Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 11.01.1991) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. Januar 1991 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob für die Klägerin die Zeit vom 1. Juni 1986 bis 31. Mai 1987 als Zeit der Pflichtversicherung wegen Kindererziehung nach § 1227a Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw §§ 3 Nr 1, 56, 249 Abs 1 Sozialgesetzbuch – Sechstes Buch – (SGB VI) von der Beklagten vorzumerken ist.
Die Klägerin ist srilankische Staatsangehörige tamilischer Volkszugehörigkeit und lebt nach ihren Angaben seit 12. Juli 1985 in der Bundesrepublik Deutschland. Sie hatte einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte gestellt. Dieser Antrag ist rechtsverbindlich abgelehnt. Die am 16. Mai 1986 geborene Tochter Dilany der Klägerin ist seitdem unter der Anschrift der Klägerin gemeldet.
Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin auf Vormerkung von Kindererziehungszeiten für dieses Kind ab (Bescheid vom 5. Oktober 1987). In ihrem Widerspruch wies die Klägerin darauf hin, daß sie als srilankische Staatsangehörige tamilischer Volkszugehörigkeit unabhängig vom Ausgang des Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland zumindest zu dulden sei und wies weiter auf einen Erlaß des Innenministers des Landes Nordrhein-Westfalen – sog Tamilenerlaß – hin, worin die Ausländerbehörden angewiesen werden, Tamilen nicht nach Sri Lanka abzuschieben.
Auf die gegen den ablehnenden Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 1988 erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte verurteilt, die Zeit vom 1. Juni 1986 bis 31. Mai 1987 als Zeit der Versicherungspflicht wegen Kindererziehung anzuerkennen (Urteil vom 8. Dezember 1989). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11. Januar 1991).
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Klägerin. Die Klägerin rügt eine Verletzung des § 30 Abs 3 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I).
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 5. Oktober 1987 zu verurteilen, die Zeit vom 1. Juni 1986 bis zum 31. Mai 1987 als Zeit der Versicherungspflicht wegen Kindererziehung anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die durch Zulassung statthafte Revision der Klägerin ist nicht begründet.
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässig. Die Klägerin macht einen Anspruch auf Anerkennung (Vormerkung) einer Versicherungszeit geltend. Über den Anspruch auf Vormerkung einer Versicherungszeit ist seit dem 1. Januar 1992 allein nach den Vorschriften des SGB VI zu entscheiden. Nach § 300 Abs 1 SGB VI finden die Vorschriften dieses Gesetzbuches von dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an auf einen Sachverhalt oder Anspruch auch dann Anwendung, wenn bereits vor diesem Zeitpunkt der Sachverhalt oder Anspruch bestanden hat. Von § 300 Abs 1 SGB VI abweichende Regelungen greifen hier nicht ein (vgl hierzu auch BSG, Urteil vom 25. Februar 1992 – 4 RA 34/91 – zur Veröffentlichung vorgesehen).
Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, daß über die von ihr beantragte Vormerkung einer Versicherungszeit entschieden wird. Die Beklagte ist zwar nach § 149 Abs 5 SGB VI nur verpflichtet, die im Versicherungsverlauf enthaltenen Daten durch Bescheid festzustellen, soweit diese länger als 6 Kalenderjahre zurückliegen, was hier noch nicht der Fall ist. Die Beklagte hat hier aber über die beantragte Vormerkung der Versicherungszeit sachlich mit dem angefochtenen Bescheid entschieden. Dieser Vormerkungsbescheid muß inhaltlich zutreffend sein (vgl Urteil des 4. Senats vom 28. Februar 1991 – 4 RA 76/90 – = SozR 3-2200 § 1227a Nr 7). Die Beklagte als örtlich zuständiger Träger der Rentversicherung der Arbeiter ist nach § 126 Abs 3 SGB VI nach Wahl der Klägerin auch der für die Versicherung wegen Kindererziehung zuständige Rentenversicherungsträger.
Sachlich kann die Revision keinen Erfolg haben. Die Beklagte hat es mit den angefochtenen Bescheiden zu Recht abgelehnt, eine Versicherungspflicht wegen Kindererziehung vorzumerken. Die Zeit von 12 Monaten nach Ablauf des Monats der Geburt des im Mai 1986 geborenen Kindes (vgl § 249 Abs 1 SGB VI) dh die Zeit vom 1. Juni 1986 bis 31. Mai 1987 kann nicht als Zeit der Versicherungspflicht wegen Kindererziehung nach § 3 Nr 1 SGB VI anerkannt werden, weil in diesem Zeitraum die Voraussetzungen des § 56 SGB VI für die Anrechnung einer Kindererziehungszeit nicht vorlagen. Nach der zuletzt genannten Vorschrift sind Zeiten der Kindererziehung als Kindererziehungszeit ua nur anzurechnen, wenn die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist oder einer solchen gleichsteht (§ 56 Abs 1 Nr 2 SGB VI). Es ist im vorliegenden Fall nichts dafür ersichtlich, daß die Erziehung des Kindes der Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gleichstehen könnte iS von § 56 Abs 3 Sätze 2 und 3 SGB VI. Die Klägerin hat ihr Kind aber auch nicht iS von § 56 Abs 1 Nr 2 SGB VI im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erzogen. Dies ist dann der Fall, wenn der erziehende Elternteil sich mit dem Kind in der Bundesrepublik Deutschland gewöhnlich aufgehalten hat (§ 56 Abs 3 Satz 1 SGB VI). Die Voraussetzung, daß eine Kindererziehungszeit nur bei gewöhnlichem Aufenthalt des erziehenden Elternteils und des Kindes im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland anerkannt werden kann, ist auch schon in dem zZ der Entscheidung des LSG noch geltenden § 1227a RVO enthalten gewesen. Der Senat kann daher ungeachtet des erstmals im Revisionsverfahren anwendbaren neuen Rechts in der Sache entscheiden, denn das LSG hat zu diesem Tatbestandsmerkmal ausreichende Feststellungen getroffen.
Nach den Feststellungen des SG, die das LSG als unstreitig seiner Entscheidung zugrundegelegt hat und die im Revisionsverfahren von der Klägerin nicht angefochten worden sind, war der Aufenthalt der Klägerin im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland bis zum 31. Mai 1987 nur nach § 20 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) zur Durchführung des Asylverfahrens gestattet bzw nach § 17 Ausländergesetz vom 28. April 1965 – BGBl I S 353 – (AuslG aF) geduldet. Dieser aufenthaltsrechtliche Status der Klägerin im Zeitraum der ersten 12 Monate der Kindererziehung schließt die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts im Bundesgebiet iS von § 56 Abs 3 Satz 1 SGB VI iVm § 30 Abs 3 SGB I aus.
Die Frage, wann ein Ausländer seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, ist vom Bundessozialgericht (BSG) ungeachtet der vereinheitlichenden Definition des gewöhnlichen Aufenthalts in § 30 Abs 3 SGB I für den Bereich verschiedener Sozialgesetze unterschiedlich beantwortet worden (vgl für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung; BSGE 57,93 = SozR 2200 § 205 Nr 56; für den Geltungsbereich des Bundeskindergeldgesetzes ≪BKGG≫; BSGE 53, 294 = SozR 5870 § 1 Nr 10 und aaO Nr 14). Für den Bereich des Bundeserziehungsgeldgesetzes (BErzGG) hat der 4. Senat des BSG ua mit Urteilen vom 27. September 1990 (BSGE 67, 243 = SozR 3-7833 § 1 Nr 2) und 28. November 1990 (- 4 REg 17/89 – nicht veröffentlicht) den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland iS von § 1 BErzGG nicht auf alle Ausländer angewendet, die sich (faktisch) im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, sondern für diesen Begriff auch auf den ausländerrechtlichen Aufenthaltsstatus abgestellt. Ausländer haben danach solange keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, solange ihr Aufenthalt im Inland ausländerrechtlich nur vorübergehend und nicht rechtlich beständig gestattet ist. Dies gilt auch für Asylbewerber während der Dauer des Asylverfahrens, soweit deren Antrag – wie im Falle der Klägerin – rechtsverbindlich abgelehnt worden ist. Nur vorübergehend ist dabei nicht nur der Aufenthalt, der auf Grund einer Aufenthaltsgestattung nach § 20 AsylVfG zur Durchführung des Asylverfahrens gestattet ist, sondern auch der nach § 17 AuslG aF bzw § 55 AuslG vom 9. Juli 1990 – BGBl I S 1354 – (AuslG nF) formell rechtmäßige aber materiell unberechtigt geduldete Aufenthalt im Inland. Der 4. Senat hat dabei klargestellt, daß grundsätzlich der ausländerrechtliche Status in dem Zeitraum maßgebend ist, für den die sozialrechtliche Leistung bzw Anerkennung begehrt wird, so daß eine später erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis (§ 5 AuslG aF) einen bis dahin nur geduldeten (§ 17 AuslG aF) und deshalb nur vorübergehenden Aufenthalt nicht rückwirkend für die Zeit vor Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zum gewöhnlichen Aufenthalt macht. Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) durch Beschluß vom 14. Mai 1991 (SozR 3-7833 § 1 Nr 4) bestätigt, daß es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, wenn während des Asylverfahrens das Bestehen eines gewöhnlichen Inlandsaufenthaltes iS des § 1 Abs 1 Nr 1 BErzGG durch das BSG verneint worden ist, auch wenn die Ausländerbehörde später nach rechtsverbindlicher Ablehnung des Asylantrags von einer Abschiebung des Antragstellers abgesehen hat. Die insoweit bestehende Ausnahme, daß eine die Asylberechtigung feststellende Entscheidung auch Rückwirkung entfaltet (vgl die Urteile des 4. Senats in BSGE 65, 261, 263 = SozR 7833 § 1 Nr 7 und SozR 3-1500 § 114 Nr 2) kommt hier nicht in Betracht, denn der Asylantrag der Klägerin ist rechtsverbindlich abgelehnt.
Der erkennende Senat schließt sich der aufgezeigten und vom BVerfG nicht beanstandeten Rechtsprechung des 4. Senats auch für die Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts in § 56 Abs 3 Satz 1 SGB VI an. Dies gilt zunächst insoweit, als auch der erkennende Senat davon ausgeht, daß die in § 30 Abs 3 SGB I enthaltene Legaldefinition den Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes grundsätzlich für alle Bücher des SGB einheitlich umschreibt, die konkrete normative Bedeutung dieses Begriffs sich jedoch erst aus dem Gesetz ergibt, das ihn verwendet und nach dessen Sinn und Zweck er ausgelegt werden muß (vgl BSG SozR 3-7833 § 1 Nr 2 Seite 10). Auch für § 56 Abs 3 Satz 1 SGB VI gilt, daß diese Vorschrift eine einseitige Kollisionsnorm ist, die den persönlichen Anwendungsbereich des Gesetzes – Begünstigung der Kindererziehenden – einschränkt (vgl dazu für den Bereich des BErzGG BSG SozR 3-7833 § 1 Nr 2 S 9). Auch für die Auslegung des Begriffes in § 56 Abs 3 Satz 1 SGB VI ist dabei wie im BErzGG der ausländerrechtliche Aufenthaltsstatus eines Ausländers zu berücksichtigen. Aus dem Zweck der Kindererziehungszeit folgt dabei, daß der Aufenthalt des Begünstigten mindestens rechtlich so beständig sein muß, wie es der 4. Senat für den Anspruch auf Bundeserziehungsgeld fordert.
Die Anrechnung von Kindererziehungszeiten hat im Gegensatz etwa zu den Leistungen nach dem BKGG oder dem BErzGG keine unmittelbaren finanziellen Vorteile für den Begünstigten. Leistungen können erst beim Eintritt des Versicherungsfalls als Renten wegen Alters bzw verminderter Erwerbsfähigkeit (§ 33 SGB VI), dh in der Regel erhebliche Zeit nach dem Anrechnungszeitraum gewährt werden. Die Kindererziehungszeiten dienen damit der langfristigen sozialen Absicherung der erziehenden Eltern. Die Gewährung dieser Sozialleistung ist damit im besonderen Maße nur dann gerechtfertigt, wenn auch der ausländerrechtliche Aufenthaltsstatus materiell-rechtlich gebilligt und nicht nur vorübergehend geduldet und damit nicht rechtlich beständig gestattet ist. Der Asylbewerber, der während der ersten 12 Monate der Kindererziehung – wie die Klägerin – nur im Besitz einer Aufenthaltsgestattung nach § 20 AsylVfG ist oder nur nach § 17 AuslG aF geduldet ist, hält sich demnach während dieser Kindererziehungszeit nicht gewöhnlich im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland auf iS von § 56 Abs 3 Satz 1 SGB VI.
Unerheblich ist, ob die Klägerin nach dem 31. Mai 1987 – also nach Ablauf des streitigen Zeitraums – eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis (§ 5 AuslG aF) erhalten haben sollte, wie sie vorträgt. Auch für § 56 Abs 3 Satz 1 SGB VI gilt, daß Veränderungen des aufenthaltsrechtlichen Status unbeachtlich sind, die erst nach dem Zeitraum eintreten, für den eine Kindererziehungszeit anrechenbar wäre (hier gemäß § 249 Abs 1 SGB VI für 12 Kalendermonate nach Ablauf des Monats der Geburt). Dies folgt schon daraus, daß für die Beurteilung der Kindererziehungszeit als Zeit der Versicherungspflicht (§ 3 SGB VI) – wie stets bei der Beurteilung der Versicherungspflicht – grundsätzlich auf die Umstände im Zeitpunkt des Eintritts der Versicherungspflicht abzustellen ist. Eine Korrektur dieser Beurteilung durch später eintretende Umstände ließe sich allenfalls damit rechtfertigen, daß nicht die Umstände im Zeitraum der Kindererziehung, sondern die Umstände im Zeitpunkt der Leistungsgewährung, dh des Versicherungsfalles für die Leistungen wegen Kindererziehung maßgebend sein sollten. Der Gesetzgeber hat aber nicht auf die Umstände im Zeitpunkt der Leistungsgewährung abgestellt, sondern durch die Ausgestaltung der Kindererziehungszeit als Zeit der Versicherungspflicht auf die zur Zeit der womöglich anrechenbaren Kindererziehung maßgebenden Umstände.
Über den besonderen Fall, daß die Asylberechtigung nachträglich festgestellt wird, war hier nicht zu entscheiden (vgl hierzu das ebenfalls zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil vom heutigen Tage in der Sache 5 RJ 4/92).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen