Entscheidungsstichwort (Thema)
Verlassen der UdSSR im Jahre 1937
Leitsatz (redaktionell)
Nach dem Grundgedanken der Regelung sollen die ausländischen Versicherungszeiten denjenigen angerechnet werden, die ihre Ansprüche auch bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich des FRG gegenüber dem ausländischen Versicherungsträger durchsetzen konnten.
Renten der russischen Versicherungsträger wurden vor dem Kriege grundsätzlich nicht ins Ausland gezahlt.
Normenkette
FRG § 1 Buchst. b Fassung: 1965-06-09, § 15 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. August 1967 und das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 4. Mai 1964 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, in der UdSSR zurückgelegte Versicherungszeiten bei der Berechnung der Rente des Klägers zu berücksichtigen.
Der am 6. November 1898 in B in der Ukraine geborene Kläger war hier nach Lehrzeit und bestandener Gesellenprüfung von Oktober 1918 bis Oktober 1937 in der Staatlichen Landmaschinenfabrik als Gießer und Former tätig, verließ dann die UdSSR und arbeitete von 1938 bis 1963 in der F Schiffbau-Gesellschaft.
Der am 2. März 1937 ausgestellte Reisepaß weist ihn als deutschen Staatsangehörigen aus. Einen Flüchtlingsausweis besitzt er nicht. Seinem Antrag auf Altersruhegeld entsprach die Beklagte, ohne die in der UdSSR zurückgelegten Versicherungszeiten zu berücksichtigen.
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, die nach Vollendung des 16. Lebensjahres zurückgelegten Versicherungs- und Beschäftigungszeiten vom 1. Oktober 1918 bis zum 31. Oktober 1937 mit fünf Sechsteln der Berechnung des Altersruhegeldes zugrunde zu legen. Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten ein dem LSG Berlin erstattetes Gutachten des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität B beigezogen und das Urteil des SG insoweit aufgehoben, als es die Zeit vor dem 15. November 1921 betrifft, weil bis zu diesem Zeitpunkt ein System der sozialen Sicherheit im Sinne des § 15 Abs. 2 des Fremdrentengesetzes (FRG) in der UdSSR nicht bestanden habe. Die Zeit danach sei dagegen als Beitragszeit gemäß § 15 Abs. 1 FRG anzuerkennen. Der Kläger erfülle die Voraussetzungen des § 1 Buchstabe b FRG, weil der zweite Weltkrieg ein Abkommen zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik verhindert habe, das den Rentenbezug auch bei einem Aufenthalt außerhalb der UdSSR ermöglicht haben würde. Dies ergebe sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit aus der Tatsache, daß in den letzten zwanzig Jahren mit zahlreichen Staaten entsprechende Vereinbarungen getroffen worden seien. Eine Betrachtung der gesamten politischen Nachkriegsentwicklung führe zu dem Schluß, daß sich ohne den zweiten Weltkrieg die Möglichkeit ergeben hätte, Rentenleistungen aus der UdSSR zumindest in Nachbarstaaten zu erhalten.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte, das LSG habe es unterlassen zu prüfen, ob der Kläger nach materiellem Recht der UdSSR überhaupt einen Rentenanspruch erworben habe. Im übrigen fehle es aber schon an der Kausalität zwischen den Kriegsauswirkungen und der Unmöglichkeit, den russischen Versicherungsträger in Anspruch zu nehmen. Dieser habe zu keiner Zeit Renten an Deutsche außerhalb der UdSSR gezahlt. Die vom LSG dargelegte mögliche Entwicklung der Beziehungen zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik auf dem Gebiet der Sozialversicherung entbehre jeglicher Grundlage und sei letztlich eine Unterstellung. Die Versicherungsträger der UdSSR zahlten Renten grundsätzlich nicht ins Ausland, nicht einmal in Staaten ihres Einflußbereichs. Auch mit diesen seien entsprechende Sozialversicherungsabkommen nicht getroffen worden. Der Kläger gehöre auch nicht zu den vom FRG begünstigten Personen, weil er nicht geflüchtet oder vertrieben worden sei, noch auf Grund der zu erwartenden Vertreibung seine Heimat verlassen habe. Dazu habe er 1937 keine Veranlassung gehabt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. August 1967 sowie das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 4. Mai 1964 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er stützt sich im wesentlichen auf die Urteilsbegründung des LSG und hält mit der Beklagten eine Prüfung des Anspruchs nach materiellem russischem Rentenrecht für erforderlich.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Bei der Berechnung der Rente des Klägers sind die in Rußland zurückgelegten Versicherungszeiten nicht zu berücksichtigen.
Der nach dem FRG berechtigte Personenkreis ist in § 1 dieses Gesetzes abgegrenzt. § 17 bleibt für den vorliegenden Streitfall außer Betracht, da dessen Voraussetzungen offensichtlich nicht vorliegen. Auch scheidet eine Anrechnung nach § 16 FRG aus, weil der Kläger nicht als Vertriebener im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes anerkannt ist.
Die Voraussetzungen der hier allein näher zu prüfenden Bestimmung des § 1 Buchst. b FRG sind aber nicht gegeben.
Der Kläger hat zwar als Deutscher schon 1937, also unabhängig von den Auswirkungen des zweiten Weltkrieges, Rußland verlassen und seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der heutigen Bundesrepublik genommen. Aber nicht die Kriegsauswirkungen haben dazu geführt, daß er den früher für ihn zuständigen Versicherungsträger der UdSSR nicht mehr in Anspruch nehmen kann.
§ 1 Buchst. b FRG knüpft in Verbindung mit § 15 FRG an einen Tatbestand an, der sich außerhalb des Geltungsbereichs dieser Norm ereignet hat. Das besondere Bedürfnis für eine solche Durchbrechung des Territorialprinzips liegt in der durch den zweiten Weltkrieg aufgehobenen Auslandsbeziehung, die von den betroffenen Personen nicht zu vertreten ist (vgl. Hülsbergen, Die Altersrentensysteme in der Sowjetunion und ihre Behandlung in der dt. Soz. Vers., Diss. Hamburg 1967). Voraussetzung ist deshalb, daß der Berechtigte eine gegenüber einem ausländischen Versicherungsträger erworbene Rechtsstellung infolge der Kriegsauswirkungen nicht oder nicht mehr verwirklichen kann (BSG 21, 151, 152). Nach dem Grundgedanken der Regelung sollen die ausländischen Versicherungszeiten denjenigen angerechnet werden, die ihre Ansprüche auch bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich des FRG gegenüber dem ausländischen Versicherungsträger durchsetzen konnten (vgl. Dersch-Knoll § 1 FRG Anm. 9; Merkle-Michel, Komm. z. FANG, in Fortführg . des Komm. z. FAG v. Haensel u. Lippert Anm. 8). Das setzt voraus, daß diese Möglichkeit ohne den Krieg bestanden hätte und durch den Krieg verlorengegangen ist, weil Rentenzahlungen nach Deutschland eingestellt oder zwischenstaatliche Regelungen außer Kraft gesetzt worden sind (Merkle-Michel a. a. O. Anm. 8 und die Begründung des Bundesrates zu § 1 Buchst. b FRG, BT-Drucks. Nr. 4201 vom 19.3.1953 S. 35). Das trifft für den Kläger nicht zu. Bei seiner Ausreise aus der UdSSR konnte er nicht damit rechnen, möglicherweise erworbene Anwartschaften oder Ansprüche noch zu verwirklichen. Wie sich aus dem vom LSG beigezogenen Gutachten des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin ergibt, wurden Renten der russischen Versicherungsträger vor dem Kriege grundsätzlich nicht ins Ausland gezahlt. Nach dem zweiten Weltkrieg ließ erst die neuere Rechtsprechung in der UdSSR neben bestimmten Unfallrenten Ausnahmen auch dann zu, wenn der Rentenanspruch vor dem 1. Oktober 1958 festgestellt wurde. Es kann dahingestellt bleiben, ob der zuständige Versicherungsträger in der UdSSR bei entsprechend rechtzeitigem Antrag die Rente vor diesem Zeitpunkt festgestellt hätte und deshalb eine Zahlung ins Ausland erfolgt wäre oder ob der Kläger zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen für eine Altersrente nach dem materiellen Rentenrecht der UdSSR noch nicht erfüllte. In beiden Fällen sind jedenfalls nicht die Kriegsauswirkungen ursächlich dafür, daß der Kläger heute in der Bundesrepublik keine Rente aus der UdSSR erhält. (Vgl. dazu auch Schreiben des BMA vom 10. November 1964, SozVers. 66, 70; Auskunft des Außenministeriums der UdSSR in Mitt. d. LVA Rheinprovinz 1966, 305).
Die Annahme des LSG, daß die kriegsbedingte Verschlechterung der Beziehungen ein den Kläger begünstigendes zwischenstaatliches Abkommen vereitelt habe, ist nicht zu beweisen. Diese durch keinen konkreten Anhalt verdichtete bloße Möglichkeit reicht nicht aus, den erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zu unterstellen (vgl. auch BSG 21, 151, 153).
Aber auch eine entsprechende Anwendung des § 1 Buchst. d FRG scheidet aus. Deutsche gehören, sofern auf sie nicht die Buchstaben a, c oder d des § 1 FRG zutreffen, nur unter den besonderen Voraussetzungen des Buchstaben b zu dem berechtigten Personenkreis des § 1. Ohne Erfüllung dieser Voraussetzungen sind sie auch nicht im Wege der Analogie als anspruchsberechtigt anzusehen. Die unterschiedliche Behandlung der Gruppen b) und d) und die Gleichstellung der heimatlosen Ausländer mit den Vertriebenen beruht nicht auf einem Versehen. Sie ist beabsichtigt und sachgerecht darin begründet, daß es sich bei heimatlosen Ausländern - ähnlich den Vertriebenen - in der Regel um verschleppte Personen und Flüchtlinge handelt (vgl. § 1 Ges. über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet vom 25. April 1951, BGBl I 269), die aus diesem Grunde vordringlich förderungsbedürftig sind (vgl. auch BSG 21, 151, 154).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat konnte im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Fundstellen