Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 25.07.1990) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. Juli 1990 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um die Entschädigung eines Unfalls als Arbeitsunfall.
Der im Jahre 1965 geborene Kläger war als Auszubildender zum Kraftfahrzeug-Mechaniker bei dem Fahrzeughaus W. R … in M … beschäftigt. Am Unfalltag (9. November 1982) verließ er etwa 1/2 Stunde vor Arbeitsende gegen 16.45 Uhr seine in der J … -G … -F … -Straße 51 gelegene Arbeitsstätte. Er verunglückte wenige Minuten später, als er mit seinem Leichtkraftrad auf der genannten Straße stadteinwärts fuhr und auf der Höhe der östlichen Einfahrt eines V-Marktes (eines Lebensmittelsupermarktes) mit einem Pkw kollidierte, der – aus der Gegenrichtung kommend – in diese Einfahrt einbog. Bei dem Zusammenstoß erlitt er Trümmerfrakturen im Bereich des linken Ober- und Unterschenkels. In der Unfallanzeige des Arbeitgebers vom 11. November 1982 ist angegeben, der Unfall habe sich auf dem Weg von der Arbeitsstelle zur Wohnung ereignet. In dem daraufhin von der Beklagten angeforderten Durchgangsarztbericht vom 11. März 1983 heißt es, der Kläger habe die Arbeitsstelle vorzeitig verlassen, um einen Arzt aufzusuchen; auf dem Weg dorthin sei er verunglückt.
Die Beklagte lehnte Entschädigungsleistungen ab (Bescheid vom 23. Mai 1985), weil die Unfallstelle nicht auf dem Heimweg des Klägers, sondern in entgegengesetzter Richtung liege. Betriebliche Gründe für die Wahl dieser Fahrstrecke lägen nicht vor.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. Mai 1989). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, den Unfall vom 9. November 1982 als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen (Urteil vom 25. Juli 1990). Das LSG hat ausgeführt, ein Unfall, der sich vor Beginn eines nicht versicherten – also erheblichen und aus eigenwirtschaftlichen Gründen gewählten – Umweges noch auf dem Teil des Weges ereigne, der gewöhnlich den Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit iS des § 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bilde, sei ein Arbeitsunfall. Auch sobald der Versicherte nach einer solchen Unterbrechung wieder einen Teil des Weges erreiche, den er zwar sonst üblicherweise nicht nehme, der aber ebenfalls als Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit iS des § 550 RVO angesehen werden könne, stehe er unter Versicherungsschutz. Entsprechendes gelte dann, wenn sich ein Unfall auf einer zwar üblicherweise nicht benutzten, die Voraussetzungen einer versicherten Wegstrecke iS des § 550 RVO aber grundsätzlich erfüllenden Route ereigne. Hier sei der Kläger versichert gewesen, weil sich der Unfall noch auf einer der im Rahmen der Wahlfreiheit des § 550 RVO als Heimwegstrecke in Frage kommenden Routen ereignet habe. Der den Versicherungsschutz ausschließende längere Umweg über K … hätte erst mit dem Passieren der Einfahrt zum V-Markt begonnen. Da sich der Unfall des Klägers aber noch unmittelbar vor bzw in Höhe dieser Einfahrt ereignet habe, habe sich der Kläger noch auf einem versicherten Weg befunden. Auch wenn es sich nicht um den „üblichen” Heimweg handele, habe der Kläger unter Versicherungsschutz gestanden. Denn hierfür genüge es, wenn – wie hier – der Unfall sich auf einer normalerweise nicht benutzten, aber aufgrund der Länge und der sonstigen Umstände ebenfalls als Heimstrecke iS des § 550 Abs 1 RVO in Frage kommenden Route ereignet habe. Die Voraussetzungen, unter denen Versicherungsschutz auf Wegen von der Arbeitsstätte zu einem „dritten” Ort anzunehmen seien, lägen für die Fahrt zum Kieferorthopäden in K … nicht vor. Durch den Aufenthalt bei diesem Arzt wäre bei einer Wartezeit im ungünstigsten Fall von 30 Minuten und einer Behandlungsdauer von 10 Minuten der einheitliche Gesamtweg zu seiner Wohnung lediglich unterbrochen worden.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 550 Abs 1 iVm §§ 548, 539 Abs 1 Nr 1 RVO. Das LSG habe die finalen Voraussetzungen des Versicherungsschutzes verkannt und für die Auswahl einer üblicherweise nicht benutzten Heimwegstrecke auch private, eigenwirtschaftliche Gesichtspunkte als allein rechtlich wesentliches Motiv ausreichen lassen. Bereits der äußere Zusammenhang mit dem versicherten Heimweg sei nicht gegeben. Der Kläger sei (nach seinen eigenen Angaben) mit seinem Leichtmotorrad mit etwa 45 km/h an der Einfahrt des V-Marktes vorbeigefahren, als er von einem in diese Einfahrt einbiegenden Pkw erfaßt worden sei. Eine solche Geschwindigkeit noch auf der Mitte der Einfahrt habe jede Möglichkeit ausgeschlossen, nach rechts in den V-Markt einbiegen zu können und über diesen den (angeblichen) Heimweg fortzusetzen. Die objektiv feststellbaren Tatsachen – Vorbeifahrt an der Einfahrt zum V-Markt mit 45 km/h – und die betrieblichen Interessen ließen nur die Schlußfolgerung zu, daß sich der Kläger im Unfallzeitpunkt auf dem direkten Wege zum Kieferorthopäden befunden habe. Daß der Kläger nach Auffassung des LSG gleichwohl im Zeitpunkt und am Ort des Unfalls unter Versicherungsschutz gestanden habe, sei mit den vom Bundessozialgericht (BSG) entwickelten Rechtsgrundsätzen über den äußeren und den inneren Zusammenhang nicht vereinbar. Nach dieser Rechtsprechung setze die in § 550 Abs 1 RVO verlangte kausale Verknüpfung des Weges mit der versicherten Tätigkeit voraus, daß vor dem Unfall der Heimweg angetreten worden sei und daß sich das Unglück noch auf einem Wegabschnitt ereignet habe, der gewöhnlich zu dem Weg von der Arbeitsstätte zum häuslichen Bereich gehöre.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. Juli 1990 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 30. Mai 1989 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist nicht begründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, daß der Kläger am 9. November 1982 einen entschädigungspflichtigen Arbeitsunfall erlitt, als er mit dem Pkw eines anderen Verkehrsteilnehmers zusammenstieß.
Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Als Arbeitsunfall gilt auch ein Unfall auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 550 Abs 1 RVO). Dazu ist in der Regel erforderlich, daß das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet, einerseits zur versicherten Tätigkeit zu rechnen ist, und daß diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat. Zunächst muß also eine sachliche Verbindung mit der Betriebstätigkeit bestehen, der sog innere Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Fehlt es an einem solchen inneren Zusammenhang, scheidet ein Versicherungsschutz selbst dann aus, wenn sich der Unfall auf derselben Strecke ereignet, die der Versicherte auf dem Weg zu und von der Arbeit zurücklegen muß (ua BSG SozR 2200 § 550 Nr 60; BSG Urteil vom 30. April 1986 – 2 RU 44/85 – USK 8630; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 486d mwN). Vom Versicherungsschutz ausgeschlossen sind Wege, die wesentlich allein eigenwirtschaftlichen Zwecken dienen und mit der versicherten Tätigkeit nur im losen Zusammenhang stehen. Denn Versicherungsschutz besteht nicht schon ohne weiteres, wenn der Weg zum Ort der Tätigkeit führt oder von ihm ausgeht (BSG SozR 2200 § 550 Nrn 78 und 81). Entscheidend für den Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO ist vielmehr, ob der Weg von der Arbeitsstätte rechtlich wesentlich von dem Vorhaben des Versicherten bestimmt ist, nach Beendigung seiner Betriebstätigkeit von der versicherten Tätigkeit in den häuslichen Lebensbereich zurückzukehren (s BSG SozR 2200 § 550 Nr 78; Brackmann aa0 S 485r IV).
Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) befand sich der Kläger auf einer Wegstrecke, die als Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit iS des § 550 Abs 1 RVO angesehen werden kann. Dem Versicherungsschutz des Klägers steht nicht entgegen, daß er diesen Weg nicht regelmäßig für seine Fahrten nach und von dem Ort der Tätigkeit benutzt hat (vgl BSG SozR Nr 27 zu § 548 RVO -hier Seite Aa 33); denn der Versicherte ist in der Wahl des Weges grundsätzlich frei (BSGE 4, 219, 222; Brackmann aaO, S 486m; KassKomm-Ricke § 550 RVO RdNr 23).
Der Versicherungsschutz des Klägers ist auch nicht zu verneinen, weil er diese Wegstrecke wählte, um die Fahrt nach Hause mit dem Besuch des Arztes mit einer Wartezeit von höchstens 30 Minuten und einer Behandlungsdauer von höchstens 10 Minuten verbinden zu können. Der innere Zusammenhang zwischen dem Weg und der versicherten Tätigkeit ist nicht nur gegeben, wenn die versicherte Tätigkeit den alleinigen Grund für das Zurücklegen des Weges bildet. Dient der Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit sowohl der versicherten Tätigkeit als auch eigenwirtschaftlichen Interessen, so ist – entsprechend den Grundsätzen, die in der Rechtsprechung für Unfälle auf sogenannten gemischten Tätigkeiten dienenden Wegen entwickelt worden sind – für den Versicherungsschutz bedeutsam, ob sich der zurückgelegte Weg eindeutig in zwei Teile zerlegen läßt, von denen der eine der versicherten und der andere der nicht versicherten Tätigkeit gedient hat (BSG SozR 2200 § 550 Nr 62; Brackmann aaO S 486d I). Soweit diese Aufteilung wie hier bis zum Beginn des Umweges zur Praxis des Arztes nicht möglich ist, besteht der innere Zusammenhang, wenn der Weg zwar nicht allein, jedoch zumindest auch wesentlich der versicherten Tätigkeit zu dienen bestimmt ist (Brackmann aaO S 486e; BVerwGE 35, 234, 240). Legt der Versicherte den Weg vom Ort der Tätigkeit zurück, weil er die Arbeit beendet hat, beabsichtigt er jedoch, auf diesem Weg zugleich eine private Besorgung zu erledigen, wegen der er unabhängig von der vorgesehenen Beendigung der Arbeit denselben Weg hätte zurücklegen müssen, so bleibt dennoch die versicherte Tätigkeit auch wesentlich für die Zurücklegung des Weges (BSG aaO).
Der Kläger hatte seinen Weg vom Ort der Tätigkeit iS des § 550 Abs 1 RVO auch noch nicht unterbrochen. Dazu hat das LSG festgestellt, daß sich der Unfall des Klägers noch unmittelbar vor bzw in Höhe der Einfahrt zum V-Markt ereignet hatte. Entgegen der Meinung der Revision befand sich der Kläger damit noch auf einem Streckenabschnitt, der nach den Feststellungen des LSG auf einer als Heimwegstrecke in Frage kommenden Route liegt. Auf diesem Streckenabschnitt stand der Kläger, wie das LSG zutreffend angenommen hat, unter Versicherungsschutz. Den nicht unter Versicherungsschutz stehenden Umweg hatte er den objektiven Umständen entsprechend gerade noch nicht erreicht. Er war an der Einfahrt zum V-Markt noch nicht vorbeigefahren. Somit beruft sich die Revision zu Unrecht darauf, es fehle im vorliegenden Fall bereits der „äußere Zusammenhang” mit dem versicherten Heimweg.
Ist damit der Versicherungsschutz des Klägers zu bejahen, kommt es nicht mehr auf die vom LSG geprüfte Frage an, ob die Voraussetzungen, unter denen Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO auf Wegen von der Arbeitsstätte zu einem „dritten” Ort anzunehmen ist, für die Fahrt zum Kieferorthopäden vorliegen (s BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 2; Krasney, NZV 1989, 369, 371, jeweils mwN).
Die Revision der Beklagten war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen