Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz bei Familienheimfahrten ausländischer Arbeitnehmer. Familienwohnung
Orientierungssatz
Bei einem verheirateten Versicherten, der zur Bestreitung des Lebensunterhalts seiner Familie einer Beschäftigung außerhalb des Wohnsitzes der Familie nachgeht, berechtigt eine längere Dauer des Aufenthalts am Beschäftigungsort jedoch nicht schon zu der Annahme, daß sich nunmehr dort auch seine ständige Familienwohnung befindet.
Normenkette
RVO § 550 Abs 3 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
SG Oldenburg (Entscheidung vom 20.04.1982; Aktenzeichen L 6 U 149/82) |
Tatbestand
Die Klägerin zu 1) ist die Witwe und die Kläger zu 2) bis 9) sind die in den Jahren 1963 bis 1976 geborenen Kinder des am 9. September 1978 an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorbenen türkischen Arbeiters H. S. Die Kläger wohnten zur Zeit des Todes des S. in M., Provinz T./O. S. war von 1964 an bis zu seinem Tod bei der Standortverwaltung M. als Schichtheizer in der zentralen Versorgungsanlage einer Kaserne beschäftigt. Er bewohnte in M. ein vom Bundesvermögensamt gemietetes Mansardenzimmer. Seine Familie wurde von ihm aus seinem Arbeitseinkommen unterhalten. Den Jahresurlaub verbrachte er regelmäßig bei seiner Familie in der Türkei. Im Jahre 1978 war S. für die Zeit vom 19. Juli bis 6. August 1978 Erholungsurlaub bewilligt worden. Diesen Urlaub verbrachte S. bei seiner Familie. Nachdem er wegen einer während des Urlaubs aufgetretenen Magen- und Darmentzündung vom 24. Juli bis 3. September 1978 erkrankt und arbeitsunfähig war, trat er am 6. September 1978 (Mittwoch) mit einem Kraftfahrzeug die Fahrt zu seinem Beschäftigungsort nach M. an. Zwischen Ankara und Istanbul stieß er am 8. September 1978 in der Nähe des Ortes Kizilcahaman während eines Überholvorganges mit einem entgegenkommenden Lastkraftwagen zusammen. Er starb an den dabei erlittenen Verletzungen am 9. September 1978. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 9. März 1981 Entschädigungsansprüche der Kläger ab. S. habe sich nicht auf dem Rückweg von einer Familienheimfahrt (§ 550 Abs 3 Reichsversicherungsordnung -RVO-) befunden. Denn der Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse habe sich infolge der langen Dauer seiner Tätigkeit in M. zwangsläufig an seinen Arbeitsort verlagert. Den Widerspruch der Kläger wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 7. September 1981 zurück.
Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide dem Grunde nach verurteilt, den Klägern Hinterbliebenenentschädigung aus der Unfallversicherung zu gewähren. Die Berufung hat es zugelassen (Urteil vom 20. April 1982). Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat die gegen die Gewährung von Hinterbliebenenrente gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 26. Januar 1983). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, daß sich der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des S. trotz des vierzehnjährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland nicht von dem Wohnort seiner Familie in der Türkei nach M. verlegt habe. Das LSG hat die Revision zugelassen. Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und wie folgt begründet: Die Lebensumstände des S. seien so gestaltet gewesen, daß er trotz seiner psychologischen und soziologischen Bindungen an die Kläger seinen Lebensmittelpunkt ausschließlich am Ort seiner Tätigkeit in M. gehabt habe. Von den vierzehn Jahren, in denen er bis zum Unfallzeitpunkt in der Bundesrepublik Deutschland seiner Arbeit nachgegangen sei, habe er sich mit Ausnahme seines Jahresurlaubs ständig in M. aufgehalten. Er habe in diesen vierzehn Jahren nur etwa 70 Wochen bei den Klägern, dagegen 658 Wochen in der Bundesrepublik Deutschland verlebt. Es sei nicht zu erkennen gewesen, daß S. seinen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland in absehbarer Zeit habe beenden wollen. Bei vernünftiger und lebensnaher Betrachtungsweise träten die persönlichen Beziehungen des S. zu den Klägern in der Türkei gegenüber der tatsächlichen Gestaltung seiner Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland dermaßen in den Hintergrund, daß sein möbliertes Mansardenzimmer Lebensmittelpunkt und damit ständige Familienwohnung iS des § 550 Abs 3 RVO gewesen sei. Folglich habe S. auf der Rückfahrt vom Wohnort der Kläger nach M. keinen Unfallversicherungsschutz genossen, so daß den Klägern die begehrten Hinterbliebenenrenten nicht zuständen.
Die Beklagte beantragt, die Urteile des LSG Niedersachsen vom 26. Januar 1983 und des SG Oldenburg vom 20. April 1982 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Sie halten das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Die Beklagte ist zu Recht verurteilt worden, den Klägern Hinterbliebenenrente zu gewähren. Denn der Ehemann bzw Vater der Kläger ist am 9. September 1978 durch einen Arbeitsunfall gestorben.
Nach § 589 Abs 1 Nr 3 RVO ist bei Tod durch Arbeitsunfall den Hinterbliebenen vom Todestage an Rente (Witwenrente: § 590 RVO; Waisenrente: § 595 RVO) zu gewähren. Als Arbeitsunfall gilt nach § 550 Abs 1 RVO ein Unfall auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Der Umstand, daß der Versicherte wegen der Entfernung seiner ständigen Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in der Nähe eine Unterkunft hat, schließt nach § 550 Abs 3 RVO die Versicherung auf dem Weg von und nach der Familienwohnung nicht aus. Der Gesetzgeber hat damit einen Versicherungsschutz geschaffen, der über den Versicherungsschutz des § 550 Abs 1 RVO hinausgeht und es ermöglicht, rechtlich die dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnenden Beweggründe für die Fahrt weitgehend unberücksichtigt zu lassen. Jedoch hängt die Anwendung des § 550 Abs 3 RVO davon ab, daß es sich bei dem Ziel des Weges oder seinem Ausgangspunkt um die ständige Familienwohnung des Versicherten handelt und der Versicherte am Beschäftigungsort oder in der Nähe eine Unterkunft hat (vgl BSGE 1, 171, 173; 2, 78, 80; BSG BG 1969, 195; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Auflg S 485 t mwN). Nach den von der Rechtsprechung zu dem Begriff "Familienwohnung" entwickelten Grundsätzen muß die Wohnung den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten bilden (RVA EuM 49, 140; BSGE 1, 171, 173; 2, 78, 80; 5, 165, 166; 17, 270, 271; 20, 110, 111; 25, 93, 95; 35, 32, 33; 37, 98, 99; SozR 2200 § 550 Nr 31; BSG USK 72217 und 73108; BSG Breith 1966, 383). Die Beurteilung, ob die hiernach erforderlichen Voraussetzungen gegeben sind, richtet sich nach der tatsächlichen Gestaltung der Verhältnisse zur Unfallzeit (BSGE 2, 78, 81; 35, 32, 33; BSG USK 72217, 73108 und 74108; BSG Urteile vom 31. Oktober 1972 - 2 RU 56/72 -, vom 4. November 1981 - 2 RU 33/80 - und vom 30. März 1982 - 2 RU 53/80 -).
Zutreffend hat das LSG entschieden, daß S. zur Unfallzeit den Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse bei seiner Familie in M. (Türkei) hatte. Die Tatsache, daß S. an seinem Arbeitsort in M. ein möbliertes Mansardenzimmer bewohnte, ist für sich allein nicht geeignet, M. als den Ort der ständigen Familienwohnung des S. anzusehen. Wie der Senat bereits entschieden hat, kommt den Wohnverhältnissen des Versicherten am Beschäftigungsort oder bei seiner Familie ohnehin nur geringe Bedeutung zu (vgl BSG Urteil vom 30. März 1982 - 2 RU 53/80). Zudem gebietet der Zweck des Gesetzes auch nicht, den Begriff der Unterkunft mit der Vorstellung eines behelfsmäßigen Unterkommens zu verbinden (BSGE 20, 110, 113; USK 73108). Daher bedarf es keiner detaillierten Feststellungen, wie bescheiden die Wohnverhältnisse des S. in M. oder in M. waren. Größeres Gewicht hat demgegenüber die Dauer einer auswärtigen Beschäftigung des Versicherten. Insbesondere bei ledigen Versicherten verlagert sich regelmäßig der Lebensmittelpunkt mit dem Hineinwachsen in eine persönliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit im Laufe der Zeit vom Elternhaus an den Ort der Tätigkeit (BSGE 5, 165, 166; SozR Nr 17 und 24 zu § 543 RVO aF). Bei einem verheirateten Versicherten, der zur Bestreitung des Lebensunterhalts seiner Familie einer Beschäftigung außerhalb des Wohnsitzes der Familie nachgeht, berechtigt eine längere Dauer des Aufenthalts am Beschäftigungsort jedoch nicht schon zu der Annahme, daß sich nunmehr dort auch seine ständige Familienwohnung befindet. Insbesondere kann aus der Gegenüberstellung der Wochen, die der Versicherte insgesamt schon auswärts gearbeitet und der Wochen, die er sich in dieser Zeit bei seiner Familie aufgehalten hat, nicht entnommen werden, daß sich seine Familienwohnung dort befindet, wo er die weitaus längere Zeit gelebt hat. Eine solche rechnerische Gegenüberstellung, wie sie die Beklagte ihrer rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt hat, verkennt, daß bei der Auslegung des Begriffs der Familienwohnung psychologische und soziologische Gegebenheiten entscheidend zu berücksichtigen sind (BSGE 5, 165, 167; 20, 110, 113; 25, 93, 95; SozR Nr 17 zu § 543 RVO aF; BSG USK 72217). Nach den Feststellungen des LSG hat S. den Lebensunterhalt seiner vielköpfigen Familie aus seinem Arbeitseinkommen bestritten. Außerdem hat er auch seinen Jahresurlaub stets bei seiner Familie in der Türkei verbracht. Zu Recht hat das LSG daraus auf eine innere Verbundenheit des S. mit seiner Familie geschlossen. Denn hierdurch traten die persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Familie nach außen in Erscheinung. Aus dem angefochtenen Urteil ergibt sich zudem kein Anhalt dafür, daß sich S. etwa im Laufe der Jahre seiner Familie entfremdet hat. Im Hinblick auf die weite Entfernung zwischen dem Beschäftigungsort des S. und dem Wohnort seiner Familie in der Türkei bietet die jährlich einmal durchgeführte Fahrt zur Familie gleichfalls keinen Anhalt für eine Lockerung der Beziehungen zwischen S. und seiner Familie und eine Verlagerung der ständigen Familienwohnung an den Beschäftigungsort (BSG USK 73108). Da sich S. nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG im Zeitpunkt des Unfalls auf dem direkten Weg von dem Wohnort seiner Familie nach M. befunden hat, besteht kein Anlaß an dem ursächlichen Zusammenhang zwischen der Zurücklegung des Weges und der versicherten Tätigkeit des S. als Schichtheizer zu zweifeln. Somit hat S. einen Arbeitsunfall erlitten, an dessen Folgen er am 9. September 1978 gestorben ist. Dies rechtfertigt den Anspruch der Kläger auf Hinterbliebenenrente.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen