Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfall. ursächlicher Zusammenhang. Verfahrensfehler. Erhebung weiterer Beweise
Orientierungssatz
Zur Frage, ob für die Entscheidung über das Begehren des Klägers, ihm wegen der Folgen des Bandscheibenvorfalls Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren, in dem Urteil ausreichende Tatsachenfeststellungen fehlen und sich das LSG hätte veranlaßt sehen müssen, weitere Beweise zu erheben, weil es selbst die dafür erforderliche Sachkunde nicht besaß.
Normenkette
RVO § 548 Abs 1; SGG § 103 S 1
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 11.10.1989; Aktenzeichen L 3 U 126/88) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 15.04.1988; Aktenzeichen S 6 U 89/87) |
Tatbestand
Umstritten ist die Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger wegen der Folgen eines Bandscheibenvorfalls Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Der im Jahre 1942 geborene Kläger, von Beruf Malermeister, zog sich am 17. September 1986 einen Bandscheibenvorfall zu, als er eine PVC-Rolle Fußbodenbelag vom Lager holen wollte. Er hob mit zwei Mitarbeitern die vier bis fünf Zentner schwere Rolle auf eine Höhe von 40 bis 50 cm an, verlor - auf anderen Rollen stehend - mit dem linken Fuß den Halt, rutschte ab und kam aus dem Gleichgewicht. Unmittelbar danach verspürte er einen "Knacks im Rücken". Gestützt auf ärztliche Stellungnahmen des Chirurgen Dr. Sch vom 29. Oktober 1986 und 02. Februar 1987 lehnte es die Beklagte mit Bescheid vom 25. Februar 1987 ab, dem Kläger eine Entschädigung zu gewähren: Ursächlich für den Bandscheibenschaden seien erhebliche Vorschäden an der Wirbelsäule. Ein Verhebetrauma könne eine intakte Bandscheibe ohne erhebliche Stauchungen, etwa durch einen Absturz oder eine Einquetschung, nicht schädigen.
Das Sozialgericht (SG) hat den Orthopäden Prof. Dr. R als Sachverständigen gehört, der in seinem Gutachten vom 12. November 1987 aufgrund der Angaben des Klägers folgendes relevantes Unfallgeschehen festgestellt hat: Zunächst sei es dem Kläger mit seinen Mitarbeitern gelungen, die Rolle bis auf eine Höhe von 40 bis 50 cm anzuheben. Dann habe der Kläger linksseitig das Gleichgewicht verloren und die Rolle losgelassen. Nachdem er mit seinem linken Bein wieder festen Stand gehabt habe, sei die noch im Fall befindliche Rolle von ihm wieder aufgefangen worden; in diesem Augenblick habe er im Rücken einen "Knacks" verspürt. Unter Zugrundelegung dieses Unfallhergangs ist der Sachverständige zu dem Ergebnis gelangt, daß dieses plötzlich auftretende, unerwartete Ereignis in der Lage gewesen sei, eine Bandscheibe von der Mechanik her zu einer Rißbildung zu veranlassen.
Gegen diese Beurteilung hat die Beklagte Einwendungen erhoben und sich auf ein zu den Gerichtsakten eingereichtes Gutachten des Orthopäden Dr. L vom 21. Dezember 1987 gestützt. Darin heißt es, ein Zusammenhang zwischen dem Ereignis vom 17. September 1986 und dem Bandscheibenschaden sei nicht wahrscheinlich, selbst wenn der Ereignisablauf dahin verändert werde, daß der Kläger die schwere Rolle habe auffangen wollen. Lasse man allerdings bei dem Unfallgeschehen diese Variante weg, dann komme nach seinem Verständnis selbst Prof. Dr. R in seinem Gutachten vom 12. November 1987 nicht zu einem ursächlichen Zusammenhang zwischen Ereignis und Schaden.
Das SG hat den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH zu gewähren; hinsichtlich der geltend gemachten höheren MdE hat es im übrigen die Klage abgewiesen (Urteil vom 15. April 1988). Zur Begründung hat das SG sich auf das Gutachten von Prof. Dr. R gestützt. Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt und gerügt, der Unfallhergang sei noch nicht vollständig aufgeklärt. Sie hat hilfsweise zu ihrem Sachantrag auf Abweisung der Klage beantragt, neben einer Fotodokumentation des Hebevorgangs Röntgenaufnahmen aus der Zeit vor und nach dem Ereignis vom 17. September 1986 beizuziehen und ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 11. Oktober 1989). Zur Begründung heißt es, maßgebend für die Beurteilung sei der vom Kläger zunächst geschilderte und von der Beklagten nicht bestrittene Unfallhergang. Auf das vom Kläger später behauptete Nachfassen und Abfangen der fallenden Rolle komme es hingegen nicht an. Diesen unbestrittenen Unfallhergang habe Prof. Dr. R medizinisch gewürdigt. Der Sachverständige sei zu dem überzeugenden Ergebnis gelangt, daß der vom Kläger geschilderte Ablauf des Unfallgeschehens durchaus in der Lage gewesen sei, den eingetretenen Bandscheibenschaden zu verursachen. Bei der Konstitution des Klägers seien sowohl die Schwere des Ereignisses als auch die Mechanik, insbesondere wegen des großen Gewichts der Rolle sowie des Verlusts des Gleichgewichts geeignet, seine Bandscheibe zum Zerreißen zu bringen, zumal der Ablauf darauf hindeute, daß die Rolle mit ihrem erheblichen Gewicht sich infolge des Ungleichgewichts schädigend ausgewirkt habe.
Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt die Beklagte, das angefochtene Urteil beruhe auf Verfahrensfehlern. Sie meint, das LSG habe seine Pflicht zu Aufklärung des Sachverhalts nach § 103 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG- dadurch verletzt, daß es ihren Beweisanträgen ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sei. Das LSG einerseits und der Sachverständige Prof. Dr. R andererseits seien nicht von demselben Geschehensablauf ausgegangen. Denn der Sachverständige habe in seinem Gutachten die "erweiterte" Unfallschilderung des Klägers (Auffangen der im Fall befindlichen Rolle) in den Vordergrund seiner Würdigung gestellt. Zudem habe Dr. L in seinem Gutachten vom 21. Dezember 1987 darauf hingewiesen, daß bei Weglassen dieser Variante selbst nach Meinung von Prof. Dr. R ein Ursachenzusammenhang zwischen dem Ereignis und dem Bandscheibenschaden nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit anzunehmen sei. Aufgrund dessen hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, zur Frage des geeigneten Unfallereignisses (Schwere, Unfallmechanik) entsprechende Beweise zu erheben und ein weiteres medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen. Außerdem seien entgegen ihren - der Beklagten - Beweisanträgen nicht sämtliche Vorbefunde und Röntgenaufnahmen aus der Zeit vor dem Ereignis vom 17. September 1986 beigezogen und vom Sachverständigen Prof. Dr. R bei seiner Beurteilung zugrunde gelegt worden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 11. Oktober 1989 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für sachlich richtig.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Für die Entscheidung über das Begehren des Klägers, ihm wegen der Folgen des Bandscheibenvorfalls Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren, fehlen in dem Urteil ausreichende Tatsachenfeststellungen. Das Berufungsurteil beruht auf den von der Beklagten formgerecht gerügten Verfahrensfehlern der mangelnden Sachaufklärung (§ 162 iVm §§ 103, 164 Abs 2 SGG).
Die zwischen den Beteiligten umstrittene Gewährung einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung setzt voraus, daß der Kläger am 17. September 1986 einen Arbeitsunfall (§ 548 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) erlitten hat und infolge dessen um mindestens 20 vH in seiner Erwerbsfähigkeit über die 13. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus gemindert ist (§§ 580, 581 RVO). Das LSG hat das Vorliegen dieser Voraussetzungen bejaht und den vom Kläger zunächst geschilderten Unfallhergang seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt. Es hat als feststehend erachtet, daß der Kläger, als er auf anderen Rollen stehend mit seinen Mitarbeitern die PVC-Rolle angehoben habe, mit dem linken Fuß den Halt verloren habe und abgerutscht sei. Durch den dadurch erlittenen Verlust des Gleichgewichts sei es zu einer Gewichtsverlagerung der bereits 40 bis 50 cm angehobenen ca 4 bis 5 Zentner schweren Rolle gekommen. Unmittelbar danach habe er im Rücken einen Knacks, verbunden mit plötzlich starken Schmerzen verspürt. Das LSG hat ferner ausgeführt, daß dieser Unfallhergang eine eingehende medizinische Würdigung im Gutachten von Prof. Dr. R gefunden habe, so daß es auf das später vom Kläger behauptete Nachfassen und Abfangen der fallenden Rolle nicht ankomme.
Wie die Beklagte hiergegen zu Recht rügt, hat das LSG nicht beachtet, daß Prof. Dr. R gerade diesen "erweiterten" Unfallhergang des Nachfassens und Abfangens der fallenden Rolle seiner medizinischen Beurteilung zugrunde gelegt hat. Als für ihn relevantes Unfallgeschehen ist dieser Sachverständige davon ausgegangen, "Zunächst gelang das Anheben der Rolle bis auf 40 bis 50 cm Höhe, dann verlor Herr R. linksseitig das Gleichgewicht, ließ die Rolle kurzzeitig los, als er wieder festen Stand mit dem linken Bein hatte, wurde die im Fall befindliche Rolle von ihm aufgefangen. Sofort verspürte er einen Knacks im Rücken, ..." (s S 14 des Gutachtens). Aus diesem Unfallgeschehen folgert der Sachverständige, daß dieses "plötzlich aufgetretene, unerwartete Ereignis in der Lage gewesen ist, eine Bandscheibe von der Mechanik her zu einer Rißbildung zu veranlassen" (s S 16 des Gutachtens). Auf diesen für die Annahme eines Arbeitsunfalls möglicherweise relevanten Unterschied im Geschehensablauf hat Dr. L in seinem Gutachten vom 21. Dezember 1987 hingewiesen. Zudem hat er gegen die Auffassung von Prof. Dr. R , der Kläger habe den Bandscheibenvorfall unfallabhängig erlitten, Einwendungen erhoben und darüber hinaus ausgeführt, daß bei Annahme des vom Kläger zunächst geschilderten Geschehensablaufs ohne das Nachfassen der fallenden Rolle selbst das Gutachten von Prof. R nach seinem Verständnis ebenfalls nicht zu einem Zusammenhang zwischen Ereignis und Schaden komme.
Bei dieser Sachlage hätte das LSG - auch von seinem Rechtsstandpunkt aus - sich veranlaßt sehen müssen, weitere Beweise zu erheben, weil es selbst die dafür erforderliche Sachkunde nicht besaß. Auf diesem Verfahrensfehler kann das Urteil beruhen. Es ist nicht auszuschließen, daß das angefochtene Urteil anders ausgefallen wäre, hätte es, ggfs durch Einholung eines technischen Sachverständigengutachtens, den Unfallhergang in ausreichendem Maße festgestellt, eventuelle Röntgenaufnahmen beigezogen und auf der Grundlage dieser Ermittlungen ein ärztliches Sachverständigengutachten zur Frage des Kausalzusammenhangs zwischen dem Ereignis vom 17. September 1986 und dem Bandscheibenschaden eingeholt.
Die Sache war allein schon aus diesen Gründen unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen