Leitsatz (amtlich)
Die Frage des Unfallversicherungsschutzes für Ingenieurschüler bei Teilnahme an schulinternen, vom Allgemeinen Studentenausschuß der Ingenieurschule mit Billigung der Schulleitung veranstalteten Sportwettkämpfe ist nicht nach den Grundsätzen über den Betriebssport (vergleiche BSG 1961-11-28 2 RU 130/59 = BSGE 16, 1) zu beurteilen; entscheidend ist vielmehr, daß der Allgemeine Studentenausschuß mit der vom ihm kraft studentischer Selbstverwaltung organisierten sportlichen Betätigung Aufgaben wahrnimmt, die - wenngleich außerhalb des vorgeschriebenen Lehrplans - noch der versicherten Ausbildung (RVO § 539 Abs 1 Nr 14) zuzurechnen sind.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 14 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. Januar 1967 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger erlitt am 27. Mai 1964 als Teilnehmer an einem Fußballspiel einen Unterschenkelbruch. Er besuchte damals die Staatliche Ingenieurschule in W. Im Lehrplan dieser Schule war die Ausübung von Sport nicht vorgesehen; jedoch nahm der Allgemeine Studentenausschuß der Ingenieurschule (AStA) im Rahmen der studentischen Selbstverwaltung den Sportbetrieb als eigene Aufgabe wahr. Es wurden neben Gymnastik und Turnen auch Fußball, Handball, Tischtennis und Schwimmen angeboten. Jedem Ingenieurschüler war es überlassen, sich am Sport zu beteiligen und eine Sportart zu wählen. Im Sommer wurde von Angehörigen der einzelnen Semester untereinander die Fußballmeisterschaft der Schule ausgetragen. Veranstalter war der AStA. Die Schulleitung genehmigte die sportlichen Veranstaltungen. So war es auch bei dem Fußballspiel am 27. Mai 1964, an dem der Kläger in der Mannschaft seines Semesters teilnahm und bei dem es zu dem Unfall kam. Die Folgen des Unfalls machten eine mehrmonatige stationäre Behandlung des Klägers erforderlich.
Der Beklagte lehnte den Entschädigungsanspruch mit der Begründung ab, Lernende im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 14 der Reichsversicherungsordnung (RVO) seien nur bei Veranstaltungen, die Unterrichtszwecken dienten und im Lehrplan vorgesehen seien, gesetzlich gegen Unfall versichert. Diese Voraussetzungen seien im vorliegenden Fall nicht gegeben. Sport sei nicht im Lehrplan der Ingenieurschule als Lehrfach vorgesehen.
Die Klage hiergegen hat das Sozialgericht (SG) Hildesheim abgewiesen: Der Sport gehöre nicht zum Ausbildungsziel der Ingenieurschule, sondern sei eine reine Selbstverwaltungsangelegenheit des AStA. Der Unfallversicherungs(UV)schutz des Klägers könne nur unter den rechtlichen Gesichtspunkten gegeben sein, die für den Betriebssport gelten. Es sei unbedenklich, die vom Bundessozialgericht (BSG) entwickelten Grundsätze auch auf Fälle der vorliegenden Art anzuwenden. Das Fußballspiel, bei dem der Kläger zu Schaden gekommen sei, erfülle die für den UVSchutz aufgestellten Bedingungen nicht. Es habe sich um einen Wettkampf und nicht um Ausgleichssport gehandelt. Außerdem sei nur im Sommer gespielt worden, so daß es an der erforderlichen Regelmäßigkeit der Sportausübung fehle.
Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat durch Urteil vom 17. Januar 1967 (veröffentlicht in Breithaupt 1967, 652) die Beklagte verurteilt, den Kläger wegen der Folgen des Unfalls vom 27. Mai 1964 zu entschädigen: Die Studenten der Staatlichen Ingenieurschulen seien "während der beruflichen Aus- und Fortbildung" gegen Arbeitsunfall nach § 539 Abs. 1 Nr. 14 RVO versichert. Die Auffassung des Beklagten, der Kläger sei schon nach dem Wortlaut dieser Vorschrift nicht versichert gewesen, weil im Lehrplan der Staatlichen Ingenieurschule W Sport nicht als Lehrfach vorgesehen sei, sei zu eng. Der erforderliche innere ursächliche Zusammenhang zwischen dem Unfall und der versicherten Tätigkeit werde zwar, entgegen der Auffassung des Klägers, nicht schon dadurch hergestellt, daß der AStA im Rahmen der studentischen Selbstverwaltung den im Lehrplan nicht vorgesehenen Sportbetrieb als eigene Aufgabe, wenn auch mit Billigung der Schule, wahrnehme. Vielmehr sei von den Grundsätzen auszugehen, die das BSG zum Betriebssport entwickelt habe (BSG 16, 1). Der Grundgedanke, der dazu geführt habe, den Betriebssport unter bestimmten Voraussetzungen in die gesetzliche UV einzubeziehen, treffe auch auf die sportliche Betätigung von Studenten zu, die unter § 539 Abs. 1 Nr. 14 RVO fallen.
Für den Personenkreis des § 539 Abs. 1 Nr. 14 RVO sei sogar eine großzügigere Einbeziehung des Sportbetriebes in den UVSchutz geboten. Die Auffassung des SG, daß der Fußballsport, so wie er an der Ingenieurschule in Wolfenbüttel betrieben werde, nicht mehr mit dem Wesen des Ausgleichssports zu vereinbaren, sondern als Teilnahme am allgemeinen sportlichen Wettkampfverkehr anzusehen sei, treffe nicht zu.
Den Fußballspielen um die Schulmeisterschaft fehle nicht die für den Ausgleichssport erforderliche Regelmäßigkeit. Zur Ermittlung der Meisterschaft müsse die Mannschaft eines jeden Semesters gegen die Mannschaften aller anderen Semester spielen; auf diese Weise seien insgesamt etwa 20 Spiele notwendig. Das Ausspielen der Meisterschaft ziehe sich daher naturgemäß über eine längere Zeit hin. Der Umstand, daß Fußballspiele nur im Sommer stattfänden, sei unerheblich. Wer auch im Wintersemester Sport betreiben wolle, dem biete das Sportprogramm des AStA genügend Auswahlmöglichkeiten. Unschädlich sei es, daß die Spiele nicht von der Schule selbst, sondern von dem AStA - allerdings mit ihrer Genehmigung - veranstaltet würden. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist dem Beklagten am 15. Februar 1967 zugestellt worden. Er hat gegen das Urteil am 6. März 1967 Revision eingelegt und sie am 8. März 1967 wie folgt begründet. Die Grundsätze der Entscheidung des BSG über den UVSchutz bei Betriebssport könnten nur auf solche Personen angewandt werden, welche in einem Beschäftigungsverhältnis stünden. Bei den nach § 539 Abs. 1 Nr. 14 RVO versicherten Personen sei das jedoch nicht der Fall, jedenfalls nicht vom Gesetzgeber beabsichtigt.
Im übrigen habe das Fußballspiel, bei dem der Kläger verunglückt sei, den Charakter eines Wettkampfes gehabt, und die sportliche Betätigung der Fußballspieler habe nicht mit einer gewissen Regelmäßigkeit stattgefunden.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben.
Der Kläger beantragt Zurückweisung der Revision. Er pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.
II
Die Revision des Beklagten ist statthaft durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, daher zulässig. Sie hat jedoch keinen Erfolg.
Die Vorinstanzen haben die Frage, ob der Kläger bei der Teilnahme am Fußballspiel vom 27. Mai 1964 aufgrund des § 539 Abs. 1 Nr. 14 RVO versichert war, vornehmlich aus dem Blickwinkel der von der Rechtsprechung (BSG 16, 1) aufgestellten Grundsätze über versicherten Betriebssport beurteilt. Dabei hat das LSG die nach diesen Grundsätzen für den UVSchutz wesentlichen Tatbestandsmerkmale im Falle des Klägers als gegeben erachtet, während das SG gemeint hat, der Wettkampfcharakter des Fußballspiels sowie der Umstand, daß die Fußballmeisterschaft nur im Sommerhalbjahr ausgetragen wurde, stünden der Anerkennung des UV-Schutzes entgegen. Der Beklagte schließlich hat in der Revisionsbegründung vorgetragen, die Grundsätze über den Betriebssport seien von vornherein nur auf Beschäftigte (§ 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO), nicht hingegen auf den Personenkreis der "Lernenden" im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 14 RVO anwendbar. Hierin kann der Senat dem Beklagten nicht beipflichten, dessen Auffassung sich auch dadurch nicht rechtfertigt, daß im Urteil des erkennenden Senats vom 28. November 1961 von "Beschäftigten des veranstaltenden Unternehmens" (BSG 16, 1, 5 zu c) die Rede ist. Der Beklagte verkennt, daß § 539 Abs. 1 Nr. 14 RVO einen UVSchutz für berufliche Ausbildung u. a. in "Betriebsstätten, Lehrwerkstätten" begründet; bei dieser Form der Ausbildung besteht aber kein einleuchtender Grund, Leibesübungen der dort als Lernende Tätigen nicht - unter Heranziehung der in BSG 16, 1 genannten Maßstäbe - als Betriebssport anzusehen. Findet die berufliche Ausbildung dagegen - losgelöst von jeglicher Betriebstätigkeit - in schulischer Form statt, wie es hier bei einer Ingenieurschule, also einer Fachschule (vgl. RAM-Erlaß vom 23. Oktober 1943, AN 1943, 471 mit weiteren Nachweisen; Lauterbach, Gesetzliche UV, 3. Aufl., S. 149) der Fall gewesen ist, so zeigt der Versuch des LSG, die zum Betriebssportaufgestellten Leitsätze auf sportliche Betätigungen von Ingenieurschülern zu übertragen, daß hier ein nicht ganz adäquater Maßstab benutzt wird. Das erklärt sich hauptsächlich daraus, daß Fachschüler eben nicht ihre Arbeitskraft in einer betrieblichen Tätigkeit einsetzen, sondern sich während des Schulbesuchs allein dem Lernen widmen. Das LSG hat wohl diese Diskrepanz zwischen den von ihm herangezogenen Beurteilungsmaßstäben und dem zu beurteilenden Sachverhalt insofern zutreffend erkannt, als es sich für eine "sogar etwas großzügigere Einbeziehung des Sportbetriebs in den Versicherungsschutz" bei Fachschülern - zum Ausgleich für die einseitige und oft ungewohnte Belastung durch die Schule - ausgesprochen hat.
Der erkennende Senat hält es indessen für angebracht, in Fällen der hier zu entscheidenden Art den UVSchutz nach besonderen, nicht dem Begriff des Betriebssports entlehnten Gesichtspunkten zu beurteilen. Maßgebend ist hierbei insbesondere die Erkenntnis, daß für die eine Fachschule besuchenden jungen Menschen neben dem Erwerb von beruflichen Fachkenntnissen auch die Formung der ganzen Persönlichkeit - jedenfalls in diesem Stadium der beruflichen Ausbildung - von erheblicher Bedeutung ist. Daß hierzu auch - je nach dem Gesundheits- und Kräftezustand des Einzelnen - eine körperliche Ertüchtigung gehört, bedarf keiner näheren Darlegung, zumal in Anbetracht der seit einiger Zeit erkennbaren Bestrebungen, besonders die junge Generation durch sinnvolle sportliche Betätigung vor Entwicklungsstörungen zu bewahren.
Ungeachtet dieser - zweifellos schon im Jahre 1964 Allgemeingut gewordenen - Erkenntnis enthielt der damals vorgeschriebene Lehrplan der Ingenieurschule Wolfenbüttel noch keinen Sport als Unterrichtsfach. Damit entfällt ein Anhaltspunkt, der allgemein geeignet ist, Veranstaltungen, die an sich nicht auf spezielle Fachbildung ausgerichtet sind, dem Ausbildungsprogramm einer Schule zuzurechnen (vgl. SozR Nr. 3 zu § 548 RVO). Dieses Merkmal ist aber nicht das allein entscheidende, wenn - wie im vorliegenden Fall - sonstige Umstände festgestellt sind, die eine wesentliche innere Beziehung zwischen der versicherten beruflichen Ausbildung und dem von Fachschülern ausgeübten Sport herstellen: Die Organisation der sportlichen Betätigung lag in den Händen des AStA als des berufenen Trägers der Selbstverwaltung der Studierenden, der hierfür eigens einen Sportreferenten bestellt hatte; die vom AStA angesetzten Sportveranstaltungen wurden der Leitung der Ingenieurschule mitgeteilt und von ihr gebilligt. Dies galt insbesondere auch für die im Sommerhalbjahr 1964 ausgetragene Fußballmeisterschaft und die dazu zwischen Mannschaften der verschiedenen Semester durchgeführten Ausscheidungsspiele, die mit allgemeinen Fußballwettkämpfen schon deshalb nicht verglichen werden können, weil diese Spiele nur zwischen Angehörigen derselben Fachschule stattfanden, mit allgemeinem sportlichen Wettkampfverkehr also nichts zu tun hatten. Auch liegt die Annahme nahe, daß die Veranstaltung derartiger Schulmeisterschaften auf sportlichem Gebiet geeignet war, unter den an der Ingenieurschule Wolfenbüttel Studierenden einen Gemeinschaftsgeist zu wecken und zu fördern.
Diese Umstände genügen nach Auffassung des Senats, um für den Kläger im Unfallzeitpunkt den UVSchutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 14 RVO zu begründen. Bestätigt sieht sich der Senat in dieser Auffassung dadurch, daß nur wenig später auch durch staatliche Maßnahmen die Entwicklung sportlicher Belange an berufsbildenden Schulen gefördert worden ist. Nachdem der Runderlaß des Niedersächsischen Kultusministeriums vom 3. Mai 1965 (Niedersächsisches Ministerialblatt 1965, 463) hierfür die Grundlage durch Gewinnung ausreichender Lehrkräfte gelegt hatte, ist dem Runderlaß desselben Ministeriums vom 20. Juni 1967 (Niedersächsisches Ministerialblatt 1967, 659) zu entnehmen, daß der Sport an berufsbildenden Schulen des Landes nunmehr verbindliches Unterrichtsfach geworden ist. Von hier aus rückschauend betrachtet erscheint der im Sommerhalbjahr 1964 an der Ingenieurschule Wolfenbüttel vom AStA veranstaltete Sportbetrieb nur als eine Vorwegnahme der später von der Staatsautorität unmittelbar wahrgenommenen Aufgaben. Auch für die damalige Zeit ist daher diese sportliche Betätigung der Ingenieurschüler - obgleich kein Bestandteil des seinerzeit vorgeschriebenen Lehrplans - der versicherten Ausbildung zuzurechnen.
Hiernach ist die Revision gegen das im Ergebnis zutreffende Urteil des LSG unbegründet; sie muß daher zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen