Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz für Familienheimfahrt bei verzögertem Antritt des Weges
Leitsatz (amtlich)
Zum Versicherungsschutz auf dem Weg nach der Familienwohnung (§ 550 Abs 3 RVO), wenn die Fahrt mehr als zwei Stunden nach Beendigung der Arbeit angetreten wird.
Orientierungssatz
Die insbesondere im Interesse der Rechtssicherheit getroffene zeitliche Abgrenzung für den Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO (vgl BSG 1979-12-18 2 RU 53/78 = SozR 2200 § 550 Nr 42) läßt sich jedoch schon wegen der Unterschiedlichkeiten der Fallgestaltungen nicht auf Familienheimfahrten iS des § 550 Abs 3 RVO übertragen.
Normenkette
RVO § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01; RVO § 550 Abs 3 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 15.07.1982; Aktenzeichen L 6 U 34/82) |
SG Hannover (Entscheidung vom 07.12.1981; Aktenzeichen S 13 U 316/80) |
Tatbestand
Der im Jahre 1943 geborene Kläger war als Förderarbeiter bei der Firma D auf der Bohrung F, etwa 20 km von M entfernt, beschäftigt. Während seines Einsatzes auf dieser Bohrung war er in einem wenige km entfernt in H aufgestellten Wohnwagen untergebracht. Seine Familienwohnung befand sich in T in etwa 120 km Entfernung von H. Am 7. Mai 1980, einem Mittwoch, verließ der Kläger nach Beendigung seiner zwölfstündigen Arbeitszeit (6 bis 18.00 Uhr) um 18.30 Uhr die Arbeitsstelle. Gegen 1.20 Uhr am 8. Mai 1980 verunglückte er mit seinem Pkw, die Bundesstraße B 213 in Richtung L (und T) befahrend, in der Ortschaft H , etwa 50 km von seiner Unterkunft entfernt. Er kam nach rechts von der Fahrbahn ab, prallte mit dem Pkw gegen eine Hausmauer und ein Geländer und wurde aus dem Pkw geschleudert. Dabei zog er sich ua ein schweres Schädel-Hirn-Trauma zu. Die ihm um 3.50 Uhr entnommene Blutprobe enthielt 0,63 %o Alkohol; eine Verdünnung des untersuchten Blutes mit Infusionsflüssigkeit und dadurch eine Verfälschung dieses Wertes zugunsten des Klägers wurde für möglich gehalten.
Die Beklagte lehnte eine Entschädigung ab, da alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen sei (Bescheid vom 23. September 1980, Widerspruchsbescheid vom 3. November 1980).
Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Hannover abgewiesen (Urteil vom 7. Dezember 1981): Der Kläger sei im Unfallzeitpunkt mit einer Blutalkoholkonzentration (BAK) von etwa 0,8 %o relativ fahruntüchtig gewesen. Darin liege die rechtlich allein wesentliche Unfallursache. Die Unfallstelle sei keine besondere Gefahrenquelle, eine Blendung durch ein entgegenkommendes Fahrzeug nicht bewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 15. Juli 1982) und zur Begründung ua ausgeführt: Aufgrund der glaubhaften Aussage der Ehefrau des Klägers und der von diesem gewählten Fahrstrecke sei zwar davon auszugehen, daß sich der Kläger im Unfallzeitpunkt auf dem Weg von seiner Unterkunft zu seiner Familienwohnung befunden habe. Der Versicherungsschutz nach § 550 Abs 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei jedoch ausgeschlossen, weil die Fahrt - frühestens um 0.30 Uhr - verspätet begonnen worden sei. Werde die Heimfahrt aus privaten Gründen mehr als zwei Stunden nach Beendigung der Arbeitszeit angetreten, sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) eine Lösung von der versicherten Tätigkeit anzunehmen. Die vom BSG angedeutete Anlegung eines großzügigeren Maßstabes bei Familienheimfahrten nach § 550 Abs 3 RVO erfordere es, daß die Verzögerung der Heimfahrt durch die Besonderheiten von Familienheimfahrten gerechtfertigt sei. Solche Besonderheiten seien hier nicht gegeben. Der Kläger habe die Fahrt zur Familienwohnung mit dem Pkw in etwa eineinhalb bis zwei Stunden zurücklegen können. Eine weite Entfernung zwischen Unterkunft und Familienwohnung, die es rechtfertige und geradezu gebiete, die Wochenendheimfahrt oder die Heimfahrt vor Antritt eines Urlaubs erst am nächsten Morgen nach dem Arbeitsende anzutreten, habe somit nicht bestanden. Es habe sich nicht um die Heimfahrt vor einem Urlaub gehandelt, da der Kläger am 8. Mai 1980 keinen Urlaub gehabt, sondern nach der Aussage seiner Ehefrau lediglich beabsichtigt habe, am 8. Mai 1980 Urlaub zu beantragen. Die dem Kläger nach seiner zwölfstündigen Arbeitszeit einzuräumende Ruhepause vor Antritt seiner abendlichen Familienheimfahrt sei mit zwei Stunden ausreichend bemessen. Selbst wenn von einer starren Anwendung der Zweistundengrenze abgesehen und eine weitere Stunde für Waschen und Essen hinzugerechnet werde, hätte der Kläger hinreichend ausgeruht zumindest gegen 22.00 Uhr die Heimfahrt antreten können. Der wesentlich spätere Beginn der Fahrt sei nicht mehr wegen der typischen Umstände einer Familienheimfahrt geboten gewesen, so daß es an der erforderlichen Beziehung zur versicherten Tätigkeit gefehlt habe. Dies werde auch dadurch deutlich, daß der Kläger sich nach einer Ruhepause im Wohnwagen von 19.55 Uhr bis 21.45 Uhr im Fernsehen ein UEFA-Cup-(Fußball-) Spiel angesehen habe. Es komme deshalb nicht darauf an, ob der Unfall rechtlich wesentlich allein auf einer alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit des Klägers beruhe.
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 550 Abs 3 RVO. Nach seiner Auffassung ist es für den Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift unerheblich, ob die Heimfahrt innerhalb von zwei oder mehr Stunden nach Arbeitsende oder erst am folgenden Morgen angetreten wird. Es müsse insoweit dasselbe gelten wie bei einem Betriebswegeunfall.
Er beantragt, die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. September 1980 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 3. November 1980 aufzuheben und festzustellen, daß ein schweres Schädel-Hirn-Trauma Folge des Arbeitsunfalls am 8. Mai 1980 ist.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Der Kläger befand sich nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG (s § 163 SGG) im Zeitpunkt seines Unfalles auf dem Weg von dem in der Nähe seiner Arbeitsstelle abgestellten, ihm während seines Einsatzes auf der Bohrstelle F als Unterkunft dienenden Wohnwagen in H nach seiner etwa 120 km entfernt in T liegenden Wohnung, in der sich seine Familie (Ehefrau und Kinder) weiterhin aufhielt. Als Arbeitsunfall (§ 548 RVO) gilt ua auch ein Unfall auf einem mit einer in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg von dem Ort der Tätigkeit (§ 550 Abs 1 RVO), und der Umstand, daß der Versicherte wegen der Entfernung seiner ständigen Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft hat, schließt die Versicherung auf dem Weg von und nach der Familienwohnung nicht aus (§ 550 Abs 3 RVO). Nach der Auffassung des LSG hat für den Kläger wegen des zeitlichen Abstandes von etwa sechseinhalb Stunden seit dem Ende seiner Arbeitszeit bis zum Antritt des Weges von der Unterkunft zur Familienwohnung im Unfallzeitpunkt kein Versicherungsschutz nach § 550 Abs 3 RVO bestanden. Dieser Auffassung stimmt der Senat nicht zu.
Während einer privaten Verrichtungen dienenden erheblichen Unterbrechung des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit besteht kein Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO; der Unterbrechung während des Weges steht der verzögerte Beginn des Weges insoweit gleich. Nach Beendigung der Unterbrechung ist jedoch auf dem danach begonnenen bzw fortgesetzten Weg der Versicherungsschutz grundsätzlich wieder gegeben. Der Zeitdauer der Unterbrechung kommt allerdings für die Beurteilung der Frage, ob eine Lösung des Zusammenhanges zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Weg von dem Ort der Tätigkeit iS des § 550 Abs 1 RVO eingetreten ist, besondere Bedeutung zu. Nach der Rechtsprechung des BSG zu § 550 Abs 1 RVO ist eine Unterbrechung oder ein verzögerter Antritt des Weges um bis zu zwei Stunden für den Versicherungsschutz unschädlich (s BSG SozR 2200 § 550 Nrn 12, 27, 42). Diese insbesondere im Interesse der Rechtssicherheit getroffene zeitliche Abgrenzung für den Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO läßt sich jedoch schon wegen der Unterschiedlichkeiten der Fallgestaltungen nicht auf Familienheimfahrten iS des § 550 Abs 3 RVO übertragen. Das BSG hat auch nach dem Beginn der stärkeren Betonung der Zeitdauer der Unterbrechung im Rahmen des § 550 Abs 1 RVO (s BSG SozR 2200 § 550 Nr 12) diese Rechtsprechung nicht auf die Entscheidung über den Versicherungsschutz nach § 550 Abs 3 RVO übertragen und den Versicherungsschutz nicht schon wegen eines um mehr als zwei Stunden hinausgeschobenen Antritts der Fahrt,sondern aus anderen, die Besonderheiten des jeweiligen Falles kennzeichnenden Gründen verneint (s BSG Urteil vom 9. März 1978 - 2 RU 25/76).
Für Fahrten zur Familienwohnung hat der Gesetzgeber einen Versicherungsschutz geschaffen, der über den Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO hinausgeht und es ermöglicht, rechtlich die dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnenden Beweggründe für die Fahrt weitgehend unberücksichtigt zu lassen (s BSGE 1, 171, 173; BSG SozR 2200 § 550 Nr 6). Sinn und Zweck dieser Sonderregelung gestatten es nicht, strenge Anforderungen hinsichtlich des Beginns der Fahrt zu stellen (s BSG SozR aaO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl, S 486 b). Eine für alle Familienheimfahrten einheitliche Zeitbegrenzung für den Antritt des Weges von dem Ort der Tätigkeit, wie dies im Rahmen des § 550 Abs 1 RVO wegen der durch die Dauer von zwei Stunden vertretbaren Typisierung (s BVerfGE 13, 21, 29; 17, 1, 25; 26, 265, 275 f; 51, 115, 122) möglich ist, ließe sich wegen der Vielfalt der für eine solche Begrenzung zu berücksichtigenden Fallgestaltungen bei Familienheimfahrten nicht begründbar festlegen. Entweder würden die Härtefälle, die mit der durch die Zeitgrenze von zwei Stunden bezweckten Typisierung verbunden sind, hier nicht nur eine vertretbar verhältnismäßig kleine Zahl von Versicherten betreffen (s BVerfGE 26, 265, 275), oder aber es müßten so weitgehende Ausnahmen im Einzelfall zugelassen werden, die wiederum eine Typisierung in Frage stellen würden. Anders als für den Versicherungsschutz auf der Fahrt von dem Ort der Tätigkeit nach § 550 Abs 1 RVO müßten für die Familienheimfahrt jeweils bezogen auf den einzelnen Versicherten ua die Entfernung, die Verkehrs- und Witterungsverhältnisse, die Leistungsfähigkeit des Versicherten, seine Fahrpraxis und -fähigkeiten, die Anforderungen der vorangegangenen Tätigkeit und alle diese Umstände oft noch in ihrem Zusammenwirken beachtet werden. Soweit aus einem großen zeitlichen Abstand zwischen dem Ende der Arbeit und dem Beginn des Heimweges im Einzelfall geschlossen werden kann, daß der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gelöst ist (s BSG Urteil vom 9. März 1978 - 2 RU 25/76 -: 18 Tage), kommt dies jedenfalls für einen Fall der vorliegenden Art nicht in Betracht. Der Kläger hat nach zwölfstündiger Arbeit um 18.30 Uhr die Arbeitsstelle verlassen und nach rund sechsstündigem Aufenthalt in seiner Unterkunft die 120 km lange Heimfahrt begonnen. In einem Fall, in dem eine Versicherte die - nur 50 km lange - Heimfahrt am Tage nach Beendigung der Arbeit angetreten hatte, hat der Senat den Versicherungsschutz ebenfalls bejaht (Urteil vom 12. März 1974 - 2 RU 209/72 - USK 74108). Der Senat hat zwar aaO darauf hingewiesen, daß für den Antritt der Fahrt am folgenden Tag triftige Gründe vorgelegen hätten. Daraus ist aber nicht zu folgern, daß es an dem ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Fahrt zur Familienwohnung fehlt, wenn der Versicherte nach einer zwölfstündigen Arbeitszeit nicht an demselben Abend, sondern erst am nächsten Morgen oder, wie hier, noch in der Nacht die Fahrt antritt.
Sind somit die Voraussetzungen des § 550 Abs 3 RVO im vorliegenden Fall gegeben, kann der Senat gleichwohl nicht in der Sache entscheiden. Die von der Beklagten und dem SG bejahte Frage, ob der Versicherungsschutz wegen einer alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit als rechtlich allein wesentliche Unfallursache entfallen ist, hat das LSG - nach seiner Rechtsauffassung - offengelassen. Da hiervon aber nach der Entscheidung des Senats der Versicherungsschutz abhängt, das BSG aber die dazu erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht treffen kann, ist die Sache an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden hat.
Fundstellen