Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachweis von Arbeitsunfähigkeitszeiten
Leitsatz (amtlich)
Zur Berücksichtigung von Beiträgen (hier: Pflichtbeitrag für einen Kalendertag) "während einer anzurechnenden Ausfallzeit" (RVO § 1255 Abs 7 S 2).
Orientierungssatz
Zur Anerkennung von in "sonstigen Nachweisen" bescheinigten Zeiten der Arbeitsunfähigkeit - hier: Auskunft des behandelnden Arztes.
Normenkette
RVO § 1255 Abs. 7 S. 2 Fassung: 1965-06-09, § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 19.08.1976; Aktenzeichen L 10 J 548/75) |
SG Hildesheim (Entscheidung vom 28.08.1975; Aktenzeichen S 4 J 111/74) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. August 1976 insoweit aufgehoben, als es die Beklagte zur Bewertung des Monats März 1961 als Ausfallzeit verurteilt hat.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 28. August 1975 wird auch insoweit zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob bei der Ermittlung der persönlichen Bemessungsgrundlage der für den 13. März 1961 entrichtete Pflichtbeitrag unberücksichtigt zu lassen und der Monat März 1961 als Ausfallzeit (anstatt als Beitragszeit) anzurechnen ist (§ 1255 Abs 7 S 2 Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Die Beklagte gewährte dem 1910 geborenen Kläger mit Bescheid vom 15. November 1973 flexibles Altersruhegeld. Bei der Rentenberechnung berücksichtigte sie den Monat März 1961 als (Pflicht-)Beitragsmonat, indem sie Werteinheiten aufgrund eines für den 13. März 1961 bezogenen Arbeitsentgelts von 20,- DM zugrunde legte.
Das Sozialgericht (SG) hat die ua auf Anrechnung des Monats März 1961 als Ausfallzeit gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 28. August 1975). Das Landessozialgericht (LSG) hat in Abänderung dieses Urteils die Beklagte verpflichtet, den Monat März 1961 als Ausfallzeit zu bewerten (Urteil vom 19. August 1976):
§ 1255 Abs 7 S 2 RVO, wonach während einer anzurechnenden Ausfallzeit entrichtete Beiträge bei der Ermittlung der persönlichen Bemessungsgrundlage unberücksichtigt zu bleiben hätten, durchbreche den Grundsatz der Vorrangigkeit von Beitragszeiten und verfolge den Zweck, in den Fällen, da während Ausfallzeiten Beschäftigungen in geringfügigem Umfang ausgeübt worden seien, ein Herabsinken der persönlichen Bemessungsgrundlage zu verhindern (Hinweis auf SozR Nr 13 zu § 1255 RVO). Das treffe auf das geringe, für März 1961 nachgewiesene Entgelt zu. Dieses habe der Kläger auch während einer anzurechnenden Ausfallzeit erzielt; denn er sei der Auskunft des Dr. K. vom 17. Juni 1969 zufolge vom 28. Januar bis zum 22. Mai 1961 durchgehend arbeitsunfähig krank gewesen.
Die Beklagte hat die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revision eingelegt. Sie trägt vor, das LSG habe die Entscheidung des Großen Senats (GS) des BSG vom 9. Dezember 1975 (BSGE 41, 41 = SozR 2200 § 1259 Nr 13) außer acht gelassen. Unter den dort angeführten Sonderregelungen, aufgrund derer Pflichtbeiträge ausnahmsweise unberücksichtigt bleiben könnten, sei kein Sachverhalt wie der vorliegende erwähnt. Deshalb müsse der allgemeine Grundsatz der Priorität von Pflichtbeiträgen eingreifen.
Die Beklagte beantragt,
das Berufungsurteil aufzuheben, soweit es unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils und des Bescheides der Beklagten vom 15. November 1973 die Beklagte verurteilt hat, den Monat März 1961 als Ausfallzeit zu bewerten, und die Berufung insoweit zurückzuweisen.
Der Kläger ist vor dem BSG nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Bei der Berechnung des Altersruhegeldes ist der Monat März 1961 als Beitragszeit zu bewerten, nicht als Ausfallzeit. Das hinsichtlich dieses Streitgegenstandes entgegenstehende Urteil des LSG mußte daher aufgehoben und die Berufung gegen das Urteil des SG auch insoweit zurückgewiesen werden.
Nach § 1255 Abs 7 S 2 RVO iVm S 1 dieser Vorschrift bleiben (neben Inflationsbeiträgen) Beiträge, die während einer anzurechnenden Ausfallzeit entrichtet sind, "bei Anwendung der Absätze 1 und 3", dh für die Ermittlung der persönlichen Bemessungsgrundlage, unberücksichtigt.
Erhebliche Zweifel bestehen schon, ob der Pflichtbeitrag vom 13. März 1961 überhaupt "während" einer Ausfallzeit entrichtet wurde. Das LSG hat dies mit dem Hinweis bejaht, der Kläger sei "durchgehend vom 28. Januar bis 22. Mai 1961 arbeitsunfähig krank" gewesen, und in diesem Zusammenhang eine Auskunft des Dr. K. vom 17. Juni 1969 erwähnt. Damit sind jedoch die Voraussetzungen der hier infrage stehenden Ausfallzeit des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO nicht sämtlich beachtet. Es handelt sich, soweit die Vorschrift für den vorliegenden Fall in Betracht kommen kann, um die eine versicherungspflichtige Beschäftigung unterbrechenden Zeiten der infolge Krankheit bedingten Arbeitsunfähigkeit, "wenn sie in den Versicherungskarten oder sonstigen Nachweisen bescheinigt sind". Die Auskunft des Dr. K. vom 17. Juni 1969 enthält keinen "sonstigen", die Arbeitsunfähigkeit bescheinigenden Nachweis. Auch wenn man jene schriftlich erteilte Auskunft als generell geeigneten Nachweis in dem Sinne gelten läßt, daß die Urkunde "schon vorhanden war" (vgl hierzu SozR Nr 21 zu § 1259 RVO), ergibt sich aus ihr jedenfalls nicht zweifelsfrei, während welchen bestimmten Zeitraums der Kläger arbeitsunfähig krank war. Die Auskunft stammt nämlich aus einem früheren Streitverfahren (das angefochtene Urteil nimmt auf die Akten Bezug) wegen Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente. Aussagen zur Arbeitsunfähigkeit sind darin nicht enthalten. Es handelt sich um die Beantwortung lediglich von Fragen über Behandlungszeiten und Untersuchungen sowie Befunde und Diagnosen. Hinzu kommt, daß sich in den Verwaltungsakten der Beklagten (auf die das Urteil des LSG wegen der Einzelheiten ebenfalls verweist) mehrere Bescheinigungen der Schwäbisch Gmünder Ersatzkasse über Ausfallzeiten der gesetzlichen Rentenversicherung (vom 2. September 1963, 28. Januar 1964, 22. September 1964 und 22. März 1967) befinden, in denen jeweils Arbeitsunfähigkeit bedingende Krankheit nur für die Zeiten vom 28. Januar bis zum 12. März 1961 und danach vom 14. März bis zum 22. Mai 1961 bescheinigt wurde, der 13. März 1961 - ein Montag - jedoch ausgespart blieb. Die bisherigen tatsächlichen Feststellungen können also die Rechtsansicht des LSG, der Kläger sei "durchgehend" arbeitsunfähig krank vom 28. Januar bis zum 22. Mai 1961 gewesen, zumindest nicht in dem Sinne begründen, daß dies durch "Nachweise bescheinigt" sei. Ob weitere Ermittlungen den Nachweis der vom LSG bereits aufgrund der Auskunft vom 17. Juni 1969 angenommenen "durchgehenden" Arbeitsunfähigkeit erbringen können, bedarf aber keiner Klärung. Denn auch ein solcher Nachweis würde am Ergebnis nichts ändern.
Unterstellt man, der Kläger sei im März 1961 ununterbrochen arbeitsunfähig krank gewesen, so kann dieser Monat gleichwohl nicht als Ausfallzeit angerechnet und bewertet werden. Denn nach den Feststellungen des LSG hat der Kläger für den 13.März 1961 ein Arbeitsentgelt von 20,- DM erhalten, von dem der entsprechende Beitrag zur Rentenversicherung entrichtet worden ist. In diesem Zusammenhang ist zunächst von Bedeutung, daß für die Rentenberechnung der Kalendermonat die kleinste Zeiteinheit darstellt. Er wird für die Zahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre (§ 1258 RVO) voll angerechnet, auch wenn er nur zum Teil mit einem für die Rentenbemessung wirksamen Tatbestand belegt ist; das gilt gleichermaßen für Beitrags- und Ersatzzeiten, Ausfall- und Zurechnungszeiten (§§ 1250 Abs 1 iVm Abs 3, 1259 Abs 4, 1260 Abs 2 RVO sowie GS in BSGE 41, 41 49 und die dort zitierte Rechtsprechung und Literatur). Weiter ist zu beachten - und das steht in enger Beziehung zur Anrechnung jeweils des vollen Kalendermonats -, daß die versicherungsrechtlich "stärkere" Zeit die schwächere verdrängt, also eine bestimmte, in § 1258 Abs 1 RVO genannte Rangfolge besteht. Danach kann im Grundsatz eine Zeit, die Beitragszeit ist, nicht zugleich Ausfallzeit sein; das eine schließt das andere aus (vgl GS aaO 51 mit weiterer Rechtsprechung und Literatur; BSGE 42, 123, 125; SozR 2200 § 1259 Nr 12). Der GS (aaO 50 bis 54, insbesondere 51, 52) hat daraus gefolgert, es fehle im Falle der Entgeltzahlung nebst Pflichtbeitragsleistung "bereits begrifflich am Tatbestand der Ausfallzeit" des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO. Der erkennende Senat stimmt diesem Ergebnis zu. Das Wort "Ausfallzeit" läßt iVm dem vollen Wortlaut des § 1259 RVO den Sinn und Zweck dieses Rechtsinstituts, die nachteiligen Folgen einer aus bestimmten persönlichen Gründen unterbliebenen Pflichtbeitragsleistung zu mindern, deutlich erkennen. Soweit aber eine Pflichtbeitragszeit vorhanden ist, fehlt die gesetzliche Notwendigkeit, hierfür einen Ausgleich zu schaffen.
Aus obigen Ausführungen, insbesondere denen des GS, ergibt sich, daß § 1255 Abs 7 S 2 RVO eine Ausnahme von der Rangfolge der für die Rentenberechnung relevanten Zeiten enthält und eng auszulegen ist. Deshalb kann unter einer "anzurechnenden Ausfallzeit" in § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO nicht schon allein die Anrechenbarkeit iS von § 1259 Abs 1 und 3 RVO (Ausfallzeitcharakter nebst sog Halbbelegung) verstanden werden. Als Anwendungsbereich des § 1255 Abs 7 S 2 RVO kommen einmal freiwillige Beiträge in Betracht, zum anderen nach besonderen Vorschriften oder unter bestimmten Voraussetzungen entrichtete Pflichtbeiträge. Letztere hat der GS im einzelnen genannt (vgl aaO 55, 56). Ob damit - wie die Beklagte anscheinend meint - eine erschöpfende Aufzählung bezweckt war, braucht hier nicht untersucht zu werden. Denn der GS hat erkennen lassen, daß § 1259 Abs 7 S 2 RVO jedenfalls bei § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO nicht Platz greift, und ein Kalendermonat, in dem während bestehender Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit Pflichtbeiträge - sei es auch nur für einen Tag - entrichtet worden sind, nur als Beitragsmonat anrechenbar ist (vgl aaO 57).
Die Argumente und Billigkeitserwägungen des LSG sind demgegenüber nicht stichhaltig. Daß allgemein § 1255 Abs 7 S 2 RVO den Zweck verfolgt, ein Absinken der persönlichen Bemessungsgrundlage zu verhindern, berechtigt weder zu der vom LSG erstrebten weiten Auslegung, noch verpflichtet dies gar zu einer Doppelberechnung der Rente, um zu prüfen, ob die Bewertung eines Kalendermonats als Beitragszeit oder als Ausfallzeit sowie Anwendung des § 1260a RVO zu einem höheren Betrag führt. Es handelt sich hier um einen Sachverhalt, der nicht typisch für § 1255 Abs 7 S 2 RVO ist, sondern auch in ähnlichen Fällen - wie zB bei Kurz- oder Teilzeitarbeit sowie Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses während eines Kalendermonats - eine Minderung der persönlichen Bemessensgrundlage und damit der Rente bewirkt (vgl ua Gellhorn, BArbBl 1965, 588, 589). Derartige Folgen sind im einzelnen nicht auszuschalten, sondern müssen bei der bestehenden Rentenformel in Kauf genommen werden, zumal die Mehrzahl der Versicherten im Laufe ihres Arbeitslebens derartige Einbußen hinnehmen muß und darüber hinaus verhältnismäßig wenige und kurze "schlechte" Beitragszeiten die persönliche Bemessungsgrundlage nur unbedeutend beeinflussen.
Ob das vom LSG für seine Rechtsauffassung zitierte Urteil des 12. Senats des BSG vom 17. Mai 1973 (SozR Nr 13 zu § 1255 RVO) durch die Entscheidung des GS "überholt" ist, wie die Beklagte meint, braucht hier nicht näher erörtert zu werden. Denn jenem Urteil lag ein anderer Sachverhalt zugrunde. Während einer Zeit der mit Unterstützungsbezug verbundenen Arbeitslosigkeit wurde eine geringfügige Beschäftigung unter Entrichtung von Pflichtbeiträgen ausgeübt, wodurch die "Arbeitslosigkeit" nicht beseitigt wurde (vgl §§ 101, 102 Arbeitsförderungsgesetz idF vom 25.6.1969).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen