, ist sie teilbar. Mit einer solchen Teilleistung könnte die Beklagte den nur nachrangig verpflichteten Sozialhilfeträger (§ 2 Abs 1 BSHG) finanziell entlasten; zugleich könnte dem Kläger der Weg zu anderen Leistungsträgern eröffnet werden, die eintreten könnten, soweit der Rentenversicherungsträger nicht zu leisten hat (vgl § 57 Arbeitsförderungsgesetz - AFG -, BSGE 41, 241, 245). Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats kann der Versicherungsträger Geldleistungen als Teilleistungen (Zuschüsse) zur Rehabilitation gewähren, wobei bei "Zuständigkeit" mehrerer Leistungsträger eine Kumulierung der Teilleistungen bis zur Höhe der vollen Rehabilitation in Betracht kommt (BSGE 44, 231, 234 = SozR 2200 § 1236 Nr 3). Bei dieser Sach- und Rechtslage hätte sich die Beklagte im streitigen Bescheid nicht damit begnügen dürfen, die vom Kläger erstrebte Leistung unter Bezug auf deren ungewöhnliche Höhe abzulehnen. Sie hätte vielmehr prüfen müssen, inwieweit eine Teilleistung einerseits den von ihr geltend gemachten finanziellen Erwägungen, andererseits aber dem Interesse des Klägers an voller beruflicher Rehabilitation hätte dienen können.
Im übrigen bietet der vorliegende Fall auch aus anderen Gesichtspunkten Anlaß, die Frage der Gewährung eines Kostenbeitrags zu prüfen. Die Beklagte hat keine Feststellungen dahin getroffen, ob für Rollstuhlfahrer geeignete öffentliche Verkehrsmittel oder etwa Rollstuhlfahrer-Kleinbusse gemeinnütziger Einrichtungen zur Verfügung stehen und inwieweit und von welchem Zeitpunkt an dem Kläger die Benutzung eines eigenen Kraftfahrzeugs zugemutet werden kann, dessen Anschaffung von der Beklagten bezuschußt werden könnte (vgl dazu die Richtlinien der BfA für die Hilfe zur Beschaffung von Kraftfahrzeugen für behinderte Versicherte und Rentner als Regelleistung gem § 13 AVG, DAngVers 1978, 71).
Hat aber die Beklagte in dem streitigen Bescheid vom 26. Oktober 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. März 1977 im Rahmen des pflichtgemäß auszuübenden Ermessens rechtlich gebotene Prüfungen unterlassen, so ist dieser Bescheid rechtswidrig. Er ist vom SG im Ergebnis zu Recht aufgehoben worden. Insoweit war daher die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beklagte hat nunmehr über den Leistungsantrag des Klägers erneut unter Vermeidung von Ermessensfehlern zu entscheiden. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen