Leitsatz (amtlich)

Die frühere Ehefrau eines Versicherten kann sich auch noch nach dessen Tod auf die Unwirksamkeit des vergleichsweisen Unterhaltsverzichts gemäß § 779 Abs 1 BGB berufen (Abgrenzung zu BSG vom 28.3.1979 - 4 RJ 3/78 = SozR 2200 § 1265 Nr 40).

 

Normenkette

RVO § 1265 Abs 1 S 1 Fassung: 1985-07-11; BGB § 779 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 30.03.1987; Aktenzeichen L 2 J 285/86)

SG Trier (Entscheidung vom 24.09.1986; Aktenzeichen S 3 J 116/86)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aus der Versicherung ihres am 14. März 1984 verstorbenen früheren Ehemannes zusteht.

Die Ehe der 1920 geborenen Klägerin mit dem Versicherten wurde durch Urteil des Landgerichts Trier vom 2. Juli 1968 aus beiderseitigem Verschulden geschieden. In einem gerichtlichen Vergleich vom selben Tag übertrugen die Eheleute das Sorgerecht für die sechs gemeinsamen Kinder (das jüngste davon 1957 geboren) auf die Klägerin, stellten den Versicherten "angesichts dessen gegenwärtiger Wirtschaftslage von Unterhaltszahlungen für die Kinder frei" und verzichteten gegenseitig auf Unterhaltszahlungen für Vergangenheit und Zukunft, auch für den Fall des Notbedarfs. Die Klägerin erhielt weder für sich noch für ihre Kinder jemals Unterhaltszahlungen vom Versicherten. Sowohl die Klägerin als auch der Versicherte heirateten nicht noch einmal.

Nach einem ersten vergeblichen Antrag von 1962/63 erhielt der Versicherte aufgrund eines erneuten Antrags vom Mai 1967 mit Bescheid der Bezirksregierung Trier vom Dezember 1969 rückwirkend ab 1. Januar 1967 Ruhegehalt gemäß §§ 29, 53 Abs 1 Satz 7 iVm § 6 Abs 2 des Gesetzes zu Art 131 des Grundgesetzes (GG) und § 106 Abs 1 Nr 2 des Bundesbeamtengesetzes (BBG) als Hauptwachtmeister aD, worin auch Kinderzuschläge enthalten waren. Das Ruhegehalt betrug am 1. Juli 1968 823,82 DM und im Zeitpunkt des Todes im März 1984 1.322,60 DM netto. Wegen eines Kriegsleidens bezog der Versicherte außerdem Versorgungsbezüge von der Versorgungsverwaltung, und zwar im Zeitpunkt der Scheidung aufgrund einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 %, die später rückwirkend ab 1. Februar 1968 auf 50 % erhöht wurde. Im Juli 1968 betrug die Grundrente 95,-- DM, im Zeitpunkt des Todes 313,-- DM monatlich. Hinzu kam noch eine von der Beklagten seit Februar 1977 gezahlte Versichertenrente in Höhe von 494,31 DM im März 1984.

Die Klägerin betreibt seit 1958 eine Gastwirtschaft. Die Einkünfte daraus erreichten im Jahr 1967 den Betrag von 14.477,44 DM. Das danach zu versteuernde Einkommen betrug (mit einem Freibetrag für 4 Kinder) 1.589,-- DM. Im Jahr 1984 lagen die zu versteuernden Einkünfte aus Gewerbebetrieb bei 9.534,-- DM. Seit März 1974 bezieht die Klägerin von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) eine Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit, aus der ihr im Jahr 1984 eine jährliche Rente von insgesamt 1.286,-- DM ausgezahlt wurde.

Den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Hinterbliebenenrente vom Dezember 1985 lehnte die Beklagte mit Hinweis auf den Unterhaltsverzicht ab (Bescheid vom 18. Februar 1986, Widerspruchsbescheid vom 20. Mai 1986). Die dagegen erhobene Klage wies das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 24. September 1986 mit der Begründung ab, daß die Klägerin niemals Unterhalt von dem Versicherten erhalten habe und wegen des Verzichtes auch nicht hätte beanspruchen können.

Auf die Berufung der Klägerin hob das Landessozialgericht (LSG) das Ersturteil auf und verurteilte die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 18. Februar und 20. Mai 1986, der Klägerin Witwenrente ab Januar 1986 zu gewähren: Der Anspruch auf Hinterbliebenenrente sei nach § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO begründet, weil die Klägerin im Zeitpunkt des Todes ihres geschiedenen Ehemannes Anspruch auf Unterhalt aus sonstigen Gründen gehabt habe. Der Unterhaltsverzicht stehe nicht entgegen, da er gemäß § 779 Abs 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) unwirksam sei. Die Eheleute seien bei dem Abschluß des Vergleichs insofern von einem falschen Sachverhalt ausgegangen, als sie das Ruhegehalt, das dem Versicherten später rückwirkend zuerkannt worden sei, nicht miteinbezogen hätten.

Mit der vom 4a Senat des Bundessozialgerichts (BSG) zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 1265 RVO, 779 BGB.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland- Pfalz vom 30. März 1987 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Trier vom 24. September 1986 zurückzuweisen,

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die kraft Zulassung durch das BSG statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht das klageabweisende Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte zur Gewährung von Witwenrente an die Klägerin ab Januar 1986 verurteilt. Die Bescheide der Beklagten vom 18. Februar und 20. Mai 1986 waren rechtswidrig.

Die Klägerin hat Anspruch auf Gewährung einer Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres verstorbenen früheren Ehemannes auf der Grundlage des § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO. Hiernach erhält die frühere Ehefrau eines Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten vor dem 1. Juli 1977 geschieden, für nichtig erklärt oder aufgehoben ist, nach dem Tode des Versicherten Rente, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG aF) oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tod Unterhalt geleistet hat. Nach den mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen nicht angegriffenen und damit für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG zu den Einkommensverhältnissen der früheren Eheleute im Zeitpunkt des Todes des Versicherten bestand im März 1984 ein Anspruch der Klägerin gegen ihren geschiedenen Ehemann auf einen Unterhaltsbeitrag aus § 60 EheG aF.

Das monatliche Einkommen des Ehemannes betrug damals rund 2.129,-- DM, das der Ehefrau rund 901,-- DM; der Einkommensunterschied betrug also 1.228,--DM. Auf dieser Grundlage ergibt sich nach der vom BSG bisher angewendeten "Anrechnungsmethode zur Berechnung des Unterhaltsanspruchs" (s BSG SozR 2200 § 1265 Nrn 56, 79 mwN) ein Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen den ehemaligen Ehemann in Höhe von 395,-- DM (2.129,-- DM + 901,-- DM = 3.030,-- DM, davon 3/7 = 1.296,-- DM, hiervon abzuziehen das Einkommen der Ehefrau in Höhe von 901,-- DM ergibt 395,-- DM). Damit wird bereits die Summe erreicht, die allein nach der ständigen Rechtsprechung des BSG als Unterhalt iS von § 1265 RVO angesehen werden kann und mindestens 25 vH der zur Zeit des Todes des Versicherten örtlich gültigen Regelsätze der Sozialhilfe erreichen muß (vgl BSG SozR 2200 § 1265 Nrn 26, 63, 65, 79). Die vom LSG aufgeworfene Frage, ob im vorliegenden Fall überhaupt das Erwerbseinkommen der Klägerin hierbei berücksichtigt werden dürfe, der Einkommensunterschied und demzufolge auch der Unterhaltsanspruch der Klägerin also womöglich noch größer seien, kann daher unentschieden bleiben. Im Hinblick auf die bei der Klägerin schon seit 1974 bestehende Erwerbsunfähigkeit hat das LSG insoweit jedenfalls zu Recht entschieden, daß die Gewährung eines Unterhaltsbeitrags iS des § 60 Satz 1 EheG aF der Billigkeit entspricht. Der bezeichnete Unterhaltsanspruch der Klägerin ist allerdings nicht, wie das LSG meint, unter das Tatbestandsmerkmal "Unterhalt aus sonstigen Gründen" in § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO zu subsumieren, sondern bildet einen Fall des Unterhaltes "nach den Vorschriften des EheG", die auch einen Unterhaltsbeitrag iS des § 60 EheG aF umfassen (so der Große Senat -GS- des BSG in SozR 2200 § 1265 Nr 41 S 134, 135, 141).

Mit dem Bestehen eines Unterhaltsanspruchs im Zeitpunkt des Todes des Versicherten scheidet § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO als mögliche Anspruchsgrundlage für die Klägerin aus. Die Rechtsprechung des erkennenden Senats aus jüngster Zeit zur Bedeutung eines Unterhaltsverzichtes anläßlich der Ehescheidung im Rahmen des § 1265 Abs 1 Satz 2 Nr 1 RVO (s Urteile vom 23. November 1988 und 21. Februar 1989, Az.: 5/5b RJ 100/86 und 5/5b RJ 2/86) ist infolgedessen für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreites ohne Belang.

Der anläßlich der Scheidung im Jahre 1968 abgeschlossene Vergleich zwischen den Eheleuten steht dem Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente nicht entgegen. Dieser Vertrag ist gemäß § 779 Abs 1 BGB unwirksam, der in ihm vereinbarte gegenseitige Verzicht auf Unterhaltsleistungen somit ohne rechtliche Wirkung für und gegen die Klägerin.

Ob § 779 BGB im Rahmen von § 1265 Abs 1 RVO überhaupt grundsätzlich anwendbar ist, hat das BSG bisher noch nicht entschieden. Für den 4. Senat des BSG war in seinem Urteil vom 28. März 1979 - 4 RJ 3/78 = SozR 2200 § 1265 Nr 40 - lediglich die Überlegung entscheidungstragend, welche Bedeutung einer Irrtumsanfechtung nach § 119 BGB für einen früheren vergleichsweisen Unterhaltsverzicht zukommt; zur Anwendbarkeit des § 779 BGB äußerte er sich nicht, vielmehr schied für ihn die Vorschrift schon mangels Erfüllung ihres Tatbestandes aus. Der erkennende Senat schloß sich dieser Rechtsauffassung des 4. Senats in seinem Urteil vom 21. Februar 1989 - 5/5b RJ 2/86 - bloß mit Bezug auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage im allgemeinen an. Er trägt indes keine Bedenken, mit Rücksicht auf den eindeutigen Wortlaut des § 779 Abs 1 BGB, der die Unwirksamkeit des Vergleichs als Rechtsfolge uneingeschränkt anordnet, d.h. eine generelle und von Anfang an bestehende Unbeachtlichkeit des Vertrages vorschreibt, einer Witwe die Möglichkeit zuzuerkennen, sich gemäß § 779 Abs 1 BGB auch dann noch auf die Unbeachtlichkeit eines früheren Vergleichs mit Unterhaltsverzichtsklausel zu berufen, wenn der Versicherte bereits verstorben ist.

Zwar darf nicht außer acht gelassen werden, daß bei der Ermittlung der Tatsachen, die für den Tatbestand des § 779 Abs 1 BGB erheblich sind, beträchtliche Beweisschwierigkeiten schon deshalb auftreten können, weil einer der beteiligten Vertragspartner - der frühere Ehemann - inzwischen verstorben ist und sich zu den Umständen des Vertragsschlusses nicht mehr äußern kann. Die Geltendmachung der Unwirksamkeit des Vergleiches durch die noch lebende Ehefrau mag in Folge davon in Einzelfällen sogar unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmißbrauches unzulässig sein. Hieraus allein kann jedoch noch nicht gefolgert werden, daß eine Anwendung des § 779 BGB nach dem Tod des Versicherten grundsätzlich ausgeschlossen ist. Denn zum einen wird es durchaus Fälle geben, in denen sich auch ohne eine aktuelle Stellungnahme des Ehemannes die für § 779 Abs 1 BGB erforderliche Situation prozeßordnungsgemäß fehlerfrei feststellen läßt. Zum anderen sieht die Prozeßordnung als grundsätzlich geeignetes und bereites Mittel zur Lösung solcher Schwierigkeiten die Rechtsfigur der objektiven Beweislast vor, die insgesamt zu übergehen, keine zwingenden Gründe gegeben sind.

Entgegen der Meinung der Beklagten ist § 779 Abs 1 BGB im vorliegenden Fall auch seinem Tatbestand nach erfüllt. Die vom LSG dazu getroffenen Feststellungen sind nicht mit zulässigen und begründeten, den Anforderungen des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG genügenden Verfahrensrügen angegriffen worden und damit für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindend. Aus ihnen hat das LSG zu Recht den Schluß gezogen, daß die Eheleute als Vertragsparteien bei Abschluß des Vergleichs von einer unrichtigen Sachverhaltsbasis ausgegangen waren und ohne den diesbezüglichen Irrtum die Ungewißheit, die die Parteien durch den Vergleich beseitigen wollten, nicht entstanden wäre.

Der Versicherte hatte in den Jahren 1962 bis 1964 vergeblich versucht, Ruhegehalt aus seiner früheren Stellung als Hauptwachtmeister zu erhalten. Sein im Mai 1967 erneut gestellter, gleichgerichteter Antrag wurde von der Bezirksregierung Trier am 2. Juli 1968, also am Tag der Scheidung, durch Bescheid wiederum abgelehnt. Daraus erhellt, daß die Beteiligten bei Vergleichsabschluß von dem feststehend zugrunde gelegten Sachverhalt iS des § 779 Abs 1 BGB ausgingen, der Versicherte werde kein Ruhegehalt erhalten. Dieser der Wirklichkeit nicht entsprechende Sachverhalt war auch der beiderseitige Anlaß für den abgeschlossenen Unterhaltsvergleich. Es liegt auf der Hand, daß die Ungewißheit über eine Unterhaltsverpflichtung des geschiedenen Ehemannes gegenüber der Klägerin iS des § 779 Abs 1 BGB nicht entstanden sein würde, wenn die Beteiligten zur Zeit des Vergleichsabschlusses von der späteren rückwirkenden Bewilligung des monatlichen Ruhegehalts von anfänglich 823,-- DM und schließlich 1.322,-- DM gewußt hätten.

Da sich nach allem die Revision als unbegründet erweist, ist sie gemäß § 170 Abs 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 165

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