Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Antrag auf Anhörung eines bestimmten Arztes gem § 109 SGG
Orientierungssatz
Bei einem Antrag auf Anhörung eines bestimmten Arztes gem § 109 SGG ist die ausdrückliche Anführung "Anhörung nach § 109 SGG" nicht erforderlich.
Normenkette
SGG § 109
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 15.09.1955) |
SG Lübeck (Urteil vom 18.01.1955) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 15. September 1955 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Ehemann der Klägerin ist am 5. August 1948 im Alter von 63 Jahren an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorben, durch den er eine linksseitige Hüftgelenksluxation mit Pfannenbruch erlitten hatte; Todesursache war eine im Verlauf der Behandlung eingetretene Lungenentzündung. Er bezog bis zum Tode Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 50 % wegen "Schlotterknie links mit Knacken im Kniegelenk und Neigung zum Umknicken des Beines im Kniegelenk und starker Behinderung des Gehens und Schonungsbedürftigkeit des linken Beines; Neigung zur Erschlaffung des Herzmuskels mit Schwächezuständen und Ohnmachtsanwandlungen", als durch Kriegseinwirkungen entstanden.
Am 17. August 1951 beantragte die Klägerin die Gewährung von Witwenrente, weil nach ihrer Ansicht ihr Ehemann sich bei seinem Unfall infolge des Zustands des verletzten linken Beines nicht richtig habe abstützen können und deshalb der Bruch der Hüftgelenkspfanne eingetreten sei; außerdem hätte er das Krankenlager überstehen können, wenn er nicht an dem anerkannten Herzleiden gelitten hätte. Die Krankenpapiere über die letzte Krankheit des Ehemannes der Klägerin sind nicht auffindbar. Das Versorgungsamt (VersorgA.) lehnte - gestützt auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme des Versorgungsarztes Dr. R. vom 13. Dezember 1952 - durch Bescheid vom 12. Januar 1953 die Gewährung einer Witwenrente ab, weil der Ehemann der Klägerin an den Folgen einer Lungenentzündung und an Kreislaufschwäche gestorben und der Tod nicht Folge der anerkannten Schädigung sei. Der Einspruch der Klägerin blieb erfolglos.
Ihre Berufung nach altem Recht ist auf das Sozialgericht (SG.) Lübeck als Klage übergegangen. Dieses hat den seinerzeit behandelnden Stationsarzt, den leitenden Arzt der chirurgischen Abteilung des A.-Krankenhauses, Dr. C... gehört, der in seiner Äußerung vom 4. Dezember 1954 zu dem Ergebnis gekommen ist, der Ehemann der Klägerin hätte wahrscheinlich das Krankenlager überstanden, wenn sein Herz gesund gewesen wäre; das linksseitige Schlotterknie habe für den Hergang des Unfalls und für die Art der Verletzung keine ausschlaggebende Rolle gespielt. Nach Anhörung der Sitzungsärzte, Oberarzt Dr. B... und Med. Direktor Dr. G... die hiermit im wesentlichen übereinstimmten, hat das SG. durch Urteil vom 18. Januar 1955 den Bescheid des VersorgA. und die Entscheidung des Beschwerdeausschusses aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin vom 1. August 1951 an Witwenrente zu gewähren. Es hat ausgeführt, der Zustand am linken Bein habe für das Ableben keine entscheidende Rolle gespielt. Jedoch habe der Ehemann der Klägerin die Anstrengungen des Krankenlagers infolge des leistungsschwachen Herzens nicht überstanden, was wahrscheinlich bei Herzgesundheit der Fall gewesen wäre. Das Herzleiden sei anerkannt, und es brauche nicht darauf eingegangen zu werden, ob es etwa nach der jetzigen medizinischen Auffassung auch weiter anzuerkennen wäre. Infolgedessen stehe der Tod in ursächlichem Zusammenhang mit dem anerkannten Herzleiden.
Der Beklagte hat Berufung eingelegt und geltend gemacht, das SG. habe die Kausalität verkannt. Das Herzleiden könne nicht als ursächlich für den Eintritt des Todes angesehen werden. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 15. September 1955 hat das Landessozialgericht (LSG.) den Prof. Dr. H... als Sachverständigen gehört. Dieser hat gegen die bisher angenommene Todesursache Bedenken geäußert und hat als weitere Möglichkeit ein von Dr. O... nebenbei erwähntes Infarktgeschehen bezeichnet. Er hat den ursächlichen Zusammenhang nicht für wahrscheinlich gehalten. Nach der Erstattung dieses Gutachtens, das ihnen bekannt gegeben wurde, haben die Parteien zur Sache verhandelt. Dabei hat der Vertreter der Klägerin beantragt, die Berufung des Beklagten kostenpflichtig zurückzuweisen, hilfsweise den Dr. C... als sachverständigen Zeugen darüber zu hören, daß die schwere Herzschädigung die wesentliche Ursache des Todes des Ehemannes der Klägerin gewesen sei.
Durch Urteil vom 15. September 1955 hat das LSG. auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG. aufgehoben und die Klage abgewiesen. In Übereinstimmung mit dem Sachverständigen Prof. Dr. H... hat es verschiedenartige Möglichkeiten, die als Ursachen des Todes in Betracht kommen könnten, angenommen und hat wegen dieser zahlreichen Möglichkeiten und wegen des Fehlens der Krankenpapiere über die Behandlung des Ehemannes der Klägerin die Wahrscheinlichkeit für den ursächlichen Zusammenhang zwischen den Wehrdienstbeschädigungen und dem Ableben verneint. Auf den Beweisantrag der Klägerin ist es im Urteil nicht eingegangen.
Die Klägerin hat Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG. die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG. zurückzuweisen.
Sie rügt wesentliche Mängel des Verfahrens nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit §§ 103, 106, 109, 112 Abs. 2 und 3, 128 Abs. 1 SGG. Sie rügt insbesondere, daß der Antrag auf Anhörung des Dr. C... übergangen ist.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Seines Erachtens ist das Urteil des Berufungsgerichts richtig.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Da sie vom LSG. nicht zugelassen ist, ist sie nur dann statthaft, wenn der gerügte Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG vorliegt (BSG. 1 S. 150). Diese Voraussetzung ist gegeben.
Die Klägerin rügt mit Recht, daß das LSG. § 109 SGG verletzt habe. Nach dieser Vorschrift muß das Gericht auf Antrag des Versicherten, Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen einen bestimmten Arzt gutachtlich hören. Hierdurch wird der Grundsatz des § 103 SGG durchbrochen, nach dem das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen hat und an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden ist. § 109 SGG enthält nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG.) (BSG. 2 S. 255 [256]) eine zwingende Verfahrensvorschrift, die aus rechtsstaatlichen Gründen ergangen ist. Eine Nichtbeachtung dieser Vorschrift beeinträchtigt das darin niedergelegte Recht eines Rentenbewerbers und stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG dar. Die Klägerin hat nach der Niederschrift über die Verhandlung vor dem LSG. am 15. September 1955 den Antrag gestellt, die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen. Sie hat hilfsweise beantragt,
"Herrn Dr. med. C... als sachverständigen Zeugen darüber zu hören, daß die schwere Herzschädigung die wesentliche Ursache des Todes des Ehemannes der Klägerin gewesen sei".
Dieser Hilfsantrag ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG. (SozR. SGG § 109 Da 10 Nr. 17) zulässig, und zwar hier um so mehr, als die Klägerin, die in dem Verfahren des ersten Rechtszuges obgesiegt hatte, im Hinblick auf ihre prozessuale Stellung als Berufungsbeklagte keinen Anlaß hatte, einen solchen Beweisantrag vor der mündlichen Verhandlung zu stellen.
Der Antrag lautete zwar nicht auf Anhörung des bestimmten Arztes als Sachverständigen, sondern als "sachverständigen Zeugen". Der Senat hielt ihn jedoch als genügend klar dahingehend gestellt, daß der behandelnde Stationsarzt Dr. med. C... ein Gutachten als Sachverständiger erstatten sollte. Denn als Beweisthema ist der ursächliche Zusammenhang zwischen der Herzschädigung und dem Ableben bezeichnet. Hierzu kann sich nicht ein Zeuge - auch nicht ein sachverständiger Zeuge - sondern nur ein Sachverständiger äußern. Da der Hilfsantrag der Klägerin alle Voraussetzungen nach § 109 SGG erfüllt - die ausdrückliche Anführung "Anhörung nach § 109 SGG" ist nicht erforderlich - ist der Senat der Auffassung, daß es sich hierbei nicht nur um eine Anregung an das Gericht, Dr. C... entsprechend der auf § 103 SGG beruhenden Ermittlungspflicht von Amts wegen anzuhören, sondern um einen genügend bestimmten Antrag nach § 109 SGG gehandelt hat.
Der Senat hat insbesondere berücksichtigt, daß die Klägerin in der mündlichen Verhandlung nach Abgabe des Sachverständigengutachtens des Prof. Dr. H... ihre Anträge, also auch den Antrag auf Anhörung des behandelnden Stationsarztes Dr. C... wiederholt hat. Hinzu kommt, daß erst nach der Beweiserhebung in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht Bedenken gegen die ärztliche Auffassung der bis dahin erstatteten Sachverständigengutachten geltend gemacht worden sind. Da die Beteiligten nach der Beweisaufnahme keine Gelegenheit zu einer weiteren Vorbereitung - etwa durch eine Vertagung - hatten, war die Klägerin nicht in der Lage, sich schriftsätzlich zu dem Gutachten des Prof. Dr. H... zu äußern. Die einzige Möglichkeit für sie, die Richtigkeit ihrer Auffassung darzutun, war der gestellte Beweisantrag, und zwar als Antrag nach § 109 SGG. Der beantragten Anhörung des Dr. C... stand auch nicht entgegen, daß er bereits im ersten Rechtszuge gemäß § 103 SGG ein Gutachten erstattet hatte. Im vorliegenden Fall bestanden schon deshalb keine Bedenken gegen eine nochmalige Anhörung dieses Sachverständigen - unabhängig davon, ob sein erstes Gutachten von Amts wegen oder auf Grund des § 109 SGG eingeholt worden ist - weil besondere Umstände, nämlich die Ausführungen in dem Sitzungsgutachten des Prof. Dr. H... die nochmalige Anhörung des Dr. C... rechtfertigen (SozR. SGG § 109 Bl. Da 11 Nr. 18). Das LSG. hat zu diesem Beweisantrag überhaupt keine Stellung genommen und sich mit der Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. H... begnügt. Es hat damit die zwingende Vorschrift des § 109 SGG verletzt.
Bei dieser Sachlage kann es dahingestellt bleiben, ob das LSG. etwaige Zweifel über die Natur des Antrags gemäß § 106 Abs. 1 SGG hätte aufklären müssen. Denn es handelt sich, wie bereits dargelegt, nach Auffassung des Senats um einen Antrag nach § 109 SGG. Damit liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG vor, so daß die Revision statthaft ist. Bei dieser Sachlage kommt es auf die weiteren Rügen einer unzureichenden Sachaufklärung und der Überschreitung der Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung nicht mehr an.
Das Rechtsmittel ist auch begründet. Denn es besteht die Möglichkeit, daß das LSG. bei Beachtung des § 109 SGG anders entschieden hätte. Da der Senat die zwingend vorgeschriebene Beweiserhebung selbst nicht vornehmen kann, konnte er auch in der Sache selbst nicht entscheiden, sondern mußte den Streitfall an das Berufungsgericht zurückverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen