Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, unter welchen Umständen der Versicherungsschutz für den Weg von der Arbeitsstätte nach einer dem privaten Lebensbereich des Beschäftigten zuzurechnenden Unterbrechung wiederauflebt (Vergleiche BSG 1960-08-16 2 RU 17/59 = SozR Nr 29 zu § 543 aF RVO).
Normenkette
RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. Mai 1963 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger wurde am 27. Oktober 1961 um 20.20 Uhr in Friedberg (Hessen) von einem Verkehrsunfall betroffen. Er befand sich mit dem Fahrrad auf dem Heimweg nach seiner in der Altkönigstraße in Friedberg gelegenen Wohnung. Er kam vom Arzt, den er im Anschluß an seine um 18.30 Uhr beendete Arbeitsschicht zur Behandlung eines Schläfen-Furunkels aufgesucht hatte. Die Praxis des Arztes befand sich in der Hauptstraße in Friedberg. Den Weg dorthin hatte der Kläger von seiner in der Wilhelm-Leuschner-Straße gelegenen Arbeitsstätte aus um 18.45 Uhr mit dem Fahrrad angetreten und in 10 Minuten zurückgelegt. Der Besuch beim Arzt dauerte bis kurz nach 20 Uhr. Der Unfall ereignete sich, als der Kläger sich bereits auf der Wegstrecke befand, die er regelmäßig von seiner Arbeitsstätte aus nach seiner Wohnung zurücklegte. Er erlitt u. a. mehrere Beckenbrüche.
Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 22. Januar 1962 den Entschädigungsanspruch mit der Begründung ab, der Kläger habe durch das seinen privaten Zwecken dienende Aufsuchen des Arztes den Heimweg in einem so erheblichen Umfange unterbrochen, daß der ursächliche Zusammenhang dieses Weges mit seiner versicherten Tätigkeit gelöst worden sei.
Der Bescheid ist dem Kläger und der Allgemeinen Ortskrankenkasse für den Kreis Friedberg bekanntgegeben worden. Beide haben gegen den Bescheid Klage erhoben und übereinstimmend geltend gemacht, nach der Rechtsprechung unterbreche ein Aufenthalt von knapp eineinhalb Stunden beim Arzt den Heimweg nicht mit der Wirkung, daß die endgültige Lösung vom Betrieb eintrete. Die Kläger haben übereinstimmend beantragt, unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 22. Januar 1962 diese dem Grunde nach zu verurteilen, das Ereignis vom 27. Oktober 1961 als Wegeunfall zu entschädigen. Das Sozialgericht (SG) Gießen hat durch Urteil vom 18. September 1962 der Klage stattgegeben. Es ist der Ansicht, durch das Aufsuchen des Arztes sei der ursächliche Zusammenhang des Unfallweges mit der vorangegangenen versicherten Tätigkeit des Klägers lediglich unterbrochen, aber nicht endgültig gelöst worden; der Kläger habe den Arzt gelegentlich seines Heimweges von der Arbeitsstätte aufgesucht.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 15. Mai 1963 zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Der Weg, auf dem der Kläger verunglückt sei, habe mit der versicherten Tätigkeit des Klägers in einem rechtlich erheblichen ursächlichen Zusammenhang gestanden. Dieser Zusammenhang sei jedenfalls nicht durch den längere Zeit dauernden Besuch des Klägers beim Arzt zur Behandlung einer von der versicherten Tätigkeit unabhängigen Erkrankung gelöst worden. Diese Auffassung stehe mit dem in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Urteil vom 16. August 1960 - 2 RU 17/59 -) vertretenen Grundsatz im Einklang, daß nach einer Unterbrechung des Weges nach oder von der Arbeitsstätte der restliche Weg nur in Ausnahmefällen, und zwar nur dann außer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehe, wenn Dauer und Art der Unterbrechung auf eine endgültige Lösung des Zusammenhangs schließen ließen. Ein solcher Ausnahmefall liege hier nicht vor. Die Dauer der Unterbrechung von etwa eineinhalb Stunden reiche für die Annahme einer Lösung des Zusammenhangs nicht aus. Auch die Art der Unterbrechung führe nicht zum Wegfall des Versicherungsschutzes auf dem restlichen Weg des Klägers nach Hause. Das angeführte Urteil des BSG lasse nicht erkennen, ob darin für entscheidend gehalten worden sei, daß die Unterbrechung des Weges im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF für das Aufleben des Versicherungsschutzes auf dem restlichen Weg nur unschädlich sei, wenn während der Unterbrechungszeit eine betriebsbezogene Tätigkeit ausgeübt worden sei. Wäre das Urteil in diesem Sinne zu verstehen, könnte ihm nicht gefolgt werden. Der Versicherungsschutz dürfe nicht davon abhängen, daß die Unterbrechung durch ein "betriebsbezogenes" Verhalten des Verunglückten veranlaßt worden sei. Der Begriff der "Betriebsbezogenheit" entziehe sich einer klaren Abgrenzbarkeit zwischen betrieblichem, betriebsneutralem und betriebsfremdem Handeln. Als rechtserhebliches Kriterium für die Beurteilung der Frage des Versicherungsschutzes auf dem nach der Beendigung der Unterbrechung fortgesetzten Wege dürfe allein in Betracht kommen, ob sich der Beschäftigte im Zeitpunkt des Unfalles entweder auf dem Weg nach oder von der Arbeitsstätte befunden habe oder aber ob er nach oder von einer eigenwirtschaftlichen Verrichtung unterwegs gewesen sei. Um einen nicht mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Heimweg handele es sich nur, wenn dieser in einer Art und Weise unterbrochen worden sei, daß er nicht mehr als Weg im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF anzusehen sei. Dies sei anzunehmen, wenn der eigenwirtschaftlichen Verrichtung ein solches Gewicht zukomme, daß bei natürlicher Betrachtungsweise kein Zusammenhang mehr mit der versicherten Tätigkeit bestehe (z. B. Feierabendgestaltung). Nur in Grenzfällen sei unter Abwägung aller Umstände mit zu berücksichtigen, ob die zur Unterbrechung des Weges führende Verrichtung durch die versicherte Tätigkeit veranlaßt worden ist. Im vorliegenden Falle sei es für den Kläger vom Verlassen der Arbeitsstätte an das Hauptbestreben gewesen, nach Hause zu gelangen. Daß sein Weg zum Arzt zunächst in die entgegengesetzte Richtung geführt habe, sei unerheblich. Der Arztbesuch, auf dessen Dauer der Kläger keinen Einfluß gehabt habe, sei sonach nicht geeignet gewesen, den ursächlichen Zusammenhang der restlichen und insoweit mit dem üblichen Weg von der Arbeitsstätte identischen Wegstrecke mit der versicherten Tätigkeit des Klägers zu lösen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Beklagten am 30. Mai 1963 zugestellt worden. Sie hat hiergegen am 24. Juni 1963 Revision eingelegt und diese innerhalb der bis zum 30. August 1963 verlängerten Revisionsbegründungsfrist wie folgt begründet: Nach der Rechtsprechung des BSG stehe der im Anschluß an eine Unterbrechung des Weges von der Arbeitsstätte zurückgelegte Rest des Weges nur in Ausnahmefällen außer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit. Ein solcher Ausnahmefall sei hier gegeben. Für die endgültige Lösung spreche nicht nur die außergewöhnliche Länge der Unterbrechung von eineinhalb Stunden, sondern auch der Umstand, daß der Kläger mit dem Arztbesuch eine rein private Angelegenheit besorgt habe. Nur wenn der Arztbesuch betriebsbezogen gewesen wäre, hätte die Unterbrechung dem Versicherungsschutz des Klägers nicht geschadet. In diesem Sinne sei die in dem Berufungsurteil angeführte Entscheidung des BSG vom 16. August 1960 zu verstehen. Da der Besuch des Klägers bei dem Arzt am Unfallabend unstreitig nichts mit der versicherten Tätigkeit zu tun gehabt habe, sei es unerheblich, daß der Kläger die Dauer seines Aufenthaltes beim Arzt nicht habe beeinflussen können.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kläger beantragen übereinstimmend,
die Revision zurückzuweisen.
Sie pflichten im wesentlichen der Begründung des angefochtenen Urteils bei.
II
Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet.
Das LSG hat mit Recht angenommen, daß der Kläger auf der Wegstrecke, auf welcher er mit dem Fahrrad verunglückt ist, unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden hat. Diese Wegstrecke war ein Teil des Weges, den er auf jeden Fall zurücklegen mußte, wenn er nach der Arbeit zu seiner Wohnung gelangen wollte. Am Unfalltage hatte er diesen Teil seines Heimweges jedoch nicht unmittelbar von der Arbeitsstätte aus erreicht. Vielmehr traf er nach den das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) auf diese Wegstrecke erst eineinhalb Stunden nach dem Verlassen der Arbeitsstätte, weil er von seinem üblichen Heimweg abgewichen war und die in entgegengesetzter Richtung zu seiner Wohnung gelegene Praxis eines Arztes zur Behandlung eines Schläfenfurunkels aufgesucht hatte. Das LSG hat die Frage, ob der Kläger während des Aufenthaltes bei dem Arzt und der damit verbundenen Fahrt bis zum Wiedererreichen seines üblichen Heimweges unter Versicherungsschutz gestanden hat, zu Recht ungeprüft gelassen, weil auch im Falle einer Unterbrechung des Versicherungsschutzes während dieser Zeit durch eine private Verrichtung keine endgültige Lösung des Zusammenhanges zwischen dem restlichen Heimweg und der vorangegangenen versicherten Tätigkeit des Klägers eingetreten wäre.
Der Kläger hatte den zum Unfall führenden Heimweg aus zwei Gründen zurückgelegt, einmal, weil er tagsüber gearbeitet hatte und zum anderen, weil er im Anschluß an die Arbeit den Arzt aufgesucht hatte. Hierbei kommt es für die Entscheidung darauf an, ob in dem Arztbesuch einschließlich der damit zusammenhängenden Fahrt bis zum Erreichen des üblichen Heimweges von der Arbeitsstätte eine so erheblich ins Gewicht fallende Unterbrechung dieses Weges zu erblicken ist, daß dessen Fortsetzung nicht mehr als der Weg von der Arbeitsstätte, sondern lediglich als ein aus privatem Grunde zurückgelegter Heimweg von der ärztlichen Behandlung angesehen werden muß.
Das LSG hat diese Frage mit im wesentlichen zutreffenden Ausführungen unter Berücksichtigung des vom erkennenden Senat wiederholt ausgesprochenen Grundsatzes verneint, daß nach einer Unterbrechung des Weges nach und von der Arbeitsstätte der Rest des Weges nur in Ausnahmefällen, und zwar nur dann außer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit steht, wenn Dauer und Art der Unterbrechung auf eine endgültige Lösung des Zusammenhangs schließen lassen (BSG 10, 226, 228; SozR RVO § 543 aF Bl. Aa 4 Nr. 7; Bl. Aa 22 Nr. 29 und Bl. Aa 36 Nr. 41). Es ist nicht zu beanstanden, daß es dabei angenommen hat, die Dauer der Unterbrechung sei auch bei einer Zeit von eineinhalb Stunden nicht geeignet, das Fortbestehen des streitigen Versicherungsschutzes in Frage zu stellen. Insoweit hat auch die Revision keine ernstlichen Einwendungen geltend gemacht. Sie ist jedoch der Meinung, daß der Versicherungsschutz trotz der Dauer der Unterbrechung erhalten geblieben wäre, wenn die Unterbrechungshandlung des Klägers "betriebsbezogen" gewesen wäre. Soweit die Revision glaubt, sich für die Richtigkeit dieser Ansicht auf das Urteil des BSG vom 16. August 1960 in SozR aaO Bl. Aa 22 Nr. 29 berufen zu können, irrt sie mit der Annahme, jener Entscheidung liege die Auffassung zugrunde, daß nur eine unternehmensbedingte Betätigung bei einer längeren Unterbrechungsdauer es rechtfertige, den ursächlichen Zusammenhang zu bejahen. Eine solche Auslegung wird dem Grundgedanken der angeführten Entscheidung nicht gerecht. Dies ist gleichzeitig den Ausführungen des im vorliegenden Rechtsstreit ergangenen Berufungsurteils entgegenzuhalten, mit denen Zweifel darüber aufgezeigt werden, ob nach dem angeführten Urteil vom 16. August 1960 die streitige Zusammenhangsfrage nur zu bejahen sei, wenn es sich um eine betriebsbezogene Unterbrechungsverrichtung handele. Revision und Berufungsgericht verkennen hierbei die Bedeutung, die in jener Entscheidung dem Umstand beigemessen worden ist, daß sich der Betroffene unterwegs einen Arbeitsanzug gekauft hatte. Darin war lediglich ein Argument für die Unrichtigkeit der Auffassung der Vorinstanzen gesehen worden, die angenommen hatten, daß der Betroffene nach dem Verlassen der Arbeitsstätte sogleich zur Feierabendbeschäftigung übergegangen sei. Eine weitergehende Bedeutung sollte, wie die Begründung jener Entscheidung in ihrem Sinnzusammenhang auch erkennen läßt, die durch die Bemühung um die Besorgung eines neuen Arbeitsanzuges geschaffene Beziehung des damaligen Klägers zu seiner vorherigen Arbeitstätigkeit nicht haben, insbesondere sollte eine solche Beziehung nicht zur zwingenden Voraussetzung für das Aufleben des Versicherungsschutzes nach Beendigung der Unterbrechung des Heimweges von der Arbeitsstätte erhoben werden. Es mag sein, daß aus der Sicht jenes Streitfalles, der dadurch gekennzeichnet ist, daß der Kläger immerhin zwei Stunden unterwegs war und vor der Besorgung des Arbeitsanzuges eine Gastwirtschaft aufgesucht hatte, die Art dieser Unterbrechungshandlungen - das Einkehren diente der Erholung nach anstrengender Betriebsarbeit - eine gewisse Betonung erfahren hat, die aber keine verallgemeinernde Auslegung der Entscheidung in dem besonderen Sinne rechtfertigt. Dies schließt, wie auch das LSG meint, nicht aus, daß es in besonders gelagerten Fällen (Grenzfällen) doch einmal auf die Beziehung der Unterbrechungshandlung zu der versicherten Tätigkeit ankommen kann. Grundsätzlich aber hält in Übereinstimmung mit dem angefochtenen Urteil der erkennende Senat eine Unterbrechungshandlung solange nicht für geeignet, den Zusammenhang des Weges mit der versicherten Tätigkeit zu lösen, als der Beschäftigte in seinem Bestreben, den Weg nach und von der Arbeitsstätte zurückzulegen, durch eine seinem privaten Lebensbereich zuzurechnende Zwischenverrichtung lediglich behindert worden ist. Der Kläger hat auch nach dem Abweichen von seinem unmittelbaren Heimweg das Ziel, nach Hause zu gelangen, beibehalten und den Arzt nur gelegentlich der Zurücklegung dieses Weges nach dem Verlassen der Arbeitsstätte aufgesucht. Es lag für ihn bei den im vorliegenden Falle gegebenen örtlichen Verhältnissen im Rahmen eines natürlichen Verhaltens, daß er nicht erst seine Wohnung aufsuchte und von dort aus wieder zurückfuhr, um zum Arzt zu gelangen. In der Abweichung des Klägers von seinem üblichen Heimweg ist daher unter Berücksichtigung der vorstehend dargelegten rechtlichen Gesichtspunkte keine Lösung des Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit zu erblicken. Mit dieser Tätigkeit hat vielmehr das Zurücklegen des restlichen Weges noch in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang gestanden. Der Unfall auf diesem Wegteil ist daher ein Arbeitsunfall nach § 543 RVO aF.
Die Revision war somit als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens ergeht auf Grund von § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2149392 |
NJW 1965, 172 |