Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Grundsicherungsleistungen. Einbeziehung von Bescheiden nach § 86 SGG. analoge Anwendung bei verbundenen Verwaltungsakten. Widerspruch gegen den Aufhebungsverwaltungsakt. Einbeziehung des Erstattungsverwaltungsakts. keine Einbeziehung des Aufrechnungsverwaltungsakts nach § 26 Abs 2 SGB 12. sozialgerichtliches Verfahren. Sprungrevision. Zulassungsbeschluss ohne ehrenamtliche Richter. Bindung des Revisionsgerichts. Zustimmung des Gegners. Auslegung einer Erklärung zur Revisionszulassung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Regelung über eine Erstattungsforderung, die zugleich mit der teilweisen Aufhebung einer Bewilligung geltend gemacht wird, ist in das Widerspruchsverfahren gegen die Aufhebungsverfügung einzubeziehen.
2. Eine Entscheidung über die Aufrechnung einer Leistung bis auf das Unerlässliche mit Ansprüchen des Trägers der Sozialhilfe auf Erstattung wird nicht Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid.
Orientierungssatz
1. Es kann offenbleiben, ob eine analoge Einbeziehung eines verbundenen Aufrechnungsverwaltungsakts nach § 86 SGG auch dann ausgeschlossen ist, wenn die Aufrechnung statt nach § 26 Abs 2 SGB 12 nach § 51 SGB 1 erfolgt.
2. Ebenfalls braucht nicht entschieden zu werden, ob bei unmittelbar aufeinander aufbauenden Verwaltungsakten nach §§ 45, 48, 50 Abs 1 SGB 10 der Erstattungsverwaltungsakt auch zum Gegenstand eines Gerichtsverfahrens wird, wenn bereits der Aufhebungsverwaltungsakt nach § 96 Abs 1 SGG einbezogen worden ist.
3. Das BSG ist an die nachträgliche Zulassung einer Sprungrevision durch das SG auch dann gebunden, wenn sie fehlerhafterweise durch Beschluss ohne die Beteiligung der ehrenamtlichen Richter erfolgt ist (vgl BSG vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 13/06 R).
4. In einer Zustimmung zu "einem Antrag auf Zulassung der Sprungrevision" kann auch die Zustimmung zu deren späteren Einlegung durch die hiervon begünstigte Partei gesehen werden, sofern dies nach den erkennbaren Umständen dem wirklichen Willen des Erklärenden entspricht (vgl BVerwG vom 3.11.1992 - 9 C 32/92).
Normenkette
SGG § 86 Hs. 1, § 96 Abs. 1, § 161 Abs. 1 Sätze 1, 3, § 170 Abs. 2 S. 2; SGB XII § 26 Abs. 2 S. 1 Alt. 1; SGB X §§ 31, 48, 50 Abs. 1, 3 S. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 28. April 2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen, soweit der Kläger sich gegen die im Bescheid vom 5. September 2012 erklärte Aufrechnung wendet.
Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen zwei Erstattungsforderungen des Beklagten und eine zugleich erklärte Aufrechnung.
Der Kläger, der unter Betreuung durch seine Prozessbevollmächtigte steht, bezieht eine Rente wegen voller Erwerbsminderung von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Nord und daneben von dem beklagten Träger der Sozialhilfe Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). Der Beklagte bewilligte Grundsicherungsleistungen ua für den Bewilligungsabschnitt vom 1.10.2011 bis zum 30.9.2012 (Bescheid vom 30.9.2011). Gegen den Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein, ohne diesen in der Folge zu begründen. Für die Zeit vom 1.1.2012 bis 30.9.2012 änderte der Beklagte die Bewilligung zugunsten des Klägers und bewilligte ab diesem Zeitpunkt monatlich 233,61 Euro (Bescheid vom 25.11.2011). Nachdem die Rente zum 1.7.2012 erhöht worden war und der Kläger die Abrechnung seiner Mietnebenkosten vorgelegt hatte, wonach sich ein Guthaben zu seinen Gunsten ergab, änderte der Beklagte unter teilweiser Aufhebung der Bescheide vom 30.9.2011 und vom 25.11.2011 die Bewilligung für die Monate Juli bis September 2012 und bewilligte für Juli und August noch 222,57 Euro und für September 2012 noch 198,57 Euro. Es sei eine Überzahlung in Höhe von insgesamt 57,12 Euro eingetreten, deren Erstattung verlangt werde; insoweit werde der Betrag von der Zahlung für Oktober 2012 einbehalten. Der Bescheid werde Gegenstand des Widerspruchsverfahrens (Bescheid vom 5.9.2012). Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte als unzulässig zurück (Widerspruchsbescheid vom 20.12.2012).
