Leitsatz (amtlich)

1. Trotz des Wortlauts des 2. ÄndG BSeuchG Art 3 Abs 1 gehen auch solche Impfschadensangelegenheiten auf die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit über, in denen der Versorgungsanspruch bisher nicht auf BSeuchG §§ 51 ff aF gestützt war.

2. Ist die Sachlegitimation des Beklagten und Revisionsbeklagten infolge einer Gesetzesänderung im Laufe des Revisionsverfahrens zweifelhaft geworden, so kann diesem Sachverhalt im sozialgerichtlichen Verfahren durch die Beiladung des jetzt in Betracht kommenden Anspruchsgegners Rechnung getragen werden. Diese Beiladung kann angesichts der Regelung des SGG § 168 dem LSG überlassen werden, wenn der Rechtsstreit auch aus materiellrechtlichen Gründen dorthin zurückverwiesen werden muß.

 

Normenkette

SGG § 75 Fassung: 1953-09-03, § 168 Fassung: 1953-09-03; BSeuchG § 51 Fassung: 1961-07-18; BSeuchGÄndG 2 Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1971-08-25

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt (Main) vom 13. Mai 1971 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Hessische Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die am 5. Januar 1913 geborene Klägerin wurde am 9. -nicht 16. - Mai 1914 aufgrund des Reichsimpfgesetzes vom 18. April 1874 (RGBl Seite 31) in ihrem damals zur preußischen Provinz Sachsen gehörenden Wohnort Z - heute Deutsche Demokratische Republik (DDR) - gegen Pocken geimpft. In der Folgezeit erkrankte sie. Die Krankheit hinterließ als Dauerschaden die Bewegungsunfähigkeit des rechten Armes.

Im August 1966 siedelte sie mit ihrem Mann von M in der DDR nach F in der Bundesrepublik um. Ihren Antrag auf Ausstellung eines Flüchtlingsausweises C für Sowjetzonenflüchtlinge lehnte der Regierungspräsident in K durch Bescheid vom 10. Dezember 1968 und Widerspruchsbescheid vom 24. März 1969 ab.

Im März 1968 stellte sie bei der Oberfinanzdirektion F Antrag auf Entschädigung, nachdem sie bereits im Oktober 1967 beim Gesundheitsamt F im Rahmen einer Schadensanzeige darauf hingewiesen hatte, daß ihr Gesundheitsschaden Folge der Impfung sei. Die Oberfinanzdirektion lehnte den Antrag durch Bescheid vom 31. März 1969 - der Klägerin am 5. April 1969 zugestellt - ab.

Am 3. Oktober 1969 hat sie beim Landgericht Frankfurt Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland erhoben mit dem Antrag, festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet sei, ihr jeglichen aufgrund der Impfung vom Mai 1914 entstandenen Schaden für die Vergangenheit und Zukunft im Rahmen der versorgungsrechtlichen Bestimmungen zu ersetzen. Das Landgericht hat durch Urteil vom 30. April 1970 die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Klägerin habe ihren Anspruch nicht innerhalb der in § 28 Abs. 1 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG) vom 5. November 1957 (BGBl I 1747), zuletzt geändert durch das Reparationsschädengesetz vom 12. Februar 1969 (BGBl I 105), bestimmten Frist angemeldet. § 28 Abs. 1 Nr. 2 AKG komme nicht in Betracht, weil die Klägerin nicht Sowjetzonenflüchtling sei.

Im Laufe des Berufungsverfahrens hat die Beklagte auf den Einwand ihrer mangelnden Passivlegitimation und die Einrede der Verjährung verzichtet; ferner hat sie erklärt, den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Körperschaden nicht mehr bestreiten zu wollen.

Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt hat durch Urteil vom 13. Mai 1971 die Berufung zurückgewiesen: Für den Anspruch der Klägerin komme als Anspruchsgrundlage nur § 75 der Einleitung zum Allgemeinen Preußischen Landrecht (EinlALR) in Betracht, da das Bundesseuchengesetz (BSeuchG aF) vom 18. Juli 1961 (BGBl I 1012) keine Regelung für vor seinem Inkrafttreten eingetretene Schäden enthalte und auch das Hessische Impfschadengesetz vom 6. Oktober 1958 keine Haftung des Landes für außerhalb des jetzigen Landesgebiets erfolgte Impfungen vorsehe. Der an sich vom ehemaligen Lande Preußen zu erfüllende Anspruch sei auch nicht nach § 1 AKG untergegangen (Hinweis auf § 5 Abs. 1 Nr. 3 AKG). An die Stelle des Landes Preußen sei nach § 25 Abs. 1 AKG die Beklagte getreten. Bei der Klägerin fehlten aber die Wohnsitzvoraussetzungen nach § 6 AKG. In Betracht komme allenfalls § 6 Abs. 1 Nr. 3 c AKG. Die Klägerin sei jedoch nicht, wie es diese Vorschrift verlange, Sowjetzonenflüchtling i.S. des § 3 des Bundesvertriebenengesetzes - BVFG -. Das folge zwar nicht schon aus der Bindungswirkung (§ 15 Abs. 5 BVFG) der ablehnenden Entscheidung des Regierungspräsidenten in K. Ihr Vortrag und der unstreitige Inhalt der beigezogenen Akten des Regierungspräsidenten führten indessen zu diesem Ergebnis. Eine Flucht im Wortsinne entfalle schon deshalb, weil die Klägerin mit Billigung der DDR-Behörden in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt sei. Die Gründe für die Übersiedlung hätten auch nicht darin gelegen, daß sie sich in einer besonderen Zwangslage befunden habe. Ihre behauptete negative Einstellung zum sowjetzonalen System habe zu keiner Zeit dazu geführt, daß sie politisch bedingtem Druck ausgesetzt und gezwungen gewesen sei, gegen ihre erkennbare und achtbare Überzeugung zu handeln. Die Klägerin habe dies im übrigen durch die Begründung ihres Widerspruchs gegen den ersten Ablehnungsbescheid des Regierungspräsidenten auch selbst eingeräumt, denn dort habe sie vorgebracht, ihre Übersiedlungsabsicht sei maßgeblich dadurch beeinflußt worden, daß sie von der Möglichkeit erfahren habe, in der Bundesrepublik eine - von den DDR-Behörden abgelehnte - Impfschadenentschädigung zu erhalten. Dieser Beweggrund sei aber ebenfalls nicht geeignet, sie als Sowjetzonenflüchtling anzuerkennen. Denn es könne nicht festgestellt werden, daß durch die Ablehnung der Entschädigung ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage vernichtet oder entscheidend beeinträchtigt worden sei. Ihre Existenzgrundlage habe, da sie nach ihrem Vortrag wegen des Impfschadens kaum arbeitsfähig sei, nicht in einem eigenen Einkommen bestanden, das ihr hätte genommen oder geschmälert werden können, auch nicht in einer ihr zuvor einmal zugebilligten Impfschadenentschädigung, die ihr dann versagt worden wäre. Sie sei vielmehr auf den Unterhalt durch ihren Ehemann angewiesen gewesen, der unstreitig von 1948 bis zum Beginn des Rentenalters im Jahre 1966 als Buchhalter in einem volkseigenen Betrieb beschäftigt gewesen sei und deshalb ebenfalls keine die Klägerin mit treffende Beeinträchtigung seiner wirtschaftlichen Existenz erfahren habe. Die Ablehnung einer Entschädigung durch die DDR-Behörden habe also weder ihre Lebensgrundlage vernichtet noch sie verkürzt; es sei ihr dadurch nur eine wirtschaftliche Besserstellung versagt worden. Die ablehnende Entscheidung der Beklagten verstoße auch nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz. Um die niemals voll zu tilgende Schuldenlast der öffentlichen Hand aus der Zeit vor dem Zusammenbruch des Jahres 1945 nach Maßgabe des dem Bund wirtschaftlich und finanziell Möglichen und Zumutbaren zu begrenzen, seien für die Übernahme von bestimmten Ansprüchen gegen bestimmte ehemalige Rechtsträger durch den Bund die in der Kriegsfolgenschlußgesetzgebung bisher vorgenommenen Differenzierungen aus sachlichen Gründen geboten und deshalb nicht willkürlich. Das gelte auch gegenwärtig noch für die unterschiedliche Behandlung von Sowjetzonenflüchtlingen und Übersiedlern wie die Klägerin. Denn die Verschiedenartigkeit der Umstände, die dem Übertritt beider Gruppen in die Bundesrepublik Deutschland zugrundelägen, rechtfertige es, den Kreis der Flüchtlinge wegen der ihnen auferlegt gewesenen Zwangslage den Alteinwohnern der Bundesrepublik gleichzustellen, die freiwillig Übergetretenen dagegen nicht.

Gegen das ihr am 19. Juli 1971 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 28. Juli 1971 Revision beim Bundesgerichtshof (BGH) eingelegt. Nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 8. Februar 1972 hat die Klägerin die Revision am 8. Februar 1972 begründet: Nach § 51 des BSeuchG nF in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des BSeuchG (ÄndG) vom 25. August 1971 (BGBl I 1401) sei nunmehr auch im Falle der Familienzusammenführung (§ 94 BVFG) ein Impfschadensanspruch gegeben, so daß es nicht darauf ankomme, ob sie Sowjetzonenflüchtling im Sinne des § 3 BVFG sei. Eine Familienzusammenführung habe hier vorgelegen, weil sie mit ihrem Ehemann in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt sei, um dort mit ihrem Sohn und den beiden Schwestern ihres Ehemannes zusammenzuleben, nachdem sie nach dem Ausscheiden des Ehemannes aus dem volkseigenen Betrieb infolge ihrer Notlage ihren dortigen Wohnsitz aufgeben und deshalb zu ihren Angehörigen in der Bundesrepublik habe übersiedeln müssen. Die Auffassung des Regierungspräsidenten in Kassel (Bescheid vom 10. Dezember 1968), eine altersbedingte Familienzusammenführung liege nicht vor, weil sie und ihr Ehemann noch nicht 70 Jahre alt oder pflegebedürftig seien, sei nicht zutreffend, weil § 94 des BVFG eine Altersgrenze nicht kenne. Zudem habe ihr Ehemann schon am 11. März 1971 das 70. Lebensjahr vollendet. Sie selber könne aber schon infolge des Impfschadens im Haushalt kaum tätig sein. - Abgesehen davon verstoße der Ausschluß der Impfgeschädigten, die nicht unter §§ 1, 3 und 94 des BVFG fielen, gegen Art. 3 Grundgesetz (GG), weil ein berechtigter Grund für den Ausschluß eines Teiles der Impfgeschädigten von der Versorgung sachlich nicht bestehe. Das gelte jedenfalls für diejenigen Personen, die aufgrund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 geimpft worden seien und mit ihrer Impfung sich zu Gunsten der Allgemeinheit einem Opfer unterworfen hätten.

Die Klägerin hat die später erfolgte Abgabe der Sache an das Bundessozialgericht (BSG) (Art. 3 Abs. 1 ÄndG) angeregt. Ferner hat sie angeregt, den Termin aufzuheben und zu dem neuen Termin anstelle der Beklagten das Land Hessen zu laden. Die Klägerin beantragt, nach den Schlußanträgen in der Berufungsinstanz zu erkennen, hilfsweise (sinngemäß), das Urteil des OLG Frankfurt vom 13. Mai 1971 aufzuheben und die Sache an das Hessische Landessozialgericht (LSG) zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie sei aufgrund des BSeuchG nF nicht mehr passiv legitimiert, denn das Land Hessen sei der richtige Beklagte (§ 59 Abs. 2 Nr. 3 BSeuchG nF).

Um die Zurückweisung der Revision zu vermeiden, sei es für die Klägerin sachdienlich, die Klage unter Übernahme der im bisherigen Verfahren entstandenen hohen Kosten zurückzunehmen. Alsdann könne sie einen erneuten Antrag auf Impfentschädigung bei der nunmehr zuständigen Versorgungsbehörde des Landes Hessen stellen. Eine Beteiligung des Landes Hessen am laufenden Verfahren halte sie, die Beklagte, nicht für sachdienlich. Sie beabsichtige deshalb auch nicht, vor Beendigung des jetzigen Verfahrens ihre Akten dem Landesversorgungsamt Hessen zuzuleiten.

Die Revision ist zulässig. Die Zulässigkeit richtet sich, da das angefochtene Urteil vor Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderung des BSeuchG (ÄndG) vom 25. August 1971 (BGBl I, 1401) ergangen ist, nach den Vorschriften der Zivilprozeßordnung (ZPO) (Art. 3 Abs. 2 ÄndG). Die Revision ist statthaft, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 25.000,- DM übersteigt (§§ 9, 546 ZPO iVm Art. 1 des Gesetzes zur Entlastung des BGH vom 15. August 1969 BGBl I, 1141). Das OLG hat durch Beschluß vom 14. Juli 1971 den Streitwert in Übereinstimmung mit dem Beschluß des Landgerichts vom 28. Oktober 1970 auf 60.000,- DM festgesetzt. Die Revision ist auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 552 bis 554 ZPO).

Der Rechtsstreit ist vom BGH auf das BSG als zuständiges Gericht des betreffenden Rechtszuges übergegangen, weil eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vorliegt, für die der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gegeben ist (Art. 3 Abs. 1 ÄndG, §§ 61 Abs. 2, 51 BSeuchG nF). Der Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 ÄndG gibt zwar zu Zweifeln deshalb Anlaß, weil der Übergang auf "Impfschadensangelegenheiten nach den §§ 51 ff des BSeuchG in der bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes geltenden Fassung" bezogen ist. Der Sinn dieser Vorschrift enthält aber keine Beschränkung auf Ansprüche, die auf die genannten Anspruchsgrundlagen gestützt sind. Mit dem Hinweis auf §§ 51 ff des BSeuchG (aF) vom 18. Juli 1961 (BGBl I 1012) soll vielmehr zum Ausdruck gebracht werden, daß in Bezug auf die dort erwähnten Ansprüche wegen Körperschäden, die auf eine Schutzimpfung zurückgeführt werden, Zuständigkeitsänderungen eingetreten sind (vgl. dazu auch: Fehl in KOV 1972, 97, 100). Denn aus einer Reihe von Vorschriften des ÄndG ergibt sich, daß dieses Gesetz für alle Impfschadensansprüche versorgungsrechtlicher Art ohne Rücksicht auf die bisherige Anspruchsgrundlage gilt: Art. 2 Abs. 1 ÄndG bestimmt, daß ein nach "bisherigem Recht" anerkannter Impfschaden als Impfschaden i.S. dieses Gesetzes gilt und die Leistungen nach diesem Gesetz neu festzustellen sind. Art. 2 Abs. 1 Satz 5 ÄndG stellt klar, daß diese Bestimmung auch für Schäden gilt, die durch Impfungen "vor dem 1. Januar 1962" - dem Inkrafttreten des BSeuchG aF (§ 85) - verursacht worden sind. Keine Beschränkung auf nach §§ 51 ff BSeuchG aF zu beurteilende Fälle enthält demgemäß auch Abs. 2 des Art. 2 ÄndG, wo festgelegt ist, daß das neue Recht auch für Impfschäden gilt, über die noch nicht entschieden worden ist. Auch Absätze 3 und 4 des Art. 2 ÄndG, die aus bestimmten Gründen abgelehnte Entschädigungsansprüche betreffen, weisen keine entsprechende Beschränkung auf. Schließlich zeigt § 51 Abs. 3 BSeuchG nF, daß auch in den Fällen der vorliegenden Art das neue Recht anzuwenden ist. In Verbindung mit dem Wegfall von Anmeldefristen (vgl. hierzu Art. 2 Abs. 4 ÄndG) ergibt sich aus § 51 Abs. 3, BSeuchG nF, daß ein Deutscher grundsätzlich ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt der Impfung Versorgung nach neuem Recht beanspruchen kann, wenn er nicht schon aufgrund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung erhält. Für die Annahme, daß hinsichtlich der gerichtlichen Zuständigkeit das neue Recht nicht uneingeschränkt gelten sollte, findet sich kein einleuchtender Grund. Ebensowenig liegt es im Bereich sinnvoller Erwägungen, die gerichtliche Zuständigkeit etwa aufzuspalten und hinsichtlich der auf die Zeit vor Inkrafttreten des BSeuchG aF bezogenen Ansprüche an der Zuständigkeit der Zivilgerichte festzuhalten und nur bezüglich der folgenden Zeit die Zuständigkeit der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit anzunehmen. Eine solche Auffassung widerspräche auch der Begründung der Bundesregierung (in BT-Drucks. VI 1568 Seite 11 Nr. 7), wonach es im Interesse einer einheitlichen Rechtsprechung geboten erscheint, auch alle die Verfahren auf die nach diesem Gesetz zuständigen Gerichte übergehen zu lassen, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes bei ordentlichen Gerichten anhängig waren.

Die Revision ist auch insofern begründet, als der Rechtsstreit an das nunmehr zuständige Hessische LSG (§§ 57, 143 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) zurückverwiesen werden muß (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Aus Art. 2 Abs. 2 ÄndG, wonach das neue Recht auch auf rechtshängige Fälle anzuwenden ist, folgt, daß von den Gerichten die Prüfung nachzuholen ist, ob das neue Recht - jedenfalls von seinem Inkrafttreten an (1. September 1971 - Art. 6 ÄndG -) den erhobenen Anspruch rechtfertigt. Denn, wie der Senat bereits entschieden hat (vgl. Urteil vom 9. Mai 1972 - 8 RVi 1/72) haben die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit die nach früherem Recht ergangenen Bescheide unter Anwendung des neuen Rechts zu überprüfen. Ein Bescheid der nunmehr zuständigen Versorgungsverwaltung ist nicht abzuwarten. Diese Prüfung ergibt, daß - jedenfalls für die Zeit vom Inkrafttreten des neuen Rechts an - Anspruchsgegner nicht mehr die Bundesrepublik Deutschland sondern das Land Hessen ist, in dem die Klägerin ihren Wohnsitz hat (vgl. § 59 Abs. 2 Nr. 3 BSeuchG nF).

Für die verfahrensrechtliche Behandlung dieses Vorgangs bietet sich die Beiladung an, die im sozialgerichtlichen Verfahren (vgl. § 75 SGG) wegen der vielfach auftretenden Ungewissheit, welcher Rechtsträger der richtige Beklagte ist, weitergehende Konsequenzen als in anderen Verfahrensordnungen haben kann: Es ist hier die Verurteilung eines Beigeladenen anstelle des Beklagten möglich. Das gilt in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung auch für das beigeladene Land (§ 75 Abs. 5 SGG) und damit für Impfschadensangelegenheiten, worauf § 61 Abs. 2 Satz 2 BSeuchG nF hinweist. Die Frage, ob ein gesetzlicher Parteiwechsel vorliegt, so daß die beklagte Bundesrepublik aus dem Verfahren entlassen werden könnte, brauchte im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht entschieden zu werden. Da sich die Beteiligten und das beizuladende Land hierzu und besonders auch noch nicht zu der Frage geäußert haben, welcher Leistungsträger für die Zeit vor Inkrafttreten des BSeuchG nF zuständig ist, sieht der Senat keinen Anlaß zu einer näheren Prüfung, zumal hier nicht darüber gestritten wird, ob das Land Hessen etwaige Versorgungslasten endgültig zu tragen hat oder ob sie vom Bund zu erstatten wären. Der Senat sieht sich auch nicht genötigt zu entscheiden, ob etwa ein Parteiwechsel, der als Klageänderung zu beurteilen wäre (vgl. BSG 10, 97, 102), in der Revisionsinstanz wegen § 168 SGG noch berücksichtigt werden kann (vgl. hierzu BSG in SozR Nr. 3 zu § 168 SGG). Denn trotz entsprechenden Hinweises hat sich das Land Hessen an dem Verfahren nicht beteiligt, und die Beteiligten stellen Sachanträge. Auch die Frage, ob die hier erst im Laufe des Revisionsverfahrens erfolgte Rechtsänderung in Abweichung von § 168 SGG die Beiladung durch das BSG - jedenfalls bei einem gesetzlichen Parteiwechsel - ausnahmsweise ermöglichen könnte, brauchte nicht entschieden zu werden. Denn die Rechtsänderung nötigt aus materiell-rechtlichen Gründen zur Zurückverweisung, so daß die Beiladung dem LSG überlassen werden kann. Bei dieser Sachlage entfiel die Notwendigkeit, einen neuen Termin anzuberaumen.

Nach § 51 Abs. 3 Satz 1 BSeuchG nF erhält Versorgung auch, wer als Deutscher infolge einer aufgrund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 (RGBl S. 31) oder infolge einer in der DDR oder in Ostberlin gesetzlich vorgeschriebenen oder aufgrund eines Gesetzes angeordneten Pockenimpfung einen Impfschaden erlitten hat oder erleidet, soweit nicht aufgrund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. "Ansprüche nach Satz 1" - so Satz 2 des § 51 Abs. 3 BSeuchG nF - "kann nur geltend machen, wer als Vertriebener, Flüchtling oder durch Familienzusammenführung (§§ 1, 3 und 94 des Bundesvertriebenengesetzes) seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes genommen hat". Ob die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen des § 51 Abs. 3 neuen Rechts voraussetzt, daß ein Anspruch nach früherem (anderem) Recht nicht gegeben ist - worauf die Einschränkung in Satz 1 letzter Halbsatz hindeutet - entscheidet der Senat nicht. Zu dieser Frage, die auch von der Auslegung des Art. 2 Abs. 2 ÄndG - Anwendung des neuen Rechts in laufenden Verfahren - und möglicherweise dem Begriff der Kriegsfolgenlast nach Art. 120 GG abhängt, haben die Beteiligten noch nicht Stellung genommen. Die Einschränkung des obengenannten Satzes 2 bezieht sich auch auf die erste Alternative des Satzes 1, denn hiermit sind nur Personen gemeint, die in die Bundesrepublik zugezogen sind. Andere Deutsche, die durch eine Pockenschutzimpfung geschädigt worden sind, werden schon unmittelbar nach § 51 Abs. 1 BSeuchG nF oder - soweit es sich um Fälle handelt, in denen ein Verfahren bei Inkrafttreten des Änderungsgesetzes in Gang gesetzt oder schon abgeschlossen war - in Verbindung mit Art. 2 ÄndG entschädigt. Die Einschränkung des Satzes 2 ist aber nicht so weitgehend, wie dies nach früherem Recht der Fall war. Wie die Revision zutreffend darlegt, wird Entschädigung auch im Falle der Familienzusammenführung nach § 94 BVFG gewährt. Zwar konnten die Wohnsitzvoraussetzungen nach § 6 Abs. 1 Nr. 3 d AKG auch im Falle der Familienzusammenführung gegeben sein. Der Begriff der Familienzusammenführung war aber im AKG idF vor dem Reparationsschädengesetz vom 12. Februar 1969 gesetzlich nicht näher definiert. Die im Februar 1969 eingeführte Erläuterung (vgl. BGBl I, 1969, 133) konnte im Bescheid des Regierungspräsidenten Kassel vom 10. Dezember 1968 noch nicht berücksichtigt werden - der Widerspruchsbescheid vom 24. März 1969 hat sich mit der Frage der Familienzusammenführung nicht mehr befaßt -. Da das OLG zu dieser Frage keine Feststellungen getroffen hat - auch das LG hat insoweit eine nähere Prüfung unterlassen - ist die hier wesentliche Frage der Familienzusammenführung sowohl nach § 6 Abs. 1 Nr. 3 d AKG in der seit 1969 geltenden Fassung als auch nach dem nunmehr allein maßgebenden § 94 BVFG, worauf § 51 Abs. 3 Satz 2 BSeuchG nF verweist, ungeprüft geblieben. Da die Voraussetzungen der Familienzusammenführung nach § 94 BVFG, auf die es jetzt entscheidend ankommt, insbesondere auch vom OLG nicht geprüft worden sind, war dessen Urteil aufzuheben.

Die Prüfung, ob die Klägerin diese Voraussetzungen erfüllt, erfordert noch eine Reihe von Feststellungen, zu denen das BSG nicht befugt ist. Deshalb mußte die Sache an das Berufungsgericht - jetzt das Hessische LSG - zurückverwiesen werden. Bei der nunmehr vorzunehmenden Prüfung kann den vom Regierungspräsidenten in K in dem Bescheid vom 10. Dezember 1968 gemachten Ausführungen zu der Frage der Familienzusammenführung aus den oben erwähnten Gründen keine Bindungswirkung zukommen. Außerdem stellen sie nur zusätzliche Gründe für die Ablehnung des Antrags auf Ausstellung des Flüchtlingsausweises C dar. Voraussetzung für die Erteilung dieses Ausweises ist, daß der Antragsteller Sowjetzonenflüchtling (§§ 3, 4 BVFG) ist (vgl. § 15 Abs. 2 Nr. 3 BVFG). Über sonstige Rechtsfolgen einer Familienzusammenführung wird in diesem Verfahren nicht entschieden. Die Stellungnahme zur Frage der Familienzusammenführung kann schon deshalb nach § 15 Abs. 5 BVFG keine Bindungswirkung äußern. Im übrigen kann die Entscheidung auch insoweit, als der beantragte Ausweis abgelehnt worden ist, keine Bindungswirkung für die Stellen erzeugen, die über den Impfschaden zu entscheiden haben. Denn nach § 15 Abs. 5 BVFG sind nur diejenigen Behörden und Stellen gebunden, die für die Gewährung von Rechten und Vergünstigungen als Vertriebener oder Sowjetzonenflüchtling zuständig sind (vgl. BGH Urteil vom 25.März 1970 in RzW 1971, 444). Im vorliegenden Fall ist die Flüchtlingseigenschaft - wie auch die Familienzusammenführung - zwar eine Anspruchsvoraussetzung, nicht aber der für die Entstehung des Entschädigungsanspruchs maßgebende Umstand. Das ist allein die auf die Impfung zurückzuführende Schädigung.

Der Inhalt der Akten betreffend den C-Ausweis reicht nicht aus, die Frage der Familienzusammenführung zu entscheiden, zumal insoweit Feststellungen der Tatsacheninstanz fehlen. Es ist insbesondere nicht geklärt, welche Beziehungen zwischen der Klägerin und ihrem Sohn bestehen und warum die Klägerin nicht, wie angeblich beabsichtigt, zu ihrem Sohn gezogen ist. Zu prüfen wäre, ob und warum ein etwaiger Versuch, eine gemeinsame Wohnung zu beziehen, gescheitert ist. Außerdem ist davon auszugehen, daß nach § 94 BVFG nicht unbedingt erforderlich ist, daß der Zuziehende in die Wohnung des sich bereits in der Bundesrepublik Deutschland Befindlichen aufgenommen wird (vgl. Ehrenforth Kommentar zum BVFG 1959, § 94 Rndnr. 4 mit weiteren Nachweisen). Falls die weiteren Ermittlungen ergeben sollten, daß eine Familienzusammenführung i.S. des § 94 BVFG nicht vorliegt, ist zu prüfen, ob die an die Familienzusammenführung zu stellenden Anforderungen im Rahmen des § 51 Abs. 3 BSeuchG nF unter Würdigung der in der amtlichen Begründung zum ÄndG, Bundestags Drucksache VI/1568 zu § 51, Seite 8, erwähnten Gesichtspunkte etwa anders zu beurteilen sind als bei unmittelbarer Anwendung des § 94 BVFG. In diesem Falle wäre insbesondere auf die Frage einzugehen, welche Motive für den Ausschluß der Impfgeschädigten maßgebend waren, die freiwillig - d.h. ohne Vorliegen der Gründe der §§ 1, 3, 94 BVFG - in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gekommen sind, und ob damit möglicherweise nur diejenigen Umsiedler ausgeschlossen werden sollten, die von Dienststellen oder Ärzten der DDR - nach dortigen Vorschriften - einer Pockenschutzimpfung unterzogen worden sind. Auch wäre zu erwägen, ob bei der Zusammenführung hilfsbedürftiger Umsiedler - als hilfsbedürftig gilt nach § 6 Nr. 3 d AKG nF ganz allgemein schon, wer das 65. Lebensjahr vollendet hat - weniger strenge Maßstäbe anzulegen sind. Die von der Klägerin erhobene Rüge der Verletzung des Art. 3 GG könnte sich insofern vielleicht durch eine verfassungskonforme Interpretation des § 51 Abs. 3 BSeuchG nF erledigen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

NJW 1972, 2245

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