Leitsatz (amtlich)
Eine Teilzeitarbeitskraft, die täglich nur noch zwei Stunden bis unter halbschichtig arbeiten kann, ist grundsätzlich erwerbsunfähig, es sei denn, daß sie einen Arbeitsplatz nicht nur vergönnungsweise innehat oder daß ihr ein Arbeitsplatz angeboten wird, gleichgültig ob sie von diesem Angebot Gebrauch macht. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn für einen Beruf oder eine Gruppe von Berufen die örtliche Arbeitsmarktlage für Teilzeitarbeitskräfte eindeutig günstiger ist (Beschluß des GrS vom 1969-12-11 GS 2/68 = SozR Nr 20 zu § 1247 RVO)
Zur Frage, wann bei männlichen Teilzeitarbeitskräften, die noch täglich 2 Stunden bis unter halbschichtig arbeiten können, die Arbeitsmarktlage als eindeutig günstiger in diesem Sinne anzusehen ist.
Normenkette
RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 7. Dezember 1966, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. April 1962 und der Bescheid der Beklagten vom 4. Juli 1961 aufgehoben, soweit sie die Zeit vom 1. November 1961 an betreffen.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für die Zeit vom 1. November 1961 bis zum 31. Juli 1965 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit unter Anrechnung der für diesen Zeitraum gezahlten BU-Rente zu gewähren.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist nur noch die Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit statt der gewährten Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 1. November 1961 bis zum 31. Juli 1965, weil der Kläger für die Zeit ab 1. August 1965 Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres erhält.
Der Kläger ist gelernter Schlosser. Die Beklagte gewährte ihm mit Bescheid vom 4. Juli 1961 für die Zeit ab 1. November 1960 Rente wegen Berufsunfähigkeit. Mit der dagegen erhobenen Klage begehrte der Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Das Sozialgericht (SG) Berlin wies die Klage mit Urteil vom 10. April 1962 ab. Auf die dagegen eingelegte Berufung änderte das Landessozialgericht (LSG) Berlin mit Urteil vom 26. Oktober 1962 das Urteil des SG dahin ab, daß dem Kläger ab 1. November 1961 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren war. Auf die Revision der Beklagten hob das Bundessozialgericht (BSG) dieses Urteil vom 27. September 1963 auf und wies den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück, weil der Sachverhalt medizinisch noch nicht ausreichend geklärt sei und das LSG auch Auskünfte darüber hätte einholen müssen, ob Arbeitsplätze, die für den Kläger geeignet seien, in nennenswerter Anzahl vorhanden sind. Mit Urteil vom 7. Dezember 1966 hat das LSG Berlin die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Berlin vom 10. April 1962 zurückgewiesen.
Hinsichtlich seiner Feststellungen zum Leistungsvermögen des Klägers für die Zeit ab Juni 1964 beruft sich des LSG auf Beurteilungen des Facharztes für innere Krankheiten Dr. E vom 2. Juli und 5. Oktober 1964. Hiernach sei der Kläger noch in der Lage gewesen, leichte Männerarbeit vorwiegend im Sitzen halbschichtig zu verrichten. Man könne ihm auch leichte Tätigkeiten für zwei bis drei Stunden im Gehen oder im Stehen zumuten. Das gelte insbesondere dann, wenn die Arbeit nicht an die Einhaltung von bestimmten Arbeitszeiten gebunden sei und der Kläger sich zwischendurch in Sitzpausen ausruhen könne. Da Dr. E im Juni 1964 eine deutliche Besserung des Allgemeinzustandes festgestellt habe, könne vor diesem Zeitpunkt den Gutachten anderer Ärzte gefolgt werden, nach denen der Kläger diese Tätigkeiten nur noch weniger als halbschichtig ausführen konnte. Wenn die eingeholten Auskünfte über die für den Kläger geeigneten Arbeitsplätze keine Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl aufzeigten, so reiche das zwar in der Regel für die Annahme von Berufsunfähigkeit aus, genüge jedoch nicht für die Annahme, daß auch eine Erwerbsunfähigkeit vorliege. Das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit könne nämlich schon durch das Vorhandensein von Gelegenheits- und Saisonarbeiten ausgeschlossen werden, auf die sich die eingeholten Auskünfte nicht bezogen hätten. Als solche könnten in Gartenbaubetrieben das Radieschenbündeln und -ziehen, das Bündeln von Petersilie, Dill und Bohnenkraut, das Bewachen von Personenkraftwagen in Großgaragen, das Betreuen von Kokszentralheizungen in Einfamilienhäusern, kleine handwerkliche Aushilfen in Nachbarschaft, Reklamezettelverteilen, leichte Aushilfsarbeiten für Schlosserbetriebe oder Hausverwaltungen und dergleichen mehr angesehen werden. Hiermit könne der Kläger mehr als nur geringfügige Einkünfte erzielen.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er ist - sinngemäß - der Auffassung, daß er erwerbsunfähig sei, weil er auf Gelegenheitsarbeiten nicht verwiesen werden könne und es für ihn geeignete Arbeitsplätze nicht gebe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. April 1962 und das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 7. Dezember 1966 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 1. November 1961 bis zum 31. Juli 1965 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit statt wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen,
hilfsweise,
die Sache unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Berlin vom 7. Dezember 1966 an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die zulässige Revision ist begründet.
Die für den vorliegenden Fall, in welchem über das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit zu entscheiden ist, maßgebende Frage, ob ein Versicherter auf eine Teilzeittätigkeit ohne Rücksicht darauf verwiesen werden kann, ob und in welchem Umfang es für die Tätigkeiten, die er noch verrichten kann, Arbeitsplätze gibt, hat der Große Senat des BSG durch Beschluß vom 11. Dezember 1969 - GS 2/68 - dahin entschieden, daß es bei der Anwendung des § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erheblich ist, ob Arbeitsplätze, die der Versicherte mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausüben kann, seien sie frei oder besetzt, vorhanden sind. Auf solche Arbeitsplätze kann der Versicherte nur verwiesen werden, wenn ihm der Arbeitsmarkt nicht praktisch verschlossen ist, d. h. wenn das Verhältnis der Zahl der Interessenten für Teilzeitarbeiten zu der Zahl der Teilzeitarbeitsplätze ungünstiger als 100 : 75 ist. Dieser Ansicht schließt sich der erkennende Senat an.
Der Große Senat des BSG hat im Abschnitt C V des genannten Beschlusses vom 11. Dezember 1969 in Verbindung mit Abschnitt C V des Beschlusses vom gleichen Tage in Sachen M gegen LVA Berlin - GS 4/69 - Anhaltspunkte dafür gegeben, wann das Arbeitsfeld in der Regel als verschlossen angesehen werden kann. Das LSG hat, was im Hinblick auf diese Grundsätze von Bedeutung ist, festgestellt, daß der Kläger vom Zeitpunkt der im Juni 1964 erfolgten Untersuchung durch den Facharzt für innere Krankheiten Dr. E noch leichte Arbeiten im Sitzen in geschlossenen Räumen halbschichtig bis unter vollschichtig verrichten kann. Da sich das LSG bei der Feststellung des Leistungsvermögens ausdrücklich auf die Beurteilungen durch Dr. E bezieht, ist davon auszugehen, daß es auch feststellen wollte, daß der Kläger Tätigkeiten, bei denen Lasten gehoben oder getragen werden müssen, und Tätigkeiten, die ein häufiges Bücken erfordern, nicht ausführen kann, und daß das vom behandelnden Arzt diagnostizierte beginnende Lungenemphysem mit chronischer Bronchitis seine Einsatzfähigkeit auf staubfreie Räume beschränkt. Aus dem Umstand, daß Dr. E im Juni 1964 eine deutliche Besserung des Allgemeinzustandes des Klägers festgestellt hatte, hat das LSG - so sind seine Ausführungen zu verstehen - aus den in Bezug genommenen Gutachten der vorher gehörten Ärzte geschlossen, daß der Kläger vor dieser Besserung die genannten Tätigkeiten nur noch täglich zwei Stunden bis unter halbschichtig verrichten konnte.
Nach den im Abschnitt V Ziff. 2 des Beschlusses des Großen Senats des BSG vom 11. Dezember 1969 - GS 2/68 - entwickelten Grundsätzen sind männliche Teilzeitarbeitskräfte, die nur noch täglich zwei Stunden bis unter halbschichtig arbeiten können, grundsätzlich als erwerbsunfähig anzusehen, es sei denn, daß sie einen Arbeitsplatz nicht nur vergönnungsweise innehaben, oder daß ihnen ein Arbeitsplatz angeboten wird, gleichgültig ob sie von diesem Angebot Gebrauch machen. Die Verhältnisse auf diesem Teilzeitarbeitsmarkt haben den Großen Senat veranlaßt, diese Teilzeitarbeitskräfte grundsätzlich denjenigen Arbeitskräften gleichzustellen, die nur noch gelegentlich arbeiten können und die nach § 1247 Abs. 2 RVO ohne weiteres erwerbsunfähig sind. Bei beiden Gruppen hängt das Auffinden bzw. das jeweilige Wiederauffinden eines Arbeitsplatzes mehr oder weniger vom Zufall ab, so daß in beiden Fällen nicht von einem funktionierenden Arbeitsmarkt gesprochen werden kann.
Dies kann nach den Grundsätzen des Großen Senats in dem o. a. Beschluß allerdings dann nicht gelten, wenn für einzelne Berufe oder Gruppen von Berufen die Arbeitsmarktverhältnisse eindeutig günstiger liegen, so daß in diesen Fällen nicht von einem nicht funktionierenden Arbeitsmarkt gesprochen werden kann. Der Große Senat hat aus diesem Grunde angenommen, daß für weibliche Teilzeitarbeitskräfte die nach ihren beruflichen Fähigkeiten und nach ihrem Gesundheitszustand noch sogenannte Dienstleistungsberufe unter halbschichtig ausüben können, der Arbeitsmarkt nicht praktisch verschlossen ist, weil die Zahl der Arbeitsuchenden die Zahl der betreffenden Teilzeitarbeitsplätze übertrifft. Dasselbe muß für andere Berufe oder Gruppen von Berufen gelten, bei denen in ähnlicher Weise feststeht, daß es sich um einen funktionierenden Teilzeitarbeitsmarkt handelt. Bei männlichen Teilzeitarbeitskräften, die täglich nur noch zwei Stunden bis unter halbschichtig arbeiten können, kann dies allerdings nur der Fall sein bei Berufen, die von dem allgemeinen unterhalbschichtigen Arbeitsfeld ebenso abgrenzbar sind wie die Gruppe der weiblichen Dienstleistungsberufe von dem allgemeinen unterhalbschichtigen weiblichen Teilzeitarbeitsfeld abgrenzbar ist. Das ist aber nur bei den Berufen, die die Teilzeitarbeitskraft erlernt hat (Lehrberufe, anerkannte Anlernberufe oder gleichzubewertende Berufe) der Fall, weil es hier - abweichend von dem allgemeinen Teilzeitarbeitsfeld - nur auf das Verhältnis der Zahl derjenigen Teilzeitarbeitskräfte ankommt, die beruflich fähig sind, diesen Beruf, den sie erlernt haben, auszuüben und auf die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze dieses Berufs. Liegen die Arbeitsmarktverhältnisse in einem solchen Beruf ähnlich wie bei den sogenannten weiblichen Dienstleistungsberufen, d. h. übersteigt die Zahl der Arbeitsuchenden die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze in diesem Beruf, sind beide Zahlen gleich oder hält sich die Arbeitslosenquote in diesem Beruf zumindest noch in den Grenzen der in modernen Volkswirtschaften angestrebten Vollbeschäftigung, so muß von einem funktionierenden Teilzeitarbeitsmarkt gesprochen werden, der sich deutlich von den Verhältnissen des allgemeinen Teilzeitarbeitsmarktes der unterhalbschichtigen Tätigkeiten abhebt. Auf diese Tätigkeit kann der Versicherte daher mit der Folge verwiesen werden, daß er ausnahmsweise nicht erwerbsunfähig ist. Ermittlungen durch Einholung einer Auskunft bei dem örtlich zuständigen Arbeitsamt bedarf es allerdings nur, wenn der Versicherte gesundheitlich noch in der Lage ist, in seinem erlernten Beruf täglich 2 Stunden bis unterhalbschichtig zu arbeiten und auch nur dann, wenn deutliche Anhaltspunkte für die Annahme vorliegen, daß die Arbeitsmarktverhältnisse von denen des allgemeinen unterhalbschichtigen Teilzeitarbeitsfeldes abweichen. Da der Kläger gesundheitlich nicht mehr in der Lage ist, als Schlosser zu arbeiten, bedarf es hier einer solchen speziellen Prüfung nicht. Der Kläger ist vielmehr aus diesem Grund für die Zeit vom 1. November 1961 bis Juni 1964 erwerbsunfähig.
Aber auch für die Zeit seit Juni 1964 kann der Kläger nicht auf die für ihn in Betracht kommenden Teilzeittätigkeiten verwiesen werden, weil gegenüber dem allgemeinen Teilzeitarbeitsmarkt eine starke Einschränkung im Sinne des Abschnitts C V 1 des o. a. Beschlusses (GS 2/68) in Verbindung mit Abschnitt C V 2 b aa) und bb) des Beschlusses vom gleichen Tage in Sachen M ./. LVA Berlin - GS 4/69 - besteht. Hierbei kann dahingestellt bleiben, ob die Einschränkung auf leichte, vorwiegend im Sitzen in geschlossenen Räumen zu verrichtende Arbeiten, für sich allein betrachtet, als stark im Sinne der Entscheidung des Senats vom heutigen Tage in Sachen F ./. LVA Baden - 5/4 RJ 11/68 - anzusehen ist; jedenfalls stellt sie zusammen mit den zusätzlichen Einschränkungen, insbesondere mit dem Erfordernis, daß die Arbeitsräume staubfrei sein müssen, eine starke Einschränkung der Erwerbsfähigkeit des Klägers im Sinne des o. a. Beschlusses des Großen Senats dar. Der Kläger ist daher auch für die Zeit seit Juni 1964 bis zum Zeitpunkt des Beginns des Altersruhegeldes erwerbsunfähig. Daher waren die angefochtenen Urteile und der angefochtene Bescheid aufzuheben, soweit sie die Zeit vom 1. November 1961 an betreffen, und dem Kläger von diesem Zeitpunkt an bis zum 31. Juli 1965 die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zuzusprechen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Fundstellen