Nachdem der Kläger eine vollständige Abrechnung der Nebenkosten eingereicht hatte, hob der Beklagte die Bewilligung für die Monate August und September 2012 weitergehend auf und bewilligte für August 2012 noch 42,57 Euro und für September 2012 noch 18,57 Euro und verlangte eine (weitere) Erstattung von 360 Euro (Bescheid vom 6.12.2012). Den ursprünglich gegen den Bescheid vom 25.11.2011 eingelegten Widerspruch wies der Beklagte als unbegründet zurück und bezog in seine Prüfung dabei ausdrücklich die Bescheide vom 5.9.2012 und vom 6.12.2012 ein (Widerspruchsbescheid vom 12.4.2013). Hiergegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht (SG) Neubrandenburg erhoben; das SG hat auf Antrag der Beteiligten das Ruhen dieses Verfahrens angeordnet.
Die Klage gegen den Bescheid vom 5.9.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.12.2012 hat das SG abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, der Bescheid vom 5.9.2012 sei insgesamt, nicht nur soweit er die ursprüngliche Bewilligung ändere, Gegenstand des Widerspruchsverfahrens nach § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG) geworden. § 86 SGG sei wie § 96 Abs 1 SGG auszulegen. Die vorliegenden Bescheide bauten aber aufeinander auf und träfen insgesamt eine Entscheidung über die Höhe der Leistung. Sie seien damit Gegenstand des bei ihrem Erlass anhängigen Widerspruchsverfahrens geworden (Urteil vom 28.4.2016).
Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Sprungrevision und rügt die Verletzung von § 86 SGG und § 31 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X). Sowohl die Erstattungsforderungen in den Bescheiden vom 5.9.2012 und vom 6.12.2012 als auch die Aufrechnung im Bescheid vom 5.9.2012 seien durch selbständige Verwaltungsakte verfügt worden. Sie änderten die Bewilligung nicht. Sie stünden zwar im Sachzusammenhang mit den Bewilligungsentscheidungen, dieser reiche aber für die Anwendung des § 86 SGG nicht aus. Lediglich die weiteren Erstattungsforderungen für August und September 2012, die mit Bescheid vom 6.12.2012 verfügt worden seien, seien Gegenstand des Widerspruchsverfahrens geworden, das vorliegend zur Überprüfung stehe. Das SG hätte sämtliche Erstattungsforderungen und die Aufrechnung in der Sache überprüfen müssen. Jedenfalls die Aufrechnung sei in der Sache rechtswidrig, weil eine Ermessensausübung nach § 26 Abs 2 SGB XII durch die Behörde nicht erfolgt sei.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 28. April 2016 und die Bescheide des Beklagten vom 5. September 2012 und vom 6. Dezember 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Dezember 2012 aufzuheben, soweit die Bescheide eine Erstattung und Aufrechnung regeln.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angegriffenen Entscheidungen für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision ist zulässig. Zwar ist sie vorliegend nachträglich durch Beschluss des SG vom 2.11.2016 fehlerhafterweise ohne die Beteiligung der ehrenamtlichen Richter zugelassen worden; gleichwohl ist der Senat an die Zulassung im Beschluss gebunden (vgl nur BSG Urteil vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 13/06 R - Juris RdNr 9; zum Streitstand Nguyen in jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, § 161 RdNr 48). Auch die schriftliche Zustimmung des Beklagten zur Einlegung der Sprungrevision (vgl § 161 Abs 1 Satz 3 SGG) liegt vor. Die vom Gesetz geforderte Zustimmung des Gegners zur Sprungrevision meint zwar nicht dessen Einverständnis mit "einem Antrag auf Zulassung der Sprungrevision" (wie sie hier ausdrücklich erklärt ist), sondern Zustimmung zur Einlegung der Revision anstelle der Berufung. Im vorliegenden Fall handelt es sich dabei um eine Erklärung (vom 13.7.2016), die zwar vor der Zulassung der Sprungrevision, aber nach Zustellung des vollständigen Urteils (am 7.7.2016) abgegeben worden ist. In einem solchen Fall spricht nichts dagegen, in einer Zustimmung zu "einem Antrag auf Zulassung der Sprungrevision" auch die Zustimmung zu deren Einlegung zu sehen, sofern dies nach den erkennbaren Umständen dem wirklichen Willen des Erklärenden entspricht (Bundesverwaltungsgericht ≪BVerwG≫ Buchholz 310 § 134 VwGO Nr 41; zur pauschalen Zustimmung zu einer Sprungrevision BSGE 109, 56 = SozR 4-3500 § 98 Nr 1, RdNr 8). Da die Beteiligten vor dem SG allein über eine bislang vom Revisionsgericht nicht geklärte Rechtsfrage gestritten haben, deren baldige Klärung sie herbeiführen wollten, sprechen hier alle Umstände für diese Auslegung. Anderenfalls hätte die erklärte Zustimmung auch keinen nachvollziehbaren Hintergrund.
Die Sprungrevision ist nur zum Teil im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache begründet, im Übrigen aber unbegründet. Entgegen der Auffassung des SG ist die Klage zulässig, soweit sich der Kläger gegen die durch Verwaltungsakt im Bescheid vom 5.9.2012 erklärte Aufrechnung wendet. Ob sie auch begründet ist, wird das SG nach Zurückverweisung im Einzelnen zu prüfen haben; die Feststellungen insoweit lassen eine abschließende Entscheidung durch den Senat nicht zu (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Wegen der Erstattungsforderungen hat das SG die Klage dagegen zutreffend als unzulässig angesehen; die Revision ist insoweit zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).
Gegenstand des Klage- und Revisionsverfahrens ist zunächst der Bescheid vom 5.9.2012, soweit er einerseits eine Regelung iS des § 31 SGB X über die Erstattungsforderung in Höhe von 57,12 Euro und andererseits über die Aufrechnung dieser Erstattungsforderung mit den Zahlungsansprüchen des Klägers für Oktober 2012 trifft, in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.12.2012. Gegen diese Regelungen (zur Kompetenz einer Behörde, statt durch Willenserklärung durch Verwaltungsakt aufzurechnen vgl BSGE 121, 194 = SozR 4-7912 § 96 Nr 1, RdNr 11; BSGE 121, 185 = SozR 4-7862 § 11 Nr 1, RdNr 12 f) wendet sich der Kläger (in objektiver Klagehäufung) zutreffend mit der Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG). Der Kläger hat sich zudem (im Sinne der Meistbegünstigung) im vorliegenden Klageverfahren mit derselben Argumentation auch gegen die mit Bescheid vom 6.12.2012 festgesetzte weitere Erstattungsforderung gewandt. Im vorliegenden Verfahren nicht angegriffen hat der Kläger dagegen die in den genannten Bescheiden jeweils geregelte (teilweise) Aufhebung der ursprünglichen Bewilligung. Diese Verwaltungsakte, die gestützt auf § 48 SGB X die vorangehenden Bewilligungsbescheide zu Ungunsten des Klägers abgeändert haben, sind Gegenstand des weiteren beim SG anhängigen Klageverfahrens gegen die ursprünglichen Bewilligungsbescheide (vgl §§ 86, 96 Abs 1 SGG; zu einer solchen Konstellation nur BSGE 121, 283 = SozR 4-3500 § 82 Nr 11, RdNr 11), wovon die Beteiligten und das SG zutreffend ausgehen.
Die Klage ist aber unzulässig, soweit der Kläger die in den Bescheiden vom 5.9.2012 und 6.12.2012 festgesetzten Erstattungsforderungen angegriffen hat. Diese Entscheidungen sind zumindest in analoger Anwendung des § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gegen die Ausgangsbescheide vom 30.9.2011 und 25.11.2011 geworden.
§ 86 Halbsatz 1 SGG bestimmt wegen der zwischen den Beteiligten umstrittenen Frage seit Inkrafttreten des SGG unverändert: Wird während des Vorverfahrens der Verwaltungsakt abgeändert, so wird auch der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Vorverfahrens. Demgegenüber wird nach § 96 Abs 1 SGG in der seit dem 1.4.2008 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGG/ArbGGÄndG - vom 26.3.2008 ≪BGBl I 444≫) ein neuer Verwaltungsakt nach Klageerhebung nur dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Mit der Neufassung des § 96 SGG soll verhindert werden, dass im Wege einer analogen Anwendung ein neuer Verwaltungsakt in das sozialgerichtliche Verfahren einbezogen wird, dem ein anderer und bisher nicht berücksichtigter Sachverhalt zugrunde liegt und der mit dem anhängigen Streitgegenstand lediglich in irgendeinem tatsächlichen oder rechtlichen Zusammenhang steht (vgl BT-Drucks 16/7716 S 19 f).
Diese in der Gesetzesbegründung für eine Änderung des § 96 SGG angeführten Gründe gelten für das Vorverfahren indes regelmäßig nicht, wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat. Insbesondere die Gründe, die bereits vor Änderung des SGG gegen eine analoge Anwendung des § 96 SGG bei abschnittsweiser Bewilligung im Anwendungsbereich des Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) und des SGB XII sprachen (grundlegend BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1, RdNr 30) und auf die auch die Gesetzesbegründung Bezug nimmt, liegen während des Widerspruchsverfahrens nicht vor. Bei der Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist von der Bewilligung regelmäßig ein Zeitraum von einem Jahr erfasst (vgl § 44 Abs 3 Satz 1 SGB XII). Innerhalb dieses Zeitraums ist ein Widerspruchsverfahren üblicherweise abgeschlossen (vgl die Frist zur Erhebung einer Untätigkeitsklage von drei Monaten in § 88 Abs 2 SGG). Die Einbeziehung eines Sachverhalts, der die mit dem Widerspruch angegriffene Regelung nicht unmittelbar ändert, sondern mit ihr nur in einem engen Sachzusammenhang steht, wird schon von daher - anders als mit weiterem Zeitablauf im Klage- und Berufungsverfahren - nicht der Regelfall sein und sich auf einen überschaubaren Zeitraum erstrecken. Insoweit gilt bei einer analogen Anwendung des § 86 SGG nicht der angeführte Einwand fehlender Prozessökonomie, weil bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids die Verwaltung ohnedies das Verfahren in der Hand behält und auch ohne Weiteres alle bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids ergangenen Bewilligungen überprüfen kann und muss (vgl zu Folgebescheiden für einen nächsten Bewilligungsabschnitt BSG Urteil vom 17.6.2008 - B 8 AY 11/07 R - Juris RdNr 10; BSG Urteil vom 14.4.2011 - B 8 SO 12/09 R - Juris RdNr 11 insoweit in BSGE 108, 123 = SozR 4-3500 § 82 Nr 7 nicht abgedruckt; vgl ferner für das Verhältnis von Ausgangsbescheiden zu Überprüfungsbescheiden im Widerspruchsverfahren BSGE 115, 158 = SozR 4-2500 § 186 Nr 4, RdNr 9; vgl nunmehr auch der für das Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständige 14. Senat in BSG SozR 4-1500 § 86 Nr 3 RdNr 21). Im Übrigen hat der Gesetzgeber trotz überwiegender Ablehnung der Rechtsprechung in der Literatur (vgl Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 86 RdNr 3; Becker in Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Aufl 2014, § 86 RdNr 13; Senger in jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, § 86 SGG RdNr 23; Hintz in BeckOK, Stand Juni 2018, SGG, § 86 RdNr 1 und 3; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 86 RdNr 3; wie hier Behrend in Hennig, SGG, Stand Oktober 2013, § 86 RdNr 10 und wohl auch Binder in Lüdtke/Berchtold, SGG, 5. Aufl 2017, § 86 RdNr 3) keinen Anlass gesehen, § 86 SGG zu ändern.
Die dargestellten Gesichtspunkte für eine Einbeziehung des Verwaltungsakts in ein Widerspruchsverfahren gegen einen Bewilligungsbescheid in entsprechender Anwendung des § 86 SGG gelten ohne jede Einschränkung für die Regelung über eine Erstattungsforderung, die zugleich mit der Aufhebungsverfügung auf Grundlage von § 50 Abs 1 SGB X geltend gemacht und - wie dies regelmäßig der Fall ist (vgl § 50 Abs 3 Satz 2 SGB X) - mit dieser verbunden wird (so ohne eingehende Begründung bereits BSG SozR 4-4200 § 11 Nr 43 RdNr 17; anders dagegen Senger in jurisPK-SGG, aaO, RdNr 23; Hintz, aaO, § 86 SGG RdNr 3; SG Dresden Urteil vom 18.5.2015 - S 48 AS 1942/13 - Juris RdNr 23). Gründe der Prozessökonomie sprechen in dieser Konstellation für eine Einbeziehung in das Widerspruchsverfahren (darauf verweist trotz im Übrigen ablehnender Haltung auch Senger aaO). Da eine Vorgreiflichkeit des Verfahrens gegen die Aufhebung besteht, liegt der Sinn in § 50 Abs 3 Satz 2 SGB X darin, die Rechtsfragen der Rückabwicklung des Sozialleistungsverhältnisses möglichst schnell und einheitlich zu klären (vgl bereits BVerwGE 90, 25, 34). Geht man trotz Verbindung der beiden Entscheidungen in einem Bescheid davon aus, dass die Entscheidung über die Erstattung getrennt von der Aufhebungsentscheidung, die bereits Gegenstand eines anderen anhängigen Verfahrens ist, angegriffen werden müsste, vergrößert sich aber das Risiko, dass der Erstattungsbescheid Bestandskraft erlangt, bevor über die Aufhebung entschieden ist (vgl Merten in Hauck/Noftz, SGB X, Stand August 2016, § 50 RdNr 82). Gesichtspunkte, die gegen eine Einbeziehung sprechen könnten, treten demgegenüber in dieser Konstellation zurück: Ein Folgezeitraum ist insoweit ohnehin nicht betroffen. Es handelt sich in Übrigen um eine gebundene Entscheidung; ist die Aufhebungsentscheidung sachlich richtig, beschränkt sich die Prüfung der Entscheidung über die Erstattung darauf, ob dem Erstattungsverlangen selbst gegenüber Einwendungen entgegengesetzt werden können (vgl etwa BSG SozR 4-1300 § 48 Nr 18 RdNr 61-62 mwN). Zwar sind weitere Sachverhaltselemente in die Überprüfung der Entscheidungen durch die Widerspruchsbehörde mit einzubeziehen; die Gefahr einer Überfrachtung des zur Entscheidung stehenden Sachverhalts besteht aber im Verhältnis von Aufhebungs- zu Erstattungsbescheid nur in Ausnahmefällen. Ob diese Gesichtspunkte auch dazu führen, dass ein Erstattungsverwaltungsakt dann Gegenstand des Gerichtsverfahrens wird, wenn auch der Aufhebungsverwaltungsakt Gegenstand eines Verfahrens nach § 96 Abs 1 SGG geworden ist, weil auch im Anwendungsbereich des § 96 Abs 1 SGG mit der Änderung durch den Gesetzgeber lediglich verhindert werden sollte, dass der Streitstoff in wesentlicher Hinsicht erweitert wird, und diese Situation bei unmittelbar aufeinander aufbauenden Regelungen nach §§ 45, 48, 50 Abs 1 SGB X aber nicht vorliegt (hierzu Bienert, NZS 2011, 732), kann offenbleiben.
Dagegen ist die im Bescheid vom 5.9.2012 enthaltene Regelung, die Erstattungsforderung im Folgemonat von der laufenden Zahlung einzubehalten, nicht nach § 86 SGG (auch nicht in analoger Anwendung) Gegenstand des Widerspruchsverfahrens geworden. Der Sache nach handelt es sich um eine durch Verwaltungsakt erklärte Aufrechnung (vgl BSGE 121, 194 = SozR 4-7912 § 96 Nr 1), für die Rechtsgrundlage nur § 26 Abs 2 SGB XII sein kann, weil wegen der Hilfebedürftigkeit des Klägers eine Aufrechnung nach den allgemeinen Vorschriften ausscheidet (vgl § 51 Abs 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - ≪SGB I≫).
Ein enger Sachzusammenhang mit den Entscheidungen über die Aufhebung und die Erstattung, der eine analoge Anwendung des § 86 SGG rechtfertigt, ergibt sich für Entscheidungen über die Aufrechnung nach § 26 Abs 2 SGB XII aber nicht. Nach dessen Satz 1 1. Alt kann die Leistung bis auf das jeweils Unerlässliche mit Ansprüchen des Trägers der Sozialhilfe gegen eine leistungsberechtigte Person aufgerechnet werden, wenn es sich (ua) um Ansprüche auf Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen der Sozialhilfe handelt, die die leistungsberechtigte Person oder ihr Vertreter durch vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtige oder unvollständige Angaben oder durch pflichtwidriges Unterlassen veranlasst hat. Zwar schließt auch die Aufrechnungsentscheidung damit (ua) an eine Erstattungsforderung wegen zu Unrecht erbrachten Leistungen an. Die nach § 26 Abs 2 SGB XII vorgesehene Prüfung geht aber wesentlich über die Prüfung hinaus, die wegen der miteinander verbundenen Aufhebungs- und Erstattungsentscheidungen erforderlich ist. Die Aufrechnung steht im Ermessen des Sozialhilfeträgers und ist nur für bestimmte Fallgestaltungen des Leistungsmissbrauchs möglich. Insbesondere wenn der Bewilligungsbescheid wegen erzielten Einkommens aufgehoben worden ist, erfordert die Entscheidung über die Aufrechnung die eigenständige Prüfung, ob auch Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit des Leistungsempfängers vorlagen. Außerdem erfordert die Aufrechnung die Prüfung der Hauptforderung, gegen die der Sozialhilfeträger aufrechnen will, also des Zahlungsanspruchs des Hilfeempfängers auf laufende Leistungen zum Lebensunterhalt. Insoweit ist eine vollständige Bedarfsprüfung im Hinblick auf das "zum Leben unerlässliche" im Einzelfall erforderlich, die im bereits anhängigen Widerspruchsverfahren nicht Prüfungsmaßstab ist. Schließlich können auch Ermessensgesichtspunkte zu prüfen sein, die sich nicht unmittelbar aus dem bereits anhängigen Rechtsverhältnis (also der Leistungsbewilligung selbst) ergeben, etwa die weitere persönliche und familiäre Situation des Leistungsempfängers, die Auswirkungen auf die Familien- bzw Haushaltsangehörigen und das individuelle Ausmaß der mit der Aufrechnung verbundenen Einschränkung des täglichen Lebens (vgl dazu nur Holzhey in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl 2014, § 26 RdNr 47). Ob sich für die Einbeziehung einer auf § 51 SGB I gestützten Aufrechnung andere Gesichtspunkte ergeben, die für eine analoge Einbeziehung nach § 86 SGG sprechen (vgl zu einer analogen Anwendung von § 96 SGG BSG Urteil vom 18.2.1981 - 1 RA 113/79 - Juris RdNr 24, insoweit in SozR 2200 § 1262 Nr 19 nicht abgedruckt), kann offenbleiben.
Da das SG weitere Feststellungen zum Sachverhalt nicht getroffen hat, ist dem Senat eine abschließende Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Aufrechnung in der Sache nicht möglich.
Das SG wird ggf auch über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden haben.
Fundstellen
FEVS 2019, 392 |
NZS 2019, 559 |
ZfF 2019, 87 |
FuBW 2019, 741 |
FuNds 2019, 598 